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Kapitel 10

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Die Nacht legte sich über die Stadt und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit war ein freier Himmel über seinem Kopf. Ein Meer aus mehreren tausend, funkelnder Punkte durchzog die tiefblaue Weite über der Stadt, der Mond war nur noch eine grelle Sichel an einem weit entfernten Punkt und konnte somit den Sternen nicht ihr zartes Funkeln stehlen.

Mit in den Nacken gelegtem Kopf lehnte Doragon auf der Balustrade ihres Balkons und starrte nun schon seit geraumer Zeit schweigend in die Sterne, konnte ihre Schönheit nicht fassen, ebenso wenig wie die Einsamkeit, die sie in ihm hervorriefen.

Das Zimmer hinter ihm war dunkel, aber er war nicht allein.

Schon landete eine Hand auf seiner Schulter und Fen trat neben ihn. »Sieh sich das einer an! Im Dschungel sieht man sie so selten, dass ich fast vergessen habe, dass sie existieren.«

Ragon lächelte wehmütig. »Deine Schwester hat die Sterne immer sehr gemocht.«

Feixend sah Fen ihn von der Seite an. »Sicher, weil du sie ihr gern gezeigt hast.«

Bedauernd senkte Ragon den Blick in die Stadt, wo er durch das Licht der Fackeln die Wachen beobachten konnte, die durch die Straßen liefen.

»Tut mir leid«, lenkte Fen ein, »das war unangebracht.«

»Sie hat dich geliebt«, sagte Ragon und sah seinen Freund flehend an. »Sie wollte, dass ich dich rette, Fen …«

»Sie kannte mich doch gar nicht«, warf er ein und schüttelte verdrossen den Kopf. »Außerdem hätte sie mich, hätte ihr denn wirklich an mir gelegen, aus der Sklaverei befreien können. Aus dieser … verdammten Kiste.«

Ragon legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Das hat sie versucht, Fen! Ich habe es dir doch gesagt. Sie kämpfte für eure Rechte – deinetwegen! Fen, sie hat versucht, dich zu befreien.«

»Sie hätte es mit einem Schwert versuchen sollen«, gab Fen zurück und sah Ragon in die Augen. »So wie du.«

»Ich tat nur, was sie von mir erbat«, erinnerte Ragon ihn einfühlsam.

Fen schmunzelte traurig. »Aber du hast es getan. Du hast getan, wozu sie keinen Mut hatte.«

Daraufhin schwiegen sie einen Augenblick lang und sahen gemeinsam in den Himmel, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, während sich das Funkeln der Sterne in ihren Augen spiegelte.

Irgendwann stieß Fen einen amüsierten Laut aus und durchbrach die ehrfürchtige Stille. »Bei der Mutter, ich hasse es, wenn du recht behältst.«

Verwundert drehte Ragon ihm das Gesicht zu, er hatte die Maske und den Umhang abgelegt und genoss den sanften Nachtwind auf seiner Haut. »Was meinst du?«

Belustigt funkelte Fen ihn an. »Du hast gesagt, ich werde die Gemeinsprache irgendwann noch brauchen… und ich habe dich verflucht.«

Doragon musste bei der Erinnerung an Fens trotzige Miene lächeln.

»Heute war ich froh«, sagte Fen dankbar und stieß Doragon mit der Schulter an. »Du hast mich viel gelehrt, mein Bruder. Alles, um genau zu sein. Als du den Deckel meiner Truhe geöffnet hast, war ich nur ein wütender Sklave. Aber du hast mir gezeigt, wie man mit einem Schwert und einem Bogen umgeht, du hast mich gelehrt, zu jagen, Spuren zu lesen, ein Feuer zu machen, lesen und schreiben und selbst andere Sprachen. Du hast mich nicht nur befreit, Ragon, du hast mich gelehrt, zu überleben. Mir ein Leben geschenkt. Ich habe in den wenigen Monaten, die ich bei dir verbrachte, mehr gelebt als mein ganzes bisheriges Leben. Ich verdanke dir einfach alles.«

Doragon schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Fen…«

»Ich habe dir nie gedankt, glaube ich«, überlegte Fen mit gefurchter Stirn.

»Das ist auch nicht nötig«, unterbrach Doragon ihn sofort und richtete sich auf, um Fen eine Hand auf den Rücken zu legen. »Es gibt Dinge, die sollten selbstverständlich sein.«

Ernst sah Fen zu ihm auf. »Aber du weißt, dass ich dir dankbar bin, ja? Ich verdanke dir einfach alles, genau wie Kacey. Viele verdanken dir einfach alles. Und was da mit deinem Stamm geschehen ist …«

»Fen, bitte…«

»Es war nicht deine Schuld«, schloss Fen mitfühlend ab. »Du hast das Richtige getan.«

Tief seufzend ließ Doragon die Schultern hängen und blickte über die Stadt hinaus in Richtung Osten. Ratlos schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das stimmt. Wir hätten vielleicht nicht fliehen sollen.«

»Du weißt doch, wie es heißt«, sinnierte Fen spöttisch, »alles hat einen Grund, Ragon. Alles. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass es richtig ist, dass du hierherkamst.«

Ragon starrte stur geradeaus und murmelte dabei mehr zu sich selbst, als zu Fen: »Ich hoffe, du irrst dich.«

»So wie ich nicht ändern kann, wer meine Schwester war«, raunte Fen bedeutsam und lächelte Doragon entschuldigend an, »so kannst du nicht ändern, wer deine Väter sind.«

Jetzt verwendete er Doragons eigene Argumente gegen ihn. Mit verengten Augen schielte er seinen Freund an und schubste ihn mit dem Ellenbogen spielerisch von sich. »Wende meine eigenen Worte nicht gegen mich.«

»Das hast du früher immer mit mir gemacht«, erinnerte sich Fen.

Sie lachten beide leise, und bei der Erinnerung durchflutete Ragon bittersüße Wehmut, bis sie wieder in nachdenkliches Schweigen verfielen.

Fens buttergelbe Augen wanderten zum Horizont und er seufzte traurig: »Wir müssen ihn also zurückbringen.«

Doragon dachte an Kacey und sein Herz zog sich zusammen. »Ja, mein Bruder, ich fürchte, das müssen wir.«

»Wird er sterben?«, fragte Fen und sah Doragon befürchtend an. »Ragon, wird er?«

Ratlos schüttelte Doragon den Kopf und öffnete den Mund. »Ich … weiß es nicht, Fen. Ich weiß nicht, was geschehen wird.«

*~*~*~*

»Vater!«

Sie hatten kaum ihr Kerzenlicht geflutetes Gemach betreten, da wurde Desiderius schon von den Kindern umschwirrt wie ein Bienennest von seinen kleinen, treuen Arbeitern.

»Wo warst du? Wieso hat das so lange gedauert? Hat dich der Drache echt gefressen?« Sie sprachen alle durcheinander, während Desiderius sich nicht vor ihren bohrenden Fragen und zerrenden Händen retten konnte. Jeder wollte ein Stück von ihm, wollte ihm nahe sein. May warf sich auf seinen Rücken und erwürgte ihn fast, Sarsar lief regelrecht in ihn hinein und presste sich an seine Brust, offensichtlich glücklich, ihn einfach nur wiederzuhaben, er wurde erdrückt von seinem Bruder Xaith, der Desiderius ebenso frontal umarmte.

Der Schrecken der letzten Nacht wich endlich aus ihren jungen Gesichtern. »Geht es dir gut?«, fragten sie. »Was ist geschehen? Wen hast du mitgebracht?«

Wexmell schloss die Tür und trat einen Schritt an die Gruppe heran. Sein Herz quoll über vor Liebe, als er Desiderius so eng mit seinen Kindern sah. Er war ein guter Vater, ein Vater, der tief geliebt und geschätzt wurde, und der die Liebe seiner Kinder brauchte.

Sein Herz krampfte, wenn er daran dachte, dass sie ihn beinahe verloren hätten. Er wollte gar nicht daran denken, was gewesen wäre, wenn … Nein, er konnte es sich nicht vorstellen.

Lachend zog Desiderius sie alle an sich, auch den zurückhaltenden Riath, der sich nicht getraut hatte, sich an der Gruppenumarmung zu beteiligen. Desiderius packte ihn einfach an seinem Hemd und zog ihn heran, bis er gegen sie stieß. Mit einem erleichterten Lächeln legte Riath den Kopf an Desiderius und schloss die Augen. Eine seltsame Ruhe legte sich über sein Gesicht, wie man sie nur selten sah.

Eine Ruhe, die nur Desiderius seinen Kindern geben konnte. Bei den Göttern, wie sie ihn liebten, es beängstigte und faszinierte Wexmell immer wieder. Nicht, dass er davon ausgeschlossen wurde, er wusste, dass er genauso geliebt wurde – aber er war es nicht, den sie heute beinahe verloren hätten, also sei ihnen der Moment mit Desiderius vergönnt. Wexmell war ohnehin nie eifersüchtig, vor allem nicht auf seine Kinder. Er liebte es einfach, sie alle zu betrachten. Ihre leuchtenden, noch unschuldigen Augen, ganz gleich, wie groß sie mittlerweile waren, und Desiderius breites Lachen, das ihn mit Liebe erfüllte.

Er war wirklich zu beneiden, dachte er glücklich, denn er hatte alles, was er sich je gewünscht hatte.

»Morgen«, vertröstete Desiderius seine Kinder, als sie nach Antworten drängelten, »heute bin ich erledigt.«

Er und Wexmell hatten beschlossen, ihnen erst am nächsten Tag Onkel Zazar und Cohen – Vaaks` Vater – vorzustellen. Heute brauchten sie erst einmal Schlaf.

Wexmell und Desiderius, nicht die Kinder.

Sie jammerten wie aus einem Munde und sahen ihren Vater tief enttäuscht an. Doch als er sich nicht erweichen ließ, sahen sie sich nach Wexmell um und stürmten nun auf ihn ein.

Lachend hob Wexmell die Hände. »Oh nein! Aus mir bekommt ihr nichts heraus!« Er ging rückwärts zur Tür und griff nach dem goldenen Knauf. »Hört euch lieber an, wie sich euer Vater aus dem Maul eines Drachen befreite, während ich Wein hole.«

Die Ablenkung zeigte Wirkung, wie eine Herde Schafe drehten sie wieder ab und warfen sich erneut auf Desiderius, der ihnen nun Rede und Antwort stehen musste. Und wehe, er würde die Geschichte nicht ein wenig aufhübschen, dann würden sie das für ihn übernehmen.

Mit einem Lächeln verließ Wexmell den Raum, um eine frische Karaffe Wein zu holen. An diesem Abend konnten sie ihren Kindern ruhig ein paar Kelche erlauben. Sie hatten ohnehin nie ein Verbot daraus gemacht. Vielleicht war das leichtsinnig, aber sie waren darüber eingekommen, dass eine verbotene Sache viel verlockender war, als etwas, dessen genussvollen Umgang sie ihnen lehrten.

Als er kurze Zeit später wieder zurückkam, wusste er bereits auf dem Flur, dass es viel zu still war.

Sie lagen auf dem Bett, Desiderius in der Mitte und die Kinder halb auf ihm und um ihn herum. Sarsars weißer Schopf teilte sich mit Xaiths schwarzen Schopf den Platz auf Desiderius` Brust. Riath lag am Fußende, May mit der Wange auf Desiderius` Schenkel und Vaaks mit dem Gesicht in Xaiths Nacken. Sie schliefen tief und fest, dabei war Wexmell nur ein paar Augenblicke fort gewesen.

Er blieb einen Moment an der Tür stehen und betrachtete sie schweigend, während sein Innerstes vor Glück überlief. Es war viel zu lange her, dass er das gesehen hatte. Viel zu schnell waren sie groß geworden und hatten es als langweilig empfunden, den Geschichten ihrer Väter zu lauschen und auf ihnen einzuschlafen.

Wie schnell sie doch wieder zu Kindern werden konnten, dachte Wexmell wehmütig, sich wohl bewusst, dass sie schon morgen wieder junge Erwachsene sein würden, wenn der Schrecken vergessen war.

Aber heute – in dieser Nacht – da gehörten sie wieder ganz ihm und Desiderius.

Wexmell stellte den Wein Beiseite, löschte die Kerzen und stieg zu ihnen ins Bett. Er gab Riaths blonden Schopf einen Kuss, strich May über den Rücken und schmiegte sich dann an Sarsars zierlichen Rücken. Und – oh! – wie sie alle dufteten. So mussten Götter riechen, dachte Wexmell und genoss den Duft seiner Kinder, der ihm so vertraut war. So süß und unschuldig und einfach … seins. Anders konnte er es nicht beschreiben, er roch sie alle und wusste, dass sie ihm gehörten. Ihm und Desiderius. Ihre Familie.

Sarsar war so schmal, dass Wexmells Arm bis zu Desiderius` Bauch reichte, wo er die Hand seines Geliebten in seine nahm.

Schwerfällig blinzelte Desiderius und hob den Kopf.

»Schlaf weiter«, flüsterte Wexmell.

Desiderius sah ihn an und legte den Kopf wieder auf das Kissen, seine Augen funkelten glücklich, während er sich in Wexmells Blick verlor. Auch das liebte Wexmell an seinem König, dass er es wie kein anderer vermochte, nur mit seinen Augen zu sagen: »Ich liebe dich.«

»Ich bin so froh, noch hier zu sein«, gestand Desiderius dann.

Wexmell verzog gerührt den Mund und legte ihm die Hand an die Wange. »Ich auch«, raunte er mit brüchiger Stimme.

Desiderius führte Wexmells Hand an seine Lippen und küsste sie, dann schmiegte er die Nase hinein und schloss genüsslich die Augen.

Wexmell betrachtete ihn im Halbdunkeln und dankte den verbannten Göttern und allen Mächten, die es sonst noch gab, dass Desiderius wieder hier bei ihnen war.

Und was auch immer der Morgen bringen mochte, Wexmell fühlte sich stark und unerschütterlich in den Armen seiner Familie, und er hoffte, dass sie dieses Gefühl auch ihren Kindern gaben. Denn er glaubte, dass das, was ihnen bevorstand, ihnen eine ungeheure Stärke abverlangen wird.

Geliebter Wächter 2: Wolfsherz

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