Читать книгу Geliebter Wächter 2: Wolfsherz - Billy Remie - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеEs war der Geruch, der ihn letztlich aus der tiefen Schwärze zog. Ein Geruch, der ihm eigentlich fremd war und doch eine zutiefst vertraute Note transportierte, die in seine Nase stieg, um all seine Sinne zu wecken. Das erste, was er fühlte, war Sehnsucht und Traurigkeit, die ihn so heftig wie ein Wirbelsturm überkam und ihn stöhnen ließ. Für einen Moment kam er sich wie in der Zeit zurückversetzt vor. Dieser Geruch… er war so vertraut und löste das höchste allen Sehnens in ihm aus. Sein Herz war hin- und hergerissen zwischen freudiger Aufregung und schmerzhaftem Zerreißen.
Er spürte, wie sich sein Körper von selbst auf den Rücken drehte, der Boden war hart und seine Kleidung fühlte sich nass und klebrig an. Blinzelnd versuchte er, die Augen zu öffnen, warmer Sonnenschein stach ihm in die Pupillen und seine schwarzen Wimpern waren verklebt. Etwas lief ihm in die Augen und er schloss sie wieder schmerzvoll. Stöhnend rieb er mit Daumen und Zeigefinger die brennende Flüssigkeit von seinen Lidern.
Als nächstes nahm er neben dem Geruch auch Geräusche wahr. Ein pfeifender Wind, wie er nur auf einem Berggipfel wütend zischen konnte, und leises Stimmengewirr, das nach und nach immer lauter wurde, weil er immer mehr Bewusstsein erlangte.
Ein Schatten fiel über ihn und er zwang die Augen auf, während er in seinem langsam erwachenden Verstand nach Erinnerungen wühlte.
Das Gesicht, das über ihm schwebte, klärte sich nach einigem Blinzeln. Und es war ihm nicht fremd, ganz und gar nicht. Der andere legte den Kopf schief und lächelte zurückhaltend, als sei er ein verängstigtes Kind, das er nicht verschrecken wollte.
»Ich muss tot sein«, sagte Desiderius rau und streckte seine Hand nach dem Gesicht aus, um es sanft zu berühren. Beinahe wäre er zusammengezuckt, als er die lebendige Haut unter seinen Fingerspitzen spüren konnte. Fassungslos strich er über die Wange zu dem warmen Mund, über den lebendiger Atem floss. Das konnte nicht wirklich sein!
»Du bist nicht tot«, antwortete Cohen, der quick lebendig über ihm hockte und das Gesicht unter einem schwarzen Umhang vor dem hellen Tageslicht schützte. Nun strich er ihm mit zwei Fingern das nasse, klebrige Haar aus der Stirn. »Aber du wurdest gerade buchstäblich ausgekotzt und bist etwas … vollgesabbert. Kein Wunder, dass du durcheinander bist.«
Desiderius hörte nicht die Worte aus Cohens Mund, er starrte ihn einfach an und versuchte zu begreifen, dass er nicht nur einen sehr intensiven Traum hatte.
Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das Maul des Drachen, danach war es sehr schwarz geworden und durch den schwefelhaltigen Atem im Mund des Tieres hatte er schnell das Bewusstsein verloren.
Und im nächsten Moment öffnete er die Augen und sah Cohens Gesicht über sich schweben. So, wie er es kannte, eine verboten süße Mischung aus Jugend und markanter Männlichkeit.
»Du … du … lebst?«, raunte er und sperrte den Mund auf.
Cohens Mimik nahm etwas Bedauerndes an. »Nicht ganz. Aber das ist eine lange Geschichte, ich …«
Weiter kam er nicht, Desiderius hatte bereits sein Gesicht gepackt und ihn zu seinem Mund herabgezogen. Ihre Lippen lagen übereinander und Desiderius saugte intensiv an Cohens bittersüßem Mund, Tränen brannten in seinen Augen, Tränen der ungläubigen Freude, ebenso wurde ihm der Hals verräterisch eng.
Nur am Rande bekam er mit, dass Cohens Kuss nur zurückhaltend war, regelrecht notgedrungen. Seine Lippen waren hart und wollten sich nicht so recht verführen lassen. Doch das war Desiderius im Moment gänzlich gleich. Er küsste Cohen voller Inbrunst und konnte ein überschwängliches Lachen nicht zurückhalten, wobei sein Verstand noch immer nicht begreifen konnte, wie verflucht noch mal Cohen hier sein konnte. Bei ihm. Warm und lebendig und …
Verdammt, er würde sicher gleich aufwachen und feststellen, dass er nur geträumt hatte. Deshalb hielt er Cohens Mund umso entschlossener fest auf seinem.
Es war kein Kuss der Leidenschaft, sondern ein Kuss der puren, fassungslosen Freude, die ihm auch letztlich ein paar Tränen bescherte.
Er wollte nie wieder aus diesem schönen Traum aufwachen. Nie wieder.
Doch da legte ihm Cohen eine Hand auf die Brust und drückte ihn ziemlich nachdrücklich auf den Boden, um sich von ihm lösen zu können. Er keuchte, als hätte ihn eine heftige Erregung ergriffen und atmete daraufhin schwer. »Langsam, ich muss vorsichtig mit … sterblichem Kontakt umgehen.«
Verwirrt blinzelte Desiderius zu ihm auf, doch als Cohens Gesicht nicht wie ein Traumgebilde einfach verschwand, konnte nichts seine Freude trüben.
»Es ist kein Traum«, flüsterte er rau und lachte dann ziemlich dümmlich auf, sodass Cohen über ihn schmunzeln musste. Verdammt, dieses schöne, schüchterne Schmunzeln, das er so sehr vermisst hatte. »Du lebst! Das ist kein Traum, du bist wirklich hier!« Desiderius wollte Cohens Umhang lüften, aber dieser hinderte ihn sofort daran und drückte ihm die Hände auf die Brust. Desiderius machte sich frei und griff stattdessen wieder nach Cohens Gesicht, musste es in seine Finger nehmen, es fühlen, es begutachten und streicheln. Cohen ließ ihn mit einem nachsichtigen Blick gewähren.
Da fiel es ihm auf und seine Mimik verzog sich zu einem tiefen Grübeln. »Was ist damit passiert?«, fragte er und tippte unter Cohens verbliebenes Auge. Er hatte dieses große, rehbraune Auge so sehr geliebt, dass es ihm jetzt regelrecht einen Stich versetzte, weil es blutrot schimmerte.
Etwas stimmte hier nicht. Und zwar gewaltig.
Cohen senkte den Blick und legte eine Hand um Desiderius` Arm, um sich aus dessen Griff zu befreien. »Eine lange, nicht ganz so amüsante Geschichte.«
Desiderius brauchte keine Erklärung, er wusste, was dieses Auge bedeutete, und als es ihm klar wurde, konnte er es auch spüren. Sein göttlicher Sinn verriet ihm alles, was er wissen musste.
Mit steinharter Miene presste er durch die Lippen: »Du bist ein Dämon!«
Cohen sah ihn nicht an, sein Mund war ein schmaler, zusammengepetzter Strich, während er lediglich bejahend nickte.
Desiderius schlug die Faust in den Boden und versuchte, sich aufzurichten. »Wo ist er?« Er hatte nur noch einen Gedanken. »Wo ist der Mistkerl, ich bring ihn um! Ich bring ihn um, das schwöre ich, dieses Mal bring ich ihn um!«
Etwas stieß ihm hart gegen die Brust und katapultierte ihn wieder auf den Rücken. Verwundert blinzelte er, als Cohen ihn entschlossen ansah.
»Das wirst du nicht!«, knurrte sein einstmals Geliebter.
Desiderius schnaubte. »Ich kann mir denken, wem du dieses Dasein verdankst…«
»Ich wäre jetzt nicht mehr hier, wäre ich kein Dämon«, verkündete Cohen sehr ernst und brachte Desiderius damit zum Schweigen. »Ich wäre nirgendwo mehr. Es ist nicht das, was ich mir nach meinem Tod vorgestellt hätte, aber es ist bestimmt nicht so, wie du denkst. Keine Folter machte mich zum Dämon, sondern ein großes Opfer, für das ich sehr dankbar bin. Bilde dir kein vorschnelles Urteil, Desiderius M`Shier, das war schon immer deine größte Schwäche.«
Noch immer argwöhnisch betrachtete er Cohens Gesicht, doch er zügelte sein Temperament, denn er konnte im Moment ohnehin noch nicht so recht begreifen, wie das alles möglich sein konnte.
Cohen war ja nicht erst seit gestern fort, er war sehr, sehr lange tot gewesen, und sie hatten viele Jahre gehabt, um sich damit abzufinden. Doch jetzt, nach all der Zeit, saß er wieder vor ihm und starrte ganz lebendig auf ihn herab. Zwar als Dämon, aber dennoch war er Cohen. Sein Cohen.
Er war nur erleichtert, dass dessen Seele nicht Jahre lang gefoltert worden war, um dann als geschwärztes, dunkles Wesen wiedergeboren zu werden. Er hätte es nicht ertragen, zu wissen, dass Cohen all die Jahre gelitten hatte, während er die Zeit voller Liebe und Frieden genossen hatte.
Ein Räuspern erklang hinter Cohen, der sich sofort über die Schulter sah. Und da war er, der Übeltäter, dem Cohen sein neues Leben verdankte, dachte Desiderius zynisch, während er zwischen den beiden hin und her sah.
»Ich trübe die Wiedersehensfreude nur ungern, aber…«
»Leck mich.«
Bellzazar grinste kühl. »Ich liebe dich auch, Bruder. Aber können wir die Feier dieser Wiedergeburt und euer unverhofftes Wiedersehen auf einen anderen Zeitpunkt verlegen?«, fragte er regelrecht vor Sarkasmus triefend. »Sagen wir, sobald wir dringendere Probleme, wie den drohenden Weltuntergang, besprochen haben, und an einem weniger gefährlichen Ort sind, vorzugsweise in der netten Stadt da unten mit den hohen Mauern und bemannten Türmen, die dein Sprössling so vortrefflich verwüstet hat, ja?« Er deutete mit dem Daumen hinter sich und knirschte mit den Zähnen. »Du solltest dir besser anhören, was wir alle zu erzählen haben, Bruder, denn ob es dir gefällt oder nicht, wir stecken alle bis zum Hals in Scheiße. Und in keiner normalen, braunen Scheiße, sondern in grüner, warmer Neugeborenenkacke.« Er ließ den Arm fallen und sah Cohen ins Gesicht, während er matt anfügte: »Danach könnt ihr zwei euch immer noch euer Leid klagen und euch heulend in die Arme fallen, um euch abzulecken.«
Desiderius stutzte, er hatte seinen Bruder ja schon in allen möglichen Momenten erlebt, aber er war immer aalglatt gewesen, doch nun schlich sich so etwas wie Verbitterung in seine Züge und Worte, die ihm ganz gewiss nicht eigen waren. Argwöhnisch verengte er die Augen und durchbohrte Bellzazar mit Blicken. Ein ganz schlechtes Gefühl überkam ihn. Ganz, ganz schlecht.
Er konnte aber nicht weiter darüber nachdenken, denn als Cohen aufstand und an Bellzazars Seite trat – sie sahen sich ins Gesicht, und Desiderius konnte den Blick seines Bruders nicht recht deuten – da schlug ihm plötzlich der Wind ins Gesicht und mit ihm der Geruch, der ihm zugleich fremd und vertraut vorkam.
Mit einem Ruck saß er aufrecht und durchlebte einen Sturm der Gefühle. Alles andere war vergessen. Da fiel es ihm wieder ein. Dieser Geruch, das war nicht Cohen gewesen, es war ein Geruch, den er viel länger nicht wahrgenommen hatte. Männlich, würzig, herb – Freiheit und unbändige Liebe.
Er blinzelte zu der Gruppe Männer, die sich an einer alten Wachturmruine tummelte. Es waren viele, aber er beachtete nur das eine Paar Augen, das genauso intensiv und gefangen zu ihm herüberblickte, wie er zur Ruine starrte.
Ich weiß, wer du bist, sagte sein Blick. Natürlich wusste er es. Sein Herz wusste es sofort, als er ihn in Menschengestalt erblickte, obwohl er sein Antlitz unter einem Umhang und einer weißen Halbmaske verbarg. Er wusste, wer er war, ohne seinen Namen zu kennen. Sie kannten sich, ohne sich je begegnet zu sein.
Wie in Trance kam Desiderius auf die Beine, war sich überhaupt nicht richtig bewusst, dass er sich bewegte, auf einmal machte sich sein Körper selbstständig und war wie befreit von irdischer Schwere. Auch der andere rührte sich, setzte sich von den anderen ab, und als ob sie sich ein Zeichen gegeben hätten, gingen sie in den Wald, der vertraute Fremde mit den honigfarbenen Augen lief voran, Desiderius starrte auf dessen breiten, seltsam vertrauten Rücken, während sie die Gruppe verließen.
»Ich weiß, wer du bist«, raunte Desiderius, als sie vom lichten Bergwald am Rande der Ruine verschluckt wurden.
Der Fremde drehte sich nicht um, blieb aber ebenfalls zwischen zwei Bäumen stehen, das Sonnenlicht malte helle Punkte und Streifen auf seinen Umhang und Schultern. »Und ich weiß, wer Ihr seid«, erwiderte er mit einer Stimme, die Desiderius eine Gänsehaut eintrug.
Es war Rahffs dunkle, melodische Stimme.
Desiderius schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie … kann das sein? Ich meine, ich weiß, dass es wahr ist und wie … es dazu kam. Aber … wie … wie kann es wahr sein? All die Jahre… dachte ich …«
»Suto wäre mit Eurem Drachenei auf See ertrunken?« Nun drehte der Fremde sich doch um, es lag keinerlei Groll noch Vorwurf in seiner dunklen Stimme. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, ich weiß. Der alte Vogel hat mir alles erzählt. Ich weiß, dass einer meiner Väter nichts von mir wusste … weil sich niemand sicher war, wie dieser damit umgeht.« Geradezu forschend betrachtete er ihn, eine gewisse Vorsicht lag in seinen ungewöhnlichen Augen.
Desiderius war es, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Er schwankte etwas und stützte einen Arm gegen einen Baum. »Ich war nie sicher, ob er wirklich ein Ei … und ich war jung und …« Er geriet bei seiner Erklärung ins Stocken, denn er wusste, dass sie fadenscheinig wirken würde, auch wenn sie der Wahrheit entsprach. Manchmal war jedes Wort, das falsche Wort. Er sah auf und den Fremden an, und alles, was er in diesem Moment noch wusste, war: »Du bist ein Teil von mir.«
Der Fremde sah ihn einfach an, ruhig und unbewegt, vollkommen im Reinen mit sich und der Welt.
Desiderius schaute ihn durchdringend an. »Lüfte deine Maske.«
Für einen Moment rührte sich nichts, nicht einmal ein Muskel in ihren Zügen oder der Wind in ihrem Haar. Doch dann atmete der Fremde vernehmbar aus, senkte den Kopf und hob seine Hände. Erst zog er die Kapuze ab, dann löste er die Maske.
Desiderius atmete bebend aus, als er das gewellte, schulterlange Haar erblickte, das kantige Kinn und den dichten Bartschatten. Er schüttelte den Kopf und musste blinzeln. »Du siehst wie dein Vater aus.«
Das war nicht gelogen, er war Rahffs Ebenbild, von Kopf bis Fuß. Desiderius schmerzte das Herz in der Brust so sehr, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre. Er holte vernehmbar Luft, doch ihm war, als füllte sie nicht seine Lungen.
Ein trauriges Lächeln geisterte über die Lippen des Fremden, dann sah er Desiderius wieder an. »Ich hatte nicht nur einen Vater«, erwiderte er bestimmt und sah Desiderius bedeutsam an.
*~*~*~*
»Sollten wir ihnen nicht nachgehen?« Cohen stützte die Schulter an den Baum, an dem Bellzazar mit dem Rücken lehnte, und starrte auf das kleine Waldpfädchen, auf dem Desiderius und dieser Fremde verschwunden waren. Er machte sich Sorgen.
Doch Bellzazar schüttelte den Kopf. »Gib ihnen etwas Zeit.«
Cohen hob den Blick und betrachtete Bellzazars angespanntes Profil. Irgendetwas in seinem Inneren wollte die Hand heben und es berühren, aber er hielt sich zurück. »Warum hast du nie etwas gesagt?«, fragte er stattdessen. »Über diesen Fremden. Über …«
»Ich wusste es bis vor Kurzem nicht«, gestand Bellzazar, was ihm sichtlich unbehaglich war. »Er wurde von Mächten geschützt, die älter sind als ich. Von Waldgeistern, die schon lange vor mir existierten. Ich wusste von diesem Vogel, diesem Hermaphroditen, dem Desiderius und Rahff begegnet waren, aber ich dachte, genau wie sie, er sei samt Ei auf hoher See ertrunken, als er versuchte, in seine Heimat zu fliehen.« Er drehte den Kopf und sah Cohen an, wobei seine schwarzen Iriden blau zu schimmern anfingen. »Korah hat ihn entdeckt, als er sich unerlaubt auf Expedition in die sterbliche Welt begab.«
Cohen dachte einen Moment darüber nach und sah wieder hinüber zu dem Wald, wo Desiderius gerade vor eine weitere schockierende Neuigkeit gestellt wurde. Erst Cohens mehr oder weniger Wiederauferstehung, dann ein verloren geglaubter Sohn, der aus einem Ei geschlüpft war. Wäre Desiderius nicht selbst ein Halbgott und hätte sich nicht einst in einen Drachen verwandelt, wäre das alles gewiss zu viel für seinen Verstand gewesen. Zu viel auf einmal, um es wirklich zu begreifen. Für Cohen war es fast zu viel, dabei betraf es ihn nicht.
Und es warteten noch weitere schicksalshafte Botschaften auf die Herrscher des Westens. Cohens Blick wanderte hinüber zur Ruine, wo ein großer, drahtiger Mann mit dunkler Haut, angespitzten Ohren und buttergelben, mandelförmigen Augen stand, an dessen Arm sich ein verunsicherter Bursche klammerte, der Wexmells unehelicher Sohn hätte sein können. Nur einige Schritte entfernt saßen Levi und zu seinen Füßen der gefesselte Wächter Place gemeinsam mit Korah – Bellzazars Schöpfung und irgendwie somit Desiderius` unverhoffter Neffe – der sich erhob, sobald er Cohens Blick bemerkte, und langsam auf sie zukam.
Die Welt war ein einziges Chaos, dachte er und schüttelte den Kopf, ein Scherbenhaufen, den kaum jemand vermochte, so zusammenzusetzen, dass er einen klaren Sinn ergab.
Es geschah zu viel auf einmal, dachte er. Und doch schien es richtig, hier zu sein. Dass sie alle hier waren, genau jetzt, hier und heute zu diesem Zeitpunkt. Alles lief hier zusammen, alle losen Fäden schienen endlich zu einem Punkt verknotet. Doch … wohin würde das alles führen?
Zwei Finger legten sich um Cohens Kinn und zogen ihn zu Bellzazars Gesicht herum. Sie waren sich so nahe, dass sich fast ihre Lippen berührten, was Cohen beinahe einen wohligen Seufzer entlockte, doch er hielt sich zurück.
»He«, Bellzazar lächelte schief, »nicht wieder so viel nachdenken. Wir lassen einfach alles auf uns zukommen. Derius wird’s schon verkraften.« Doch in seinen Augen stand Zweifel.
Cohen erwiderte: »Du solltest es ihm sagen. Dass du es nicht wusstest, meine ich. Du solltest wirklich mit ihm reden, bevor er dir die Schuld gibt.«
Bellzazar wandte den Blick ab und ließ Cohens Kinn los, was dieser sehr bedauerte, und durch die plötzliche fehlende Berührung wäre er beinahe gegen Bellzazar gefallen, weil er das Kinn auf dessen Hand gestützt hatte.
»Das ist erstmal nicht wichtig«, blockte Bellzazar ab, »was er von mir hält, ist nie wichtig, er muss einfach nur verstehen. Und wenn es ihm leichter fällt, jemandem die Schuld für irgendetwas zu geben, dann ist das eben so. Lieber soll er mich hassen, weil er denkt, ich hätte ihm etwas verschwiegen, als in Selbstmitleid zu baden, weil er schuld daran ist, dass er nie nach diesem Ei gesucht hat.«
Cohen verzog die Lippen wehmütig und legte Bellzazar eine Hand auf den steinharten, muskulösen Oberarm. »Unverbesserlicher Märtyrer«, murmelte er und legte den Kopf auf Bellzazars Schulter.
Korah kam mit eingezogenem, demütig hängendem Kopf auf sie zu geschlurft und hielt die Arme vor der flachen, knabenhaften Brust verschränkt.
»Es tut mir leid«, Reue ließ seine schöne Alabasterhaut grau erscheinen, »es ist meine Schuld, dass er sich in einen Drachen verwandelte, er wollte seinen Schützling retten. Wenn ich ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dann …«
»Schon gut«, unterbrach Bellzazar ihn scheinbar genervt und verdrehte die Augen. »Ist ja nichts passiert. Und genau genommen ist das hier doch besser als erwartet. So können wir Desiderius alles schonend beibringen und ihn von der Dringlichkeit unserer Probleme überzeugen.« Dabei sah er hinüber zu Place.
Korah seufzte erleichtert darüber, dass Bellzazar ihm nicht böse war, und trat auf diesen zu. Er lehnte sich aufdringlich an Bellzazars freie Seite und schmiegte die Wange an seine andere Schulter.
Cohen musste Schmunzeln, als Bellzazar es mit einem Grollen zuließ und dann sogar die Nase im schwarzen Haar seiner Schöpfung vergrub.
Cohen wurde ganz warm ums Herz, während er die beiden betrachtete. Bis er Bellzazars tief grübelnden Blick bemerkte.
»Was ist los?«, hakte er leise nach, obwohl er eine Ahnung hatte, und hob den Kopf von Bellzazars Schulter.
Sein Fürst zuckte nur mit den Schultern. »Nichts, was soll sein? Ich denke über unsere Möglichkeiten nach, diese göttliche Dirne kalt zu machen.«
Cohen runzelte die Stirn. »Nein, das ist es nicht«, sagte er einfühlsam, »du wirkst angefressen.«
Bellzazar wandte ihm das Gesicht zu. »Angefressen?«
»Ja«, Cohen zuckte mit den Achseln, »verstimmt, miesmutig, wütend…«
»Ich weiß, was angefressen bedeutet«, knirschte er und starrte mit eng verschränkten Armen vor sich hin. »Es ist nichts!«
Dieser Sturkopf. Cohen schnaubte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass du gesehen hast, wie er mich küsste.« Er wusste doch, was los war, Bellzazar konnte ihm nichts vormachen.
Aber er zuckte nur mit den Schultern. »Ist mir gleich. Ich wusste, dass er das tun würde.« Nun sah er Cohen ins Gesicht und lächelte kalt und aufgesetzt. »Mir war bewusst, dass unsere Liaison nicht von Dauer sein konnte, vor allem seit er dich wieder sehen kann.«
Cohen legte bedauernd den Kopf schief. »Bell…«
»Nein, kein Mitleid«, unterbrach Bellzazar ihn und wirkte gleichgültig, »es ist, wie es ist. Du hast Nähe gebraucht, um dich an etwas klammern zu können, und ich war verfügbar. Jetzt kannst du dich wieder an die unglückliche Liebe zu meinem Bruder klammern.« Er wandte den Blick mit einer endgültigen Geste ab.
Cohen wollte noch etwas sagen, wusste aber gar nicht, was. Er wusste ja noch nicht einmal so recht, was er fühlte. Sein Herz frohlockte, weil er wieder bei Desiderius sein konnte, trotzdem zog es ihn weiter zu Bellzazar hin. Und es schmerzte ihn, dass sein Fürst ihn von sich stoßen wollte.
»Er ist eifersüchtig«, murmelte Korah plötzlich mit einem Grinsen in der Stimme und legte seinem Schöpfer eine Hand auf die Brust, »er platzt gleich vor Zorn.«
Bellzazar presste die Lippen zusammen und konterte mühsam beherrscht: »Halt den vorlauten Schnabel, oder ich schmeiß dich vom Gipfel.«
Cohen schmunzelte verstohlen und lehnte sich wieder an Bellzazar, der keine Anstalten machte, irgendeine körperliche Zuneigung zu ihm zu bekunden. »Er kommt eindeutig nach dir«, neckte Cohen ihn.
Und Bellzazar schnaubte, legte aber die Wange auf Korahs Scheitel, wie es nur ein liebender Vater tun würde.
*~*~*~*
»Mein Name ist Doragon. In der Sprache unserer Stämme bedeutet es Drache. Es tut mir leid, dass ich nach Euch geschnappt habe, aber Ihr standet zwischen mir und meinem Schützling. Ich schwor ihm bei meinem Leben die Treue – und ihr wart mir im Weg. Aber ich habe Euch nicht runtergeschluckt, Eure Gefährten übertreiben etwas.«
Desiderius stieg schmunzelnd durch das Unterholz, Doragon wollte ihm etwas zeigen, von dem er glaubte, Desiderius würde es nur glauben, wenn er es selbst sähe. »Ich mache dir keinen Vorwurf, ich war der Dummkopf, der sich vor das Maul eines Drachen warf. Genauso gut hätte ich mich mit ein paar Gewürzen garnieren können.«
»Davon muss ich immer niesen.«
Sie lachten beide. Unsicher und noch etwas verkrampft, aber sie lachten. Und es war befreiend, zu spüren, dass keinerlei Groll ihr Aufeinandertreffen verdüsterte. Ragon hatte glücklicherweise Rahffs frühere Besonnenheit geerbt, von Desiderius` übergroßem Stolz hatte er nichts abbekommen, dafür aber den Drachen in sich.
Es war verrückt, absolut unglaublich, dass er existierte und sie sich unterhielten. Desiderius konnte das alles noch gar nicht so richtig begreifen, er wusste auch gar nicht ob er sich fürchtete oder sich freute. Man stand ja nicht alle Tage vor einem verlorenen Sohn, der aus einem Ei geschlüpft war, und den man mit einem anderen Mann geschaffen hatte. Einem Mann, den man einst wegen Verrats gerichtet hatte.
Schuldbewusst griff sich Desiderius an die Brust und umfasste Nebelkralles alte Kette und die Ringe, die Rahff für sie angefertigt, ihm aber nie gegeben hatte. Trauer und Wut überkamen ihn, aber er zügelte seinen Zorn auf sich und die Welt.
Was war er doch dumm gewesen, zu glauben, Suto und das Ei wären einfach so aus der Welt. Er hätte nach beiden suchen müssen! Doch damals war es einfach, daran zu glauben, Suto sei gestorben. Er hatte es sich eingeredet, um nie wieder daran denken zu müssen.
»Es tut mir leid, dass ich nie nachgeforscht habe, was aus euch geworden ist«, hörte er sich sagen, ohne sich bewusst gewesen zu sein, dass er es hatte sagen wollen. Aber er meinte es ehrlich, heute bedauerte er es zutiefst, vor allem wenn er sich ansah, was für ein stattlicher Mann vor ihm stand, in dessen Augen eine Erfahrung innewohnte, die ihn sogar ein wenig einschüchterte.
Doragon ging um eine Tanne herum, blieb dann stehen und wandte Desiderius das Gesicht zu. Er hatte die Maske nicht wieder übergestreift und in seinem Blick stand Vergebung. »Ihr habt es selbst gesagt, Ihr wart jung – und es gingen schreckliche Dinge in Eurem Königreich vor, von denen wir sogar bis nach Zadest hörten. Ihr hattet ein Schicksal zu erfüllen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht verbittert, König Desiderius. Das heißt, ich war es, aber das ist lange her. Heute bin ich erwachsen und habe meinen Frieden damit gemacht. Ich wollte nie Teil Eures Lebens sein. Ich fragte mich immer, wer Ihr wohl seid und was für ein Mann aus Euch geworden ist, was Ihr wohl zu mir gesagt hättet. Aber ich wollte nie …« Er brach ab und schüttelte seufzend den Kopf. »Ich hatte ein Leben, ein eigenes Leben. Zadest war meine Heimat und die Tiermenschen waren mein Volk. Und ihretwegen bin ich hier. Nicht, um irgendetwas von Euch für mich selbst zu erbitten, nicht einmal, um Euch zu treffen. Nur um den Westen um Hilfe zu ersuchen. Nicht für mich, sondern für die Völker meiner Heimat. Und wir brauchen den gesamten Westen, nicht Euch im Einzelnen.«
Desiderius hätte von den Worten vielleicht gekränkt sein sollen, aber das war er nicht, er lächelte lediglich und reckte das Kinn ein wenig vor. »Jetzt ist es fast, als stünde dein Vater vor mir, Doragon.«
»Ragon«, korrigierte er und neigte leicht das Haupt, »wenn Ihr wünscht, mein König.«
»Nennen deine Stammesbrüder dich so?«, fragte Desiderius interessiert.
»Ähm ja… aber den Namen gab ich mir selbst.«
»Oh. Ach so?«
»Ja…« Nun wirkte Doragon doch tatsächlich ein wenig schüchtern, als er sich im Nacken kratzte. »Wisst Ihr… Ragon. Rahff. Das klang ein wenig ähnlich…« Er räusperte sich unbehaglich und zuckte mit den Schultern. »R.A. Es war das Einzige, was irgendwie von ihm blieb, oder? Na ja, ich und diese beiden Buchstaben. Damals war es einem ruhelosen Jungen wichtig, und heute ist Ragon einfach mein Name.«
Neugierig legte Desiderius den Kopf schief. »Und welchen Familiennamen bevorzugst du?«
»Keinen, mein König. Ich bin einfach Ragon, schon mein ganzes Leben.«
Desiderius schnaubte amüsiert. »Also schön. Ragon. In Ordnung. Aber lass den Quatsch mit dem Verbeugen und diesem Königs-Ding. Du hast es selbst gesagt, deine Heimat ist Zadest, und dein Volk ist dein Stamm – ich bin nicht dein König, Ragon, ich will es auch nicht sein.«
Das brachte Doragon – Ragon dazu, die Augen zu verengen, aber er nickte einmal knapp.
Natürlich herrschte noch gesunder Argwohn auf beiden Seiten, immerhin waren sie sich trotz allem gänzlich fremd. Und es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Desiderius nicht einmal seinem eigenen Schatten vertraut, geschweige denn einem Verwandten. Doch Wexmell hatte ihn gelehrt, auch mal auf sein Herz zu vertrauen, darauf, was es ihm sagte, und dieses wollte sich gegenüber diesem Fremden regelrecht öffnen. Es war so seltsam, als würde er wieder vor dem jungen Rahff stehen, und natürlich kamen dabei allerlei Gefühle auf.
»Wir sollten weiter gehen«, schlug Ragon vor. Desiderius nickte und bedeutete ihm, voran zu gehen. Ragon drehte sich um und kämpfte sich weiter gewissenhaft durch das Unterholz, wobei er sich weniger einen Weg bahnte, als vielmehr trotz massigem, riesigem Körper der Umgebung anpasste. Selten knickte ein Zweig oder auch nur ein Blatt ab, wenn er durch den Wald schlich.
All das nahm Desiderius ganz deutlich wahr, er beobachtete den Fremden ganz genau, um ihn kennen zu lernen. Ragon wusste, sich durch den Wald zu bewegen, sogar noch besser als er. Er war wie ein schleichender Bär, der immer darauf achtete, Mutternatur nicht zu schaden. Er respektierte den Wald, vom kleinsten Grashalm bis zum größten Baum, liebte ihn wie eine Mutter, das sah man auf den ersten Blick. Ein Mann, der eindeutig im Dschungel und unter Völkern aufgewachsen war, deren Gott und deren Glaube die Wälder waren.
Aber nicht nur das fiel Desiderius auf, auch bei ihrem Gespräch achtete er ganz genau auf Ragons Worte und auf das, was sie beinhalteten. Er war zurückhaltend, vorsichtig – aber nicht verschlossen. Er wollte Desiderius` Vertrauen gewinnen, erzählte persönliche Dinge von sich und antwortete ohne zu zögern auf alle Fragen, wobei er ehrlich blieb, selbst wenn die Antwort Desiderius vielleicht nicht gefiel, jedoch war er dabei immer höflich.
Klug. Das war er. Sehr klug. Und er schien mit Königen, die nicht die seinen waren, Erfahrung zu haben. Er benahm sich vorbildlich distanziert, aber offen, und das obwohl er vermutlich jeden Grund hätte, Desiderius etliche Vorwürfe zu machen.
Des Weiteren ging er voraus und drehte Desiderius ohne zu zögern den Rücken zu. Er war ein wenig angespannt dabei, drehte sich aber niemals nervös zu ihm um, als wollte er ihm zeigen, dass er ihm vertraute, und Desiderius auch ihm vertrauen konnte. Er trug auch keine Waffen, die hatte er bei der Ruine gelassen.
Der Wald wurde wieder lichter und Desiderius holte auf, nebeneinander gingen sie weiter. Herabgefallene, trockene Äste knackten unter ihren Schritten, es wurde wärmer, der Morgen ging in den Mittag über, und er fragte sich, ob es Wexmell gut ging.
Mir geht es gut, Liebster, sagte er in Gedanken und hoffte, sie würden seinen Prinzen erreichen. Ich komme zurück zu dir. Ich. Komme. Immer. Wieder. Zurück. Zu. Dir.
Erst an zweiter Stelle trat die Sorge an seine Kinder, die vermutlich umkamen vor Angst um ihn.
Er dachte immer zuerst an Wex, so war das leider. Sie liebten ihre Kinder ohne Grenzen, aber die Liebe zu einander war schon immer die stärkste Macht gewesen.
Und jetzt war Cohen wieder da. Das änderte natürlich nichts zwischen ihm und Wexmell, rein gar nichts. Aber … es war seltsam. Einfach seltsam. Er könnte nicht glücklicher sein, und doch wusste er, dass es nichts ändern würde, außer einem Ende der Schuld, weil Cohen für ihn gestorben war, und ein Ende der Trauer.
Was Wex wohl sagen wird, wenn er Cohen sieht?
Desiderius vertrieb die Gedanken, er würde es auf sich zukommen lassen. Wexmell würde Cohen vermutlich umarmen, so war er eben einfach. Aber gerade war Desiderius sogar froh, dass Ragon ihn von Cohen ablenkte.
Denn… er war einfach wieder da, nach all den Jahren. Und er war jetzt ein Dämon. Zudem ein ziemlich bissiger, wenn er an dessen Bemerkung dachte. Das musste erst einmal verdaut werden.
Er konnte es kaum glauben, dass er das mal sagen würde, aber sein verlorener, aus einem Ei geschlüpfter Spross, der bereits seit langem ein erwachsener Mann war, bereitete ihm weniger Kopfzerbrechen als sein plötzlich von den Toten als Dämon widergekehrter einstmals Geliebter…
Verdammt, sein Leben war ja schon immer kompliziert gewesen, aber dieser Tag und seine Enthüllungen übertraf einfach alles. Er wollte nur noch das Gesicht an Wexmells Hals vergraben und schlafen. Sehr lange schlafen.
»Was ist mit Suto?«, wagte er endlich zu fragen und sah vor seinem inneren Auge noch einmal dieses seltsame, zierliche Vogelwesen mit dem azurblauen Federkleid und den riesigen Eulenaugen, das sich gern schüchtern an seinen Rücken geklammert hatte. »Was ist mit ihm geschehen?«
Ragon ging einige Schritte mit gesenktem Kopf weiter und Desiderius glaubte schon, dieser würde ihm die Antwort schuldig bleiben, wenn er nicht noch weiter nachhaken würde.
Doch da seufzte Ragon schwer und legte leicht den Kopf schief. »Suto lebt nicht mehr, er starb vor vielen Jahren.«
Desiderius hatte es geahnt, immerhin war es viele Jahrzehnte her. Wie alt war Ragon ungefähr? Vierzig Sommer? Nicht, dass man es ihm angesehen hätte, dank seines luzianischen Blutes würde er ein paar Jahrhunderte alt werden können und immer noch wie dreißig aussehen. Der Fluch ihres langlebigen Volkes war es, dass alle anderen Völker nicht einmal ansatzweise so alt wurden wie sie.
Trotzdem krampfte Desiderius` Herz bei dieser endgültigen Nachricht, auch wenn er ewig nicht an Suto gedacht hatte. Durch Ragons Auftauchen war Suto wieder … Wirklichkeit geworden.
»Wie?«, verlangte er zu erfahren. Er musste es jetzt einfach wissen.
Ragon machte dieses Thema sichtlich unglücklich, doch nach einem tiefen Durchatmen, suchte er Desiderius` Blick und begann zu berichten, während er sie langsam und gewissenhaft weiter durch den Wald führte: »Er starb, wie fast alle seinesgleichen starben.«
Desiderius wurde hellhörig, als er Ragons kryptischen, missmutigen Unterton vernahm, und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert, weil er dessen plötzlich düsteres Gesicht betrachtete, statt dahin zu sehen, wohin er als nächstes trat. »Wie meinst du das?«, fragt er, innerlich über sich selbst fluchend.
»Die meisten seiner … Gattung…«
»Zwitterwesen?«
»Wir bevorzugen es, sie das geistliche Geschlecht oder auch Göttergeschlecht zu nennen«, korrigierte Ragon ihn, jedoch ohne Tadel, als wäre Desiderius eben einfach ein dummer Westländer, dessen eingeschränkte Weltansicht man ihm vergeben müsste.
Desiderius presste die Lippen zusammen. »Verzeih, ich wollte ihn gewiss nicht beleidigen.«
»Schon gut«, Ragon zuckte mit den Achseln, während er sich nach einem Ast streckte und sich daran hinaufzog, um über einen umgestürzten, mit Moos bedeckten Stamm zu klettern. Er blieb obendrauf sitzen und reichte Desiderius seine Hand, um ihm hinaufzuhelfen. Desiderius schlug ein und ließ sich hochziehen. Auf der anderen Seite sprangen sie wieder hinunter und setzten ihren langsamen Marsch fort.
»Wir sehen etwas Magisches in Wesen wie Suto«, klärte Ragon ihn dann weiter auf, »weil nur unsere Waldgeister – oder nur Götter, wie ihr es nennt – fähig sind, sich mit allem und jedem zu paaren. So hätte Suto durchaus auch einen reinrassigen Wolf oder einen Jaguar gebären können. Das bedeutet es für uns, magisch zu sein. Göttlich zu sein. Das göttliche Geschlecht ist im Grunde gar kein Geschlecht, es passt sich den Umständen an. Es kann alles sein, was es sein will, um sicherzustellen, dass das Leben in unserer Welt fortbesteht. Selbst wenn ein Stamm vom Aussterben bedroht ist, sorgt ein solches Wesen dafür, dass er vor der Ausrottung gerettet wird. Selbst dann, wenn es nur noch fruchtbare Männer oder nur noch fruchtbare Frauen gibt. Weil…«
»Sich das göttliche Geschlecht allem anpassen kann, um das Überleben zu sichern.«
Ragon nickte bestätigend. »Ja, genau.«
»Wie starb Suto?«, fragte er erneut nach, nun mit einer deutlichen Befürchtung in der Stimme.
Ragon seufzte neben ihm. »Vor einigen Jahren erfuhren die Frauenstämme von unserem göttlichen Geschlecht und sahen es als eine Bedrohung für die Welt der Frauen. Dass etwas, außer einer Frau, Leben erschaffen kann, machte ihnen Angst. Also jagten einige Stämme Wesen wie Suto. Und eines Tages … endeckten sie auch ihn.«
Desiderius wurde die Kehle eng. »Sie töteten ihn«, begriff er und mahlte wütend mit den Kiefern.
Ragon nickte bekümmert. »Es war meine Schuld. Wir lebten von unserem Stamm abgeschieden an einem Strand, wo uns Gaben und andere Huldigungen gebracht wurden. Suto wurde beinahe wie ein Druide verehrt, aber es gab keinen Schutz. Nur mich.« Er machte eine kurze Pause und lief mit gesenktem Blick weiter. »Wie ich bereits erwähnte, gab es eine Zeit, als ich wegen meiner … Herkunft zornig war. Ich wollte zurück, ich wollte wissen, wer meine Familie ist, woher ich stamme, ich … war wütend, als wir erfuhren, dass … Rahff getötet wurde. Aber Suto verbot es mir, er hielt es für zu gefährlich, gen Westen zu gehen. Ich war jung und eigensinnig, also verwandelte ich mich und wollte allein fliegen. Doch dann erlag ich dem Ruf der Freiheit und kam nie über Zadest hinaus.«
Desiderius sah ihn schockiert an. »Du bist dem Ruf der Drachen gefolgt?« Als Blutdrache konnte man in verwandelter Form auch seinen tierischen Instinkten verfallen und der Welt der Zweibeiner den Rücken kehren. Niemand konnte einen dann mehr zurückholen.
Ragon wirkte schuldbewusst, als er weitersprach. »Ich habe einige Jahre als Drache unter Drachen gelebt, als … Ich weiß gar nicht genau, was passiert ist, aber eines Tages verwandelte ich mich ohne mein bewusstes Zutun zurück. Und ich ging heim. Doch statt Suto erwarteten mich nur seine bereits vertrockneten Überreste. Er war schon seit mehr als einem Jahr tot, sie haben ihn aufgeschlitzt und liegen gelassen. Das ließ meine ganze Wut verrauchen. Mein Stamm war auch fort, sodass ich von heut auf morgen auf mich allein gestellt war, ohne den Rückhalt von … irgendwem.«
Desiderius starrte ihn fassungslos an, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Jedes Wort wäre einer dummen Floskel gleichgekommen.
Ragon bemerkte seinen Blick und verzog wehmütig seinen Mund. »Wenn ich da gewesen wäre … Aber das war ich nicht. Solche Dinge passieren, wisst Ihr? Man trifft Entscheidungen, die sich hinterher als schrecklicher Fehler herausstellen. Aber an diesen Fehlern wächst man.«
»Wo bist du dann hingegangen?«, fragte Desiderius neugierig. »Hast du deinen Stamm wiedergefunden?«
»Nein, aber einen befreundeten Stamm«, antwortete Ragon, »dort hielt es mich aber auch nicht lange. Die Schuld war zu groß und ich war sehr wütend auf mich selbst. Der Häuptling riet mir, für meine Fehler Widergutmachung zu leisten, um meinen eigenen Seelenfrieden wiederzufinden. Er schickte mich direkt ins Wespennest, wie man so schön sagt.« Er lächelte Desiderius amüsiert an. »So gelangte ich in den Dienst der Königin von Zadest.«
Desiderius hob überrascht die Augenbrauen.
»Ja. Aufgrund meiner blanken Haut und menschlichen Gestalt war es ihnen einfacher, mir zuzuhören, als einem Vogelmann«, fuhr Ragon fort. »Wie dem auch sei, ich war dort eine Art Botschafter für die Tierstämme. Damit das Ausrotten unserer heiligen Wesen aufhörte, versuchte ich, den Frauen begreiflich zu machen, was sie sind, und dass sie ihre Welt niemals bedrohen könnten. Einige hörten zu, ich hatte die Gunst der Königin auf meiner Seite, und nach und nach konnten wir die Verfolgungen eindämmen. Und noch viel mehr. In Zadest ist es üblich, Jungen schon bei der Geburt in Zucht- oder Arbeiterhäuser zu stecken, wir kämpften für das Recht dieser Männer, und obwohl noch viele Frauenstämme strikt dagegen waren, erhielt die Königin dennoch großen Zuspruch.«
Desiderius hörte, dass dies nicht der Anfang eines glücklichen Endes war.
Ragon bog um einen Baum herum und blieb plötzlich stehen, die Sonne hing nun kräftig leuchtend am blauen Himmel und brannte auf den bewaldeten Gipfel des Berges hinab. Der Wind pfiff hier lauter, als wäre eine Klippe ganz in der Nähe.
»Aber dann wurde sie verraten und plötzlich war nicht mehr nur mein Volk, sondern auch ihres in Gefahr«, erklärte Ragon mit verhärtetem Gesicht. »Sie wurde ermordet. Ich floh zurück zu meinem Stamm und konnte den Häuptling überreden, zu helfen. Seitdem sind wir Rebellen, die nicht nur unsere eigenen Leute, sondern auch ihre befreien und beschützen.«
Desiderius konnte förmlich spüren, wie sich die Falte zwischen seinen Augen vertiefte. »Reden wir hier von Sklaven?«
»Wir befreiten viele«, sagte Ragon dazu nur mit sehr ernster Stimme. Dann sah er plötzlich zur Seite, durch die Bäume hindurch. »Aber dann offenbarte sich uns das ganze Ausmaß dieses Verrates. Diejenige, die die Königin ermordete, ist kein Wesen aus unserer Welt.«
Desiderius sah ihn fragend an, doch statt sich weiter zu erklären, wandte Ragon sich ab, ging noch einige Schritte und deutete dann nach unten.
Neugierig trat Desiderius neben ihn und wäre beinahe eine plötzliche steile Klippe hinabgestürzt, die sich unmittelbar wie der Rachen eines Ungeheuers unter ihnen auftat. Dort unten sah er, was ihm den Atem stocken ließ. Ein Heerlager in mitten des Waldes unter ihnen. Sechshundert Mann, schätzte sein geübtes Auge.
»Was ist das?«, hauchte er und ging in die Hocke. Es brannten Feuer, aber es standen keine Zelte, die Soldaten standen wie zum Befehl bereit, keiner rührte sich. Mehr Statuen als lebendige Wesen.
»Selbst die Frauenstämme sind vor ihr geflohen.« Ragon lehnte sich mit der Schulter an den Baum. »Sie nennt sich die Herrin, und sie ist hier, um auch euch zu stürzen. Euch alle.«
Desiderius sah noch eine Weile auf das Heer hinab, während er im Geiste bereits fieberhaft nach Schlachtplänen und ebenso nach anderen Lösungen forschte. Er konnte den Blick nicht von dem Feind abwenden, der dort unten zu lauern schien und von dem etwas Fremdartiges, Bedrohliches ausging. Die Gefahr stank bis zu ihnen hinauf.
»In Ordnung«, hörte er sich sagen, »erzählt mir alles ganz genau.«
*~*~*~*
»Es tut mir so leid«, flüsterte Kacey voller Reue an Fens Schulter. Noch immer klammerte er sich an dessen Arm und versteckte sich halb hinter dessen Rücken. Doch die fremden Männer, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, beachteten sie gar nicht. Höchstens dieser große, schlanke Kerl mit unheimlich schwarzen Augen, der immer wieder mit einem Habichtblick zu ihnen rüber starrte, als ob er fürchtete, sie könnten sich heimlich davon gemacht haben. Ansonsten ließ man sie in Ruhe.
Wer waren all diese Männer? Warum hatten sie bereits an der Ruine auf sie gewartet, als Ragon gelandet war? Kacey hatte während der ganzen Aufregung nicht viel mitbekommen. Es war ihm alles zu viel gewesen, die Stadt, die Lichter, der Lärm und dann diese vielen Leute um ihn herum, die aufgebracht und nervös schienen. Bis dieser große Kerl mit den schwarzen Augen, von dem eine tiefdüstere, wabernde Aura ausging, recht bestimmt Ragon befohlen hatte, den Mann im Maul sofort auszuspucken. Was der Drache auch getan und sich dann zurückverwandelt hatte.
Dann hatte dort ein Bewusstloser gelegen, um den sich alle gescharrt hatten, während Ragon seine Wunden selbst verbunden und seine Maske übergestreift hatte. Nun war Ragon fort, gemeinsam mit einem der Fremden, und Kacey zitterte noch immer am ganzen Leib vor Aufregung. Er kam sich ja so dumm vor. Das ganze Chaos war seinetwegen ausgebrochen, das spürte er ganz deutlich.
Und er spürte auch Fens Ärger, der sich unverkennbar auf seine verhärteten Züge eingeschweißt hatte, was nur zu Kaceys Verzweiflung beitrug.
»Es tut mir ja so leid«, beteuerte er wiederholt und schmiegte das tränennasse Gesicht an Fens Arm.
Dieses Mal seufzte Fen und drehte sich endlich zu ihm um. »Jetzt setz dich, du zitterst wie ein Aal!«
Fen drückte Kacey auf eine umgestürzte Mauer. Das Moos darauf war klamm und durchnässte seine Hose, aber es tat gut, zu sitzen.
Als Fen sich wieder abwenden wollte, umfasste Kacey dessen Hände und zog ihn zu sich herum. Mit großen feuchten Augen sah er zu ihm auf. »Ich wollte wirklich nicht, dass Ragon verletzt wird! Ich hab gedacht, wenn ich allein gehe, muss er seinem Vater nicht begegnen und …« Er verstummte verzweifelt, als er Fens harten Blick bemerkte. Ernüchtert ließ er den Kopf hängen und schniefte. »Du hasst mich jetzt, weil ich Ragon in Gefahr gebracht habe.«
Fen seufzte und ging vor ihm in die Hocke, seine Hände waren warm, als er Kaceys kalte Finger umfasste und zudrückte. »Ich hasse dich nicht. Ich hatte nur furchtbare Angst um dich. Das hatten wir beide.«
Zögerlich hob Kacey den Blick. Und Fen rang sich ein leichtes Lächeln ab.
»Ragon ist schon ein Großer«, sagte Fen eindringlich und knuffte Kaceys zartes Kinn, von dem Tränen tropften, »den haut nichts zu schnell um, also mach dir keine Sorgen um ihn. Es waren nur ein paar Kratzer.«
Kaceys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Ich hatte solche Angst… als die ganze Stadt ihn angriff … und… wenn du nicht so schnell dagewesen wärst…«
»Ich bin mit Ragon geflogen und vor der Stadt abgesprungen, damit sie mich nicht kommen sehen. Ich wusste, dass etwas schief gehen würde. Ragon hat nicht nachgedacht, er wollte nur so schnell wie möglich zu dir.«
Kaceys Lippe zitterte unkontrolliert. »Ihr wart wegen mir in Gefahr. Wegen mir war alles in Gefahr. Und ich habe mich so … hilflos, so klein gefühlt. Ich konnte nichts tun, Fen, ich war so … machtlos … während Ragon verletzt wurde… ich… ich wollte ihm helfen, aber ich konnte rein gar nichts tun…«
»Schsch.« Fen legte ihm einen langen Finger über die Lippen, bis er schwieg, und strich ihm dann beruhigend über den Kopf. »Denk nicht darüber nach. Es ist vorbei und uns geht es gut. Alles andere ist nicht wichtig, in Ordnung?« Doch dann wurde sein Blick sehr ernst und seine buttergelben Augen blitzten feurig auf. »Aber tu so etwas nie wieder! Hörst du? Keine Alleingänge, vor allem nicht, ohne uns Bescheid zu geben! Das macht eine Gemeinschaft aus, Kacey. Wir sind deine Gefährten, du darfst uns nicht so einfach hintergehen.«
Erschrocken sah er Fen an. »Ich würde euch nie hintergehen! Ich wollte doch nur Ragon schütz-…« Als er Fens leicht spöttischen Blick bemerkte, senkte er beschämt den Blick.
Sie wussten beide, warum er davongelaufen war. Er hatte sich zu sehr geschämt, von Ragon zurückgewiesen worden zu sein.
Fen atmete matt aus und trocknete Kaceys Wangen, indem er ihm mit den Knöcheln das Gesicht trockenwischte. »Es hängt so viel von dir ab, Okiniiri.«
Kacey blinzelte überrascht. Hatte Fen ihn gerade wirklich Liebling genannt?
»Tu nie wieder so etwas Leichtsinniges«, beschwor ihn Fen und in seinen mandelförmigen Augen konnte man die Furcht sehen, die er um Kacey gehabt hatte.
»Ist das alles, was für euch zählt?«, fragte Kacey matt. »Dass viel von mir abhängt?«
»Bei der Mutter, nein!«, stöhnte Fen und rang die Hände in die Luft, als wollte er Kacey am Hals packen und aus Verzweiflung schütteln. »Es geht mir allein um dich! Selbst, wenn du nur ein dümmlicher Bauer wärst, der nur noch sabbern könnte, weil ihm zu viele Kokosnüsse auf den Kopf gefallen sind, würde ich dich mit meinem Leben schützen!«
Kacey musste schmunzeln, zum ersten Mal seit er sich davongeschlichen hatte und alles im Chaos geendet war.
Fen seufzte und streichelte ihm die von den Tränen kalte Wange zärtlich mit dem Daumen. »Ich täte alles für dich. Wir sind …« - er nahm Kaceys Hände und legte sie sich feierlich über sein kräftig schlagendes Herz - »… Brüder.«
Kaceys Lippe zitterte vor Rührung und er warf sich an Fens Hals, der beinahe deshalb nach hinten umgekippt wäre. Leise lachend legte Fen schließlich die Arme um Kaceys dürren Leib und drückte ihn ganz fest an sich.
»Ich liebe dich, Fen«, schniefte Kacey. Er kam sich so dumm vor wegen dem, was er angerichtet hatte. Wie ein naives, trotziges Kind. Vielleicht war er das auch, er fühlte sich jedenfalls so.
Fen seufzte: »Und ich liebe dich, mehr als mich selbst.«
Kacey spürte neue Tränen, doch dieses Mal aus Dankbarkeit. Das Schicksal hatte ihm die Mutter und somit die einzige Familie genommen, die er gekannt hatte, es hatte ihn zum Gefangenen gemacht – aber ebenso hatte es ihn in Ragons und Fens Arme gebracht. Das Beste, was ihm hätte passieren können.
»Ich war dumm, davonzulaufen«, entschuldigte er sich beschämt.
Fen umfasste seine Arme und drückte ihn von sich, damit er ihn ansehen musste. »Hör mal, ich weiß, es ist nicht schön, abgewiesen zu werden. Aber es war mutig von dir, ihn zu küssen. Sehr mutig.«
Kacey starrte zu Boden, seine Wangen glühten. »Es war dumm«, erwiderte er matt. »Aber … nach all der Zeit …« Er biss sich auf die Lippe und atmete zitternd aus und ein, Fen lauschte ihm geduldig und interessiert, ohne Vorurteile. »Ich war immer nur eingesperrt gewesen«, Kacey hob ratlos die Schultern, »und jetzt … bin ich frei und … ich …«
»Du sehnst dich nach Nähe«, wusste Fen, »und Ragon hat dieses gewisse Heldenhafte.« Letzteres klang so amüsiert, dass Kacey wieder rot wurde, denn es stimmte.
»Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich nach … Nähe sehne«, raunte er leise vor lauter Verlegenheit. Er räusperte sich. »Es ist, als gäbe es da in mir diese riesige Kluft, die gefüllt werden will.« Sehnsüchtig sah er Fen ins Gesicht. »Ich weiß, dass es bei dir anders ist. Wir waren beide Sklaven, aber doch anders.«
Fen senkte nun den Blick, als wäre es ihm unangenehm, das Kacey davon wusste.
»Dir wurde Gewalt angetan«, flüsterte Kacey bedauernd, »und mir hat man die Einsamkeit angetan. Während man dir Nähe aufgezwängt hat, wurde sie mir immer verwehrt. Nun sauge ich alles auf wie ein Schwamm und … irgendwie scheint es nie genug.«
Fen lächelte matt und sah Kacey wieder an. »Du musst dich nicht entschuldigen, Kacey. Und wie gesagt, es war sehr mutig, deine Gefühle offen zu zeigen. Aber Ragon ist einfach viel zu … gut, um das auszunutzen. Außerdem ist sein Herz festverschlossen.«
Kacey nickte enttäuscht. Seit er Ragon kannte, zog dessen freundliche Art ihn magisch an, er war der typische Retter in der Not gewesen, und Kaceys einsames Herz hatte sich sofort an ihn gehängt, schon in dem Moment, als die Tür seines Käfigs aufgezogen wurde und Ragon sich ihm behutsam genähert hatte. Er war die erste Person, die Kacey Vertrauen geschenkt hatte, und er hatte es nicht bereut.
»Ich wünschte, ich hätte ihn nie geküsst«, seufzte er nun.
»Nein, tu das nicht«, Fen sah ihn streng an, »das gehört zum Leben dazu, Kacey. Jeder kann Gefühle verbergen, und die meisten von uns leben ein Leben ohne je das zu zeigen oder zu sagen, was sie wirklich wollen. Du hingegen hast Mut bewiesen und dein Glück versucht. Das war nicht dumm, überhaupt nicht! Du solltest immer deinem Herzen folgen, Kacey, auch wenn es verletzt werden könnte. Zurückweisung gehört nun mal leider auch zum Leben dazu, aber du hast es wenigstens versucht und hast dir nichts vorzuwerfen. Es ist immer besser zu wissen, woran man ist, als sich bis an sein Lebensende zu fragen, was hätte sein können. Also schäme dich nie für das, was du fühlst und tust und auch nie für Entscheidungen, die du aus dem Herzen heraus getroffen hast. Das bedeutet es, stark zu sein.« Fen lächelte aufmunternd und knuffte erneut Kaceys Kinn. »Stark ist der, der immer für seine Gefühle und Überzeugungen einstehen kann. Das macht dich besonders, nicht dumm.«
Aber er fühlte sich trotzdem dumm, bloßgestellt, weil Ragon jetzt wusste, dass er wie ein Kind von ihm schwärmte, es aber nicht im Geringsten erwiderte.
Oh ja, er fühlte sich sehr naiv deshalb und hätte es gern ungeschehen gemacht.
»Irgendwann, Kacey«, sagte Fen bedeutungsvoll, »küsst du den Richtigen oder die Richtige, und dann wirst du auch zurückgeküsst. Vielleicht schon früher als mir lieb ist.«
Kacey sah ihn irritiert an, musste aber dabei schmunzeln. »Wie meinst du das?«
Verdrossen nagte Fen auf der Innenseite seiner Wange. »Weil der- oder diejenige dich mir wegnimmt.«
Das brachte Kaceys Lächeln endgültig zurück und Fen seufzte glücklich, als er es sah. Ja, sie kannten sich vielleicht noch nicht sehr lange, aber doch waren sie eine Familie. Eine Familie, die sie sich ganz bewusst selbst ausgesucht hatten.
Bevor Kacey sich erneut an Fens Hals werfen konnte, hörten sie Äste auf dem Pfad knacken und fuhren herum. Fen erhob sich, als Ragon und der Fremde zurückkamen.
Ragon nickte ihnen zu und gesellte sich sofort wieder zu ihnen, während der Fremde zu dem großen Schlanken mit den schwarzen Augen ging und sie geradewegs gegeneinander liefen. Ein dumpfer Laut ertönte, als sie sich umarmten und einen Moment lang sehr innig festhielten. Sie sagten etwas, das Kacey nicht verstand. Dann wandte sich der Fremde von dem Mann mit den schwarzen Augen ab und wandte sich dem Einäugigen zu, den er mit solch einer Inbrunst an sich zog und küsste, dass seine Leidenschaft Kaceys Kehle nur beim Zusehen vor Sehnsucht austrocknen ließ. Was täte er nicht alles, selbst einmal so innig geliebt zu werden. Als sie sich lösten, traten sie herüber, und nun kamen auch die anderen Fremden auf sie zu, als hätte irgendjemand ein Signalhorn geblasen.
»Also«, erhob der dunkelhaarige Mann, der aus Ragons Drachenmaul gekommen war, das Wort in der Gruppe. Dabei huschten seine viel zu grünen Augen von Mann zu Mann und blieben kurz an dem silberhaarigen Spitzohr hängen, das ihn frech angrinste.
»Dich kenn ich doch.«
Das Spitzohr verneigte sich mit gefesselten Händen. »Place. Wir sind uns schon einmal begegnet, mein König.«
König? Neugierig musterte Kacey den Mann erneut. Er wirkte durch seine starke Statur und seinen stechenden Blick so imposant wie eine Führungsperson, doch seine Rüstung sah nicht nach einem König aus, wie Kacey ihn sich vorgestellt hätte. Kein Gold, kein Eisen, keine Krone.
Dieser angebliche König nickte. »Ich erinnere mich, mein göttlicher Sinn hat sich bei dir gemeldet.« Und dann blieben seine Augen an Kacey hängen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Diese Augen! Dieses beinahe giftige Grün! Er kannte sie, es waren die Augen dieses Prinzen, der ihm das Hemd zerrissen hatte. Kacey schob sich zwischen Ragon und Fen. Fen berührte ihn am Arm und Ragon legte ihm sanft eine Hand auf den Rücken, als wollten sie ihm sagen, dass sie ihn beschützen würden.
»Ich will alles wissen«, sagte der Mann mit den stechend grünen Augen. »Erzählt mir alles ganz genau von Anfang an«, verlangte er und dann bohrten sich seine Augen wieder in Kaceys Gesicht, als erwartete er von ihm eine Erklärung.
»Ich weiß, wer du bist«, schien sein Blick zu sagen, und Kacey vergrub das Gesicht in Fens Achsel.