Читать книгу Leopold Figl - Birgit Mosser-Schuöcker - Страница 10
Ein anstrengender Sonntag:
Oktober 1932
ОглавлениеEtwas umständlich befestigt Leopold Figl den langen Ehrensäbel an seiner Uniform. Vor einigen Wochen haben ihm seine Sturmscharmänner das gute Stück bei einem Treffen in Krems überreicht. Auch heute ist wieder Sonntag, auch heute muss er wieder zu einem Sturmschartreffen aufs Land fahren. Wieder keine Zeit für die Familie, wie fast jedes Wochenende.
Hilde sagt nichts dazu; es ist auch nicht notwendig. Der Familienvater weiß genau, dass er mehr Zeit mit seiner Frau und dem kleinen Hansl verbringen sollte. Aber es ist wichtig, dass er zu seinen Männern spricht. Eine mitreißende Rede ist gut für die Moral. Die jungen Bauernburschen hängen an seinen Lippen, vertrauen seinen Auffassungen. Er sieht es in ihren Augen, hört es an ihrem Applaus. Nach einer sonntäglichen Figl-Rede glauben die Zuhörer wieder ein bisschen mehr an ein starkes, unabhängiges und katholisches Österreich. In diesen unruhigen Zeiten kann man nicht genug dafür tun, damit die Menschen fest und treu zur Regierung, zum Kanzler, stehen. Jeden Tag bringt die RAVAG, bringen die Zeitungen neue beunruhigende Meldungen. Da marschieren die Roten, dort marschieren die Braunen. Schlägereien, Saalschlachten, sogar Attentate sind an der Tagesordnung. Sie alle haben es darauf abgesehen, die Regierung in die Enge zu treiben – die Macht an sich zu reißen.
Dollfuß ist trotz seiner geringen Körpergröße ein großer Mann. Er bietet ihnen die Stirn, den Roten, den Braunen – den Feinden Österreichs. Trotzdem ist er ein geselliger, charmanter Mensch geblieben. Vielleicht ergibt sich ja bald wieder die Gelegenheit, ein bisserl zu plaudern. Der Kanzler weiß den Einsatz für die Sturmscharen zu schätzen.
Ein Klopfen an der Wohnungstür reißt den niederösterreichischen Sturmscharführer aus seinen Gedanken.
Kurz darauf steckt Fritz Eckert, sein Sekretär, den Kopf ins Vorzimmer. „Poldl, komm, wir müssen fahren!“
Ein letzter Blick in den Spiegel. Ein Mann in hechtgrauer Uniform, Schulterriemen, Breeches und Stiefeln blickt Leopold Figl entgegen. Fast unmerklich schüttelt der Agraringenieur den Kopf. Er kann sich an den Anblick nicht gewöhnen.
Der Nachwelt sind unzählige Fotos von Leopold Figl erhalten geblieben. Der Bundeskanzler und Außenminister ist in verschiedenen Lebensphasen zu sehen, staatstragend oder privat, oftmals im Trachtenanzug. Einige wenige Aufnahmen haben mit jenem jovialen Politiker, an den sich heute noch viele Österreicher erinnern, kaum etwas gemein. Sie zeigen einen Mann in einer grauen, mit Orden geschmückten Uniformjacke, das rombusförmige Pax-Zeichen am Ärmel. Es ist die Uniform der Niederösterreichischen Sturmscharen, deren Landesführer Leopold Figl war.
Anlässlich der Gründung der neuen, wie es in der zeitgenössischen Sprache heißt, Wehrformation, druckt der »Bauernbündler« Leitsätze aus ihrem Programm ab: »Das österreichische Volk, das durch Jahrhunderte als Bollwerk der christlich-deutschen Kultur gegen die Barbarei des Ostens wie kein anderer deutscher Volksstamm seine nationale Pflicht erfüllt hat, ist gegenwärtig durch den zersetzenden Bolschewismus des Ostens und den übertriebenen Nationalismus des Nordens am schwersten gefährdet. […] Die Sturmscharen wollen in diesem Sinne den österreichischen Staats- und Kulturgedanken vertreten. Die Niederösterreichischen Sturmscharen fordern die Durchdringung des gesamten öffentlichen Lebens mit katholischen Grundsätzen. […] Wir bekennen uns stolz als Deutsche und damit zur Schicksals- und Kulturgemeinschaft des gesamten deutschen Volkes. […] Wir wollen den wahren Volksstaat und die richtige, pflichtgemäße Einstellung des Staatsbürgers zum Volksganzen. Daher fordern wir eine starke Staatsgewalt; denn eine zügellose Demokratie führt zum Chaos. […] Zum Schutze unseres Vaterlandes erhalten und pflegen wir die Wehrhaftigkeit unseres Volkes.«5
In derselben Ausgabe berichtet die Zeitung des Niederösterreichischen Bauernbundes über die Antrittsrede des neuen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß und fordert: »Wir haben Bauern- und Volksinteressen mit Ernst zu vertreten. Rafft sich das Parlament zu dieser Arbeit nicht auf, versagt die heutige Art der Demokratie, dann heißt es halt einen anderen Weg gehen!«
Aus heutiger Sicht klingen diese Sätze fast prophetisch. Nicht einmal ein Jahr später, am 4. März 1933, führt eine Geschäftsordnungsdebatte im Parlament zum Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten. Der christlichsoziale Bundeskanzler Dollfuß weiß diesen Umstand geschickt zu nutzen. Die Regierung missbraucht das aus Kriegszeiten stammende Notverordnungsrecht, um ohne Volksvertretung regieren zu können. »Das Parlament hat sich selbst ausgeschaltet«, heißt es im regierungstreuen Lager. Viele Bürger bedauern diesen Umstand nicht oder nehmen ihn zumindest gleichgültig zur Kenntnis. Zu lange wurde das Parlament als nutzlose »Quatschbude« verunglimpft. Außerdem haben die meisten Menschen angesichts der wirtschaftlichen Not ohnehin andere Sorgen.
Neben der weit verbreiteten Ablehnung des Parlamentarismus sind politische Privatarmeen eine andere unheilvolle Zeiterscheinung. Zu Beginn der 1930er-Jahre stehen sich in Österreich rechtsgerichtete Heimwehrverbände und der linke Schutzbund, der seine Anhänger aus der Arbeiterschaft rekrutiert, bewaffnet und aggressiv gegenüber. Die »Ostmärkischen Sturmscharen« entwickeln sich aus einer Tiroler Jugendbewegung. Ihre Kleidung erinnert bewusst an die hechtgrauen Uniformen der k. u. k. Armee. Mit der Bezeichnung »ostmärkisch« soll auf das karolingische österreichische Kernland verwiesen werden. Dass wenige Jahre später in Hitlers Reich alles österreichische durch »ostmärkisch« ersetzt werden wird, weiß man noch nicht. Noch grüßt man seine Sturmscharkameraden zuversichtlich mit »Treue« und »Österreich«.
1932 übernimmt Leopold Figl die Führung der »Niederösterreichischen Sturmscharen«. Die politischen Gegner verspotten Figls Mannen und alle anderen Träger dieser Uniform ob ihrer besonders zur Schau gestellten Bindung an die katholische Kirche als »Herzjesuhusaren«, »Ölbergindianer« oder, besonders freundlich, »Tabernakelwanzen«. Juden werden in die Sturmscharen nicht aufgenommen.
Eine persönliche Einschätzung seiner Tätigkeit als »Niederösterreichischer Sturmscharführer« ist von Leopold Figl nicht überliefert, vermutlich hat ihn auch kein Journalist der Nachkriegszeit danach gefragt. Erhalten geblieben ist ein Schreiben von Figl an Bundeskanzler Schuschnigg vom 19. November 1936. In zeitgenössisch schwülstigen Ton heißt es: »Hochverehrter Herr Kanzler! In der Not des Vaterlandes hast Du die Sturmscharbewegung gegründet, als selbstlose und opferbereite Kameradschaft ehrlicher Katholiken und absolut bekenntnistreuer Österreicher. […] Ich durfte in der Bewegung durch Dein Vertrauen Landesführer von Niederösterreich sein. Ich danke dir […], dass ich mitarbeiten, mitkämpfen und Verantwortung tragen durfte. Ich gelobe, dass ich auch in Zukunft in absoluter Dollfuß-Treue Dir, Kanzler und Führer Österreichs, bedingungslos folgen werde.«6
Es ist schwer zu sagen, ob aus diesem kurzen Brief etwas über die tatsächliche Einstellung des späteren Kanzlers gewonnen werden kann. Der übertrieben respektvolle Ton ist sicherlich dem Stil der Zeit geschuldet. Abzüglich des servilen Duktus des Schreibens, bleibt eine Vorstellung bestehen: In der Stunde der Not müssen alle aufrechten Österreicher bereit sein, Opfer für das Vaterland zu erbringen und ihren Führern treu zu folgen. Dieser Gedanke mag Leopold Figl in den beginnenden 1930er-Jahren geleitet haben. Es ist eine Einstellung, die Millionen Österreicher geteilt haben. Die unterschiedliche Einschätzung, welchen Führern man Treue schulde, wird im Jahr 1934 zur Katastrophe des Bürgerkrieges führen.