Читать книгу Leopold Figl - Birgit Mosser-Schuöcker - Страница 9
Ein Traum wird wahr: Juni 1926
ОглавлениеDer junge Mann hat es eilig. Ausgerechnet heute hat der Ringwagen Verspätung gehabt; aus der kalkulierten halben Stunde vom 1. Bezirk in die Josefstadt sind 40 Minuten geworden. Leopold Figl beschleunigt seine Schritte. Gerade er, sicherlich einer der jüngsten Gäste, darf nicht zu spät kommen. Heute wird im Gasthaus „Grünes Tor“ in der Lerchenfelder Straße die Gründung des Niederösterreichischen Bauernbundes vor 20 Jahren gefeiert.
Da war ich noch nicht einmal in der Schule, überlegt der Bauernsohn kurz. Umso mehr freut es den Studenten, dass die Honoratioren an ihn gedacht haben.
Sogar eine Rede soll er halten, als Vertreter der Jugend sozusagen. Leopold Figl hat sich viel Mühe mit der Vorbereitung gegeben, auf seiner Bude im Studentenheim daran gefeilt und sie eingeübt. Die Herren sollen einen guten Eindruck von ihm haben.
Josef Stöckler, der Obmann des Niederösterreichischen Bauernbundes, ist ein beeindruckender Mann. Der 24-jährige Figl kennt den Bauernpolitiker schon seit er ein kleiner Bub war. Als der Vater noch gelebt hat, ist Stöckler hin und wieder auf den Hof gekommen, um ein Pferd zu kaufen. Ein großer Mann mit buschigem Schnurrbart und ordentlich gezogenem Scheitel, der mit dem Vater wichtige Dinge besprach. Der kleine Poldl wich ihnen nicht von der Seite und versuchte zu verstehen, was die Erwachsenen besprachen. Heute wird er selbst sprechen, und der Bauernbundobmann wird ihm, dem Studenten, zuhören.
Wenige Meter vor dem Lokal bleibt der junge Mann stehen, richtet sich den grünen Kragen seines Trachtenanzuges zurecht und streicht sich ordnend durch die Haare. So viel Zeit muss sein. Die Tür des Gasthauses steht offen, Stimmengemurmel dringt auf die Straße. Viele Bauern haben die Gelegenheit zu einer Fahrt in ihre Landeshauptstadt genutzt. Als sich Leopold Figl einen Weg durch den Saal bahnt, sieht er nicht wenige bekannte Gesichter. „Servas, Poldl!“, grüßt ein entfernter Verwandter und klopft ihm väterlich auf die Schulter. Andere nicken ihm freundlich zu. Der Poldl ist beliebt bei den Älteren, er gilt als fleißig und hilfsbereit. Aus dem Buben wird einmal etwas werden, da ist man sicher.
Als sich der Student der Festtafel nähert, bemerkt er, dass der Bundeskanzler neben dem Bauernbundobmann sitzt. Nervosität steigt in ihm auf. Mit der Anwesenheit des Prälaten hat Leopold Figl nicht gerechnet. Ignaz Seipl ist eine respekteinflößende Erscheinung: Kahlköpfig, immer dunkel gekleidet, wirft er durch eine randlose Brille strenge Blicke auf seine Mitmenschen. Sein Urteil kann vernichten.
Der Agrarstudent atmet tief durch. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Er grüßt die hohen Herren höflich und nimmt Platz. Leopold Figl wird seine Rede halten. Er wird den Eltern keine Schande machen, das hat er sich fest vorgenommen.
Die Rede des 24-Jährigen findet Anklang. Sie gefällt so gut, dass der junge Ruster eingeladen wird, mit den Älteren zu Mittag zu essen. Man erkundigt sich, wie lange Figl noch für sein Studium brauchen werde. »Eineinhalb Jahre«, antwortet der Student. »Du musst Bauernbundsekretär werden!«, heißt es. Leopold Figl hat einmal selbst über den Beginn seines Politikerlebens erzählt: »Na, und ich bin dagesessen mit geschwellter Brust, und ich habe die vielen Verwandten und Freunde aus der Heimat gesehen, die alle applaudierten und sich freuten, dass der Bua doch was kann und nun mit den großen Politikern beim Mittagessen sitzen durfte. Und ich hab gesagt: ›Gut, ich werde mich hineinknien und sehr fleißig studieren.‹«2
Ein Jahr später, die Staatsprüfung ist mittlerweile abgelegt, meldet sich der Direktor des Niederösterreichischen Bauernbundes, Josef Sturm, bei Figl und überredet ihn zu einer zweiwöchigen Vertretungsarbeit im verwaisten Büro. Nach seiner Rückkehr will der Direktor nichts davon hören, dass Figl wieder studieren geht. Doch der junge Mann zögert. Er will kein »verbummelter« Student sein.
Dollfuß, der seine Karriere ebenfalls als Bauernbundsekretär begonnen hat, rät ihm abends im Studentenheim zu: »Da schau, jetzt brauch ma an Sekretär, und des muaßt bleiben. Ob du dein Diplom morgen machst oder übermorgen, is wurscht!«3 Engelbert Dollfuß und Leopold Figl ahnen bei diesem abendlichen Gespräch nicht, dass sie es beide zum Bundeskanzler bringen werden. Sie werden das kollektive Gedächtnis der Österreicher prägen, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise: Dollfuß, der autoritäre Kanzler des Ständestaates, der 1934 im sogenannten Juliputsch von Nationalsozialisten ermordet wird, und Leopold Figl, der den Österreichern 1945 Hoffnung und 1955 den lang ersehnten Staatsvertrag geben kann.
Jedenfalls nimmt Leopold Figl den Rat des zehn Jahre Älteren an, wird Bauernbund-Sekretär und 1931 stellvertretender Bauernbunddirektor. Zuerst beendet er noch – mit Hilfe eines vierteljährigen Urlaubs – sein Studium.
Als Student der Universität für Bodenkultur wohnt er, wie könnte es anders sein, in einem katholischen Studentenheim in der Habsburgergasse. Es wird vom späteren Kardinal Innitzer geleitet. Viel Zeit verbringt der junge Figl auch auf der Bude der Cartellverband-Verbindung »Norica« in der Schwarzspanierstraße. Er hat dort viele Freunde, die ebenfalls zuerst in St. Pölten das Gymnasium besucht haben und dort schon Mitglied der »Nibelungia«, einer Verbindung des Mittelschülerkartellverbandes (MKV), waren. Für einen jungen Bauernsohn, der plötzlich in der Großstadt lebt, ist die Verbindung nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, sondern auch eine Art Familienersatz. Darüber hinaus dient der Cartellverband der Anbahnung von Lebensfreundschaften, die einem jungen Mann so manche Türe öffnen. Der »Norica« entstammen zahlreiche Politikerpersönlichkeiten wie beispielsweise Julius Raab, Hermann Withalm, Alois Mock und Michael Spindelegger. Leopold Figl wird auch später, als bekannter Politiker, noch gerne das weiß-blau-goldene Band und die hellblaue Mütze tragen.
In einem Gespräch mit dem legendären Heinz Fischer-Karwin stellt Leopold Figl den Zusammenhang zwischen seiner Herkunft und seiner Politikerlaufbahn her: »So hab ich mir gedacht, als studierter Bauernbua könnte man in den Bauernbund hineingehen und die Alten ablösen. Wenn man schon studiert, dann soll man dem Stand, dem man entstammt, auch im öffentlichen Leben dienen. Mein Ziel war es von Anfang an, Bauernbund-direktor von Niederösterreich zu werden.«4
1933 ist es so weit: Der erst 31-jährige Agraringenieur wird zum Bauernbunddirektor ernannt. Eine glanzvolle Karriere scheint vor ihm zu liegen. Auch privat ist sein Glück perfekt: Leopold Figl ist seit drei Jahren mit Hilde Hemala verheiratet und Vater eines kleinen Buben.
Doch das Unheil, das diese und Millionen anderer Familien in Europa bedrohen wird, beginnt sich schon zusammenzubrauen. 1933 wird Adolf Hitler Reichskanzler des Deutschen Reiches. Den sechsten Geburtstag seines Sohnes wird der vormalige Bauernbunddirektor im KZ Dachau verbringen.