Читать книгу Leopold Figl - Birgit Mosser-Schuöcker - Страница 17
Die Bestrafung: Frühling 1938
ОглавлениеAuf dem Appellplatz herrscht völlige Stille. Vergessen sind Erschöpfung und Hunger. Die Gefangenen starren auf den verhassten Prügelbock. Es ist wieder so weit. Wen es wohl heute treffen wird? Sie stehen und stehen. Endlich erscheint der Kommandant. Hans Loritz ist guter Dinge. Er wirft einen kurzen Blick auf seine Unterlagen. „Schutzhäftling Nr. 13.897, vortreten!“ Eine hagere Gestalt löst sich aus der Menge. „Jessas, der Figl!“, raunt einer der Österreicher.
Hans Loritz hat es nicht eilig. Eingehend mustert er den Verurteilten. Ein schmächtiger Mann, noch relativ jung. Brillenträger. Vermutlich ein Intellektueller. Wird er schreien? Wird er es schaffen, sich den Schmerz zu verbeißen? Man darf sich von der Statur eines Mannes nicht täuschen lassen, das weiß der KZ-Kommandant längst. Manchmal sind gerade die kleinen Drahtigen besonders zäh. Der Gefangene steht vorschriftsmäßig vor ihm; die Hände an der Hosennaht, die Mütze in der Hand. Er lässt keine Gemütsbewegung erkennen. Hans Loritz macht einige Schritte vorwärts, bis er dem Verurteilten ganz nahe ist. Ihre Blicke treffen sich. Der SS-Mann sucht die Angst in den Augen seines Opfers.
Leopold Figl spürt das Lauern des Lagerkommandanten fast körperlich. Keine Schwäche zeigen. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Der Gefangene weiß genau, was ihm bevorsteht. Die SS zwingt die Häftlinge nicht ohne Grund, die Bestrafung ihrer Kameraden mitanzusehen. Das Prügeln eines Mannes wird für Hunderte seiner Mitgefangenen zur seelischen Qual. Er sieht den armen Teufel noch vor sich, gefesselt und wehrlos. Er hört die Schreie, sieht das Blut. Fast wäre er bei dem Anblick umgekippt, wenn ihn nicht zwei Kameraden aufgefangen hätten. Und jetzt ist er selbst dran. Leopold Figl wird „über den Bock gehen“, wie die Häftlinge sagen.
Hans Loritz hat genug gesehen. Verstockt, wie die meisten Politischen. Eine kleine Abreibung wird dem Mann gut tun. Wer nicht hören will, muss eben fühlen. Der SS-Mann verliest den „Straftenor“. Schließlich muss alles seine Ordnung haben.
Die Worte prasseln auf den Gefangenen ein. Ein Schauspiel, um den Anschein der Rechtmäßigkeit zu wahren. Um das demütigende Spektakel in die Länge zu ziehen. Die schnarrende Stimme des Kommandanten scheint von weit her zu kommen. Er sieht, wie sich der Mund des SS-Mannes bewegt, aber er kann die Worte kaum unterscheiden. Leopold Figl kennt die Strafe auch so: 25 Schläge, weil er bei der Arbeit gesprochen hat. Über die Heimat, über Österreich. Worüber sie geredet hätten, hat ihn der Posten angeherrscht. Er hätte ausweichen können, lügen können. Aber alles in Leopold Figl hat sich dagegen gesträubt, aus Angst, den Namen seiner Heimat zu verleugnen. Jetzt wird er dafür büßen.
„Blockführer, tun Sie ihre Pflicht!“, kommandiert Loritz. Wie in Trance geht der Verurteilte auf den Bock zu. Die SS-Männer ziehen ihre Uniformhemden aus. Mit bloßem Oberkörper lässt es sich besser zuschlagen. Es sind junge, kräftige Burschen. Routiniert fesseln sie den Delinquenten an das Holzgestell. Dann nehmen sie die Ochsenziemer aus einem Wasserbecken, in dem sie eingeweicht waren.
Das dunkle Holz liegt kühl und glatt unter seiner Wange. Es stinkt nach Schweiß und Blut. Leopold Figls Blick ist auf einen der Schläger gerichtet. Wie jung er ist, denkt der Gefangene flüchtig. Dann explodiert die Welt in einer Welle aus Schmerz.
Der Ex-Häftling Rudolf Kalmar beschreibt, wie die Prügelstrafe in Dachau vollzogen wurde: »Der Ausgepeitschte hatte laut zu zählen. Von eins bis 25. Wenn er es versäumte, bekam er zusätzliche Prügel. Nach ein paar Hieben zerrissen die Hosen. Die schmiegsamen Peitschen schnitten wie Messer den Stoff auseinander. Das Leder fraß sich in die Haut und in das Fleisch. Der Gepeinigte schrie auf, so oft er getroffen wurde. Er biss die Zähne zusammen und stöhnte. Oder er verlor das Bewusstsein und wimmerte nur mehr, wenn ihn der neue Schmerz immer wieder aus der Dämmerung riss. Nach 25 Hieben stießen sie ihn vom Bock. Er hatte, die Hände an der Hosennaht, dem Schutzhaftlagerführer den Vollzug seiner Strafe zu melden und wurde anschließend mit Jod übergossen.«23
»Die armseligen Hinterteile der Gefolterten sind blutige Fleischfetzen«, erinnert sich Maximilian Reich, der einer solchen Schinderei beiwohnen musste.24 Es geht nicht nur um das Zufügen körperlicher Schmerzen, sondern auch und vor allem um die Demütigung der Regimegegner. Das »über den Bock gehen« lässt den Geprügelten und seine zusehenden Kameraden ihre absolute Ohnmacht in grausamer Weise spüren. Zusätzlich verletzt das entwürdigende Ritual das Schamgefühl des Bestraften. Dieses Ausgeliefertsein ist für jeden Gefangen quälend. Für Menschen wie Leopold Figl, Wochen zuvor noch hoch respektiert, mag es noch schwerer zu ertragen gewesen sein.
Seine Kameraden können dem ehemaligen Reichsbauernbunddirektor nicht helfen. Die nächsten 45 Tage wird Leopold Figl alleine sein, ganz alleine. Zusätzlich zur Prügelstrafe hat er sechs Wochen Bunker ausgefasst. Das bedeutet Dunkelhaft bei hartem Lager, Wasser, Brot und nur jeden vierten Tag die ohnehin magere Lagerkost.
Auch Figls Leidensgenossen und lebenslangen Freund Franz Olah haben die Nazis in den Bunker gesperrt: »Vor allem suchte man nach Wegen, in einer solchen Situation nicht verrückt zu werden. Wer Derartiges nicht selbst erlebt hat, kann eine solche Lage nicht beurteilen. Ich habe damals mein ganzes Leben an mir vorüberziehen lassen, systematisch, Tag für Tag, Tag und Nacht. Dabei wird man natürlich von der Frage gequält, ob man immer richtig gehandelt hat.«25
Es ist das Erleben gleichartiger Ausnahmesituationen, das österreichische Politiker der Stunde Null später verbinden wird. »Schwarze« wie Lois Weinberger, Felix Hurdes und Leopold Figl oder »Rote« wie Franz Olah haben angesichts eines mitleidlosen Feindes gegen dieselben Ängste zu kämpfen. Wer überleben will, darf weder Selbstachtung noch Überlebenswillen verlieren. Angesichts eines allmächtigen Widersachers nicht aufzugeben, das lernt Leopold Figl in seiner KZ-Zeit. Ein Vermögen, das dem späteren Bundeskanzler und Außenminister einige Jahre später helfen wird, auch in scheinbar ausweglosen Situationen eine Lösung zu finden. Was es ihn gekostet hat, körperlich und seelisch, danach wird auch nach dem Krieg kaum jemand fragen. Wie viele andere dieser Generation will Leopold Figl auch nicht gefragt werden. »Red ma net darüber!«, wird seine Standardantwort sein, wenn er nach den Spätfolgen des KZ gefragt wird.
»Wer dies alles überstehen konnte, trug natürlich seine Wunden davon, mancher mehr, mancher weniger. […] Aber es stellte sich heraus, dass die Schwächeren die Tortur oftmals besser überstehen konnten als die allzu Kräftigen«, urteilt Franz Olah.26
Körperlich wird Leopold Figl aus jener Zeit Gewebeschäden davontragen, die auch viele Jahre später noch zu schmerzenden Geschwüren führen. Rudolf Kalmar meint sogar, dass Figls früher Tod auf diese Verletzungen zurückzuführen sei. Bei der Prügelstrafe seien die Häftlinge, obwohl es verboten war, immer wieder auch in der Nierengegend getroffen worden. Dabei dürften Figl Stofffetzen seiner Montur in die Haut gedrungen seien.27
25 Schläge und sechs Wochen Bunker sind in Dachau nicht genug, um das Aussprechen des verpönten Wortes Österreich zu ahnden: Als zusätzliche Strafe verschwindet Leopold Figl danach ein halbes Jahr im Strafblock. Dort lebt man im Lager hinter einem Stacheldrahtverhau, abgeschnitten von den Kameraden. Nur zum Arbeitseinsatz darf das Gefängnis im Gefängnis verlassen werden. Statt alle zwei Wochen, dürfen die Gefangenen hier nur ein Mal im Vierteljahr einen Brief schreiben oder empfangen.
Die »Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager« vom 1. Oktober 1933 enthält eine ganzen Katalog von Strafen, abgestuft nach dem Grad an Leid, das sie verursachen: Essensentzug, Postsperre, schwere Strafarbeit in eigenen Strafkommandos, Bunker, körperliche Züchtigungen wie der »Bock« oder das berüchtigte »Pfahlhängen« (das Hängen an den nach hinten gefesselten Händen an einem Pfahl) und schließlich die Todesstrafe. Das Amtsdeutsch des von KZ-Inspektor Theodor Eicke verfassten Dokuments lässt nichts von den Ängsten und körperlichen Qualen der Bestraften erahnen. Theoretisch soll die Diszi plinarordnung Willkür verhindern. So heißt es in der Dienstvorschrift für Begleitposten und Gefangenenbewachung: »Den Begleitposten obliegt die Bewachung der Gefangenen bei der Arbeit. Sie richten ihr Augenmerk auf das Verhalten derselben bei der Arbeit. Träge Gefangene sind zur Arbeit anzuhalten. Streng untersagt ist jedoch die Misshandlung oder Schikane. Ist ein Gefangener bei der Arbeit sichtlich nachlässig und faul oder gibt freche Antworten, dann stellt der Posten den Namen fest. Nach Dienstschluss erstattet er Meldung. Selbsthilfe bedeutet Mangel an Disziplin.«28
So weit die Theorie. Tatsächlich besteht das »zur Arbeit anhalten« in Schlägen oder Beschimpfungen. Außerdem liegt das Melden oder eben Nichtmelden allein in der Entscheidungsgewalt des Postens, womit jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet ist.
Als Leopold Figl nach sechs Monaten aus dem Isolierblock entlassen wird, ist er ein körperliches Wrack. Er ist so abgemagert und geschwächt, dass er die harte Arbeit des Mauerkommandos, dem er ursprünglich zugeteilt war, nicht durchstehen würde. Jetzt macht es sich bezahlt, dass er Kameraden und Freunde hat, denen er geholfen hat. Nun wird ihm geholfen: Die Planung der neuen SS-Unterkünfte, neuer Baracken und eines Bordells obliegt einem jungen österreichischen Bauingenieur. An ihn wenden sich die Freunde: »Du, der Figl ist doch Ingenieur .« Tatsächlich wird Leopold Figl der Bauplanung zugeteilt. Dass der Niederösterreicher Agrarwesen studiert hat, stört niemanden. Allerdings kommen ihm bei seiner neuen Aufgabe seine Vermessungskenntnisse zugute. Alsbald sieht man ihn mit einer rotweißen Stange geodätische Daten aufnehmen. Geschwächt, wie der »Schutzhäftling« ist, fällt ihm vermutlich auch diese vergleichsweise leichte Arbeit schwer. Aber er kann sich endlich wieder innerhalb der Lagergrenzen frei bewegen, alle zwei Wochen einen Brief nach Hause schreiben und mit seinen Freunden sprechen. Leopold Figl kann neue Hoffnung schöpfen. Und Hoffnung ist im Lager überlebenswichtig.
Kraft schöpft Leopold Figl auch aus seinem Glauben. Als Bauernbub ist er in einem Umfeld aufgewachsen, in dem der sonntägliche Kirchenbesuch und das Einhalten christlicher Feiertage eine Selbstverständlichkeit waren. Anders als für andere christlich-soziale Politiker jener Zeit ist die katholische Kirche für ihn mehr als nur ein Alliierter im Kampf der Ideologien. Leopold Figl glaubt an Gott und lebt diesen Glauben auch – sogar im KZ. In einer unbelegten Baracke wird eine heimliche Kapelle eingerichtet. Ein Tisch dient als Altar, aus Ästen wird ein Kreuz gefertigt. Wenn die Christen heimlich beten, stehen die »Roten« draußen Schmiere. Umgekehrt halten die »Schwarzen« Wache, wenn bei den »Sozis« oder Kommunisten eine verbotene Feier ansteht.29 Unter den Augen der SS entsteht Kameradschaft. In manchen Fällen, wie bei Figl und Olah, lebenslange Freundschaft.
Obwohl es streng verboten ist, werden in Dachau die Toten entsprechend ihrer Gesinnung verabschiedet. Die Freunde schleichen sich in die Totenkammer und beten, oder sie heben die Hand mit der geballten Faust. Der Verstorbene bemerkt nichts mehr von dem Risiko, das die Kameraden mit einem solchen, verbotenen Ritual eingehen. Aber die geheimen Treffen, so kurz sie auch sein mögen, geben den Lebenden ein wichtiges Gemeinschaftsgefühl: Wir sind nicht zu willenlosen Objekten der SS degradiert. Wir haben eine Gesinnung, die wir nicht aufgeben.
Seinen Glauben wird Leopold Figl auch später, in der Freiheit, nicht aufgeben. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht, als Kanzler und Außenminister, wird er vor einer schwierigen Entscheidung darum beten, das Richtige zu tun. Im KZ, wo Gewalt und Tod allgegenwärtig sind, verhilft dem Häftling vermutlich seine Religiosität zu innerer Stärke. Wer an das ewige Leben glaubt, kann sein irdisches Leben leichter einsetzen.
Rudolf Kalmar erlebt das erste Ostern hinter Stacheldraht mit Leopold Figl: »Wir standen elend und trostlos auf dem Appellplatz und in den Baracken herum. Leopold Figl suchte an diesem Morgen jeden aus unserem Kreis auf und gab ihm die Hand. ›Vergiss nicht, der Herr ist erstanden.‹ – ›Der Herr ist wahrlich erstanden‹, gaben ihm die Freunde die Osterbotschaft dankbar zurück. Er antwortete: ›Amen und Österreich.‹«30
Auch wenn es für zeitgenössische Ohren kitschig klingen sollte, so umreißen diese beiden Worte die Lebensthemen des späteren Bundeskanzlers: ein bäuerlich geprägter Glaube an Gott und eine unbeirrte Liebe zu seiner Heimat.
Als sich Leopold Figl und seine Kameraden am Ostersonntag 1938 auf dem Appellplatz die Hände schütteln, ahnen sie nicht, dass eine Zeit kommen wird, in der sie sich nach Dachau zurücksehnen werden.