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Der Beginn einer Freundschaft: November 1918

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So viele Menschen hat der Schüler noch nie auf den Straßen von St. Pölten gesehen. Seit drei Jahren besucht Leopold Figl hier das Gymnasium. Eigentlich wird auch am Samstag unterrichtet, doch heute ist ein besonderer Tag. Eine Sappeur-Kompanie wird von der Front zurückerwartet. Heinrich will seinen großen Bruder Julius empfangen, der 16-jährige Leopold begleitet ihn. Frauen, Kinder und alte Männer drängen sich auf den holprigen Pflastersteinen und warten. Die meisten von ihnen sind schlecht ernährt, tragen verschlissene Kleidung und sehen älter aus, als sie vermutlich sind. Die Stimmung ist angespannt und hoffnungsvoll zugleich. Wird der Ehemann, der Vater, der Bruder unter den Heimkehrern sein?

„Da kommen sie!“, schreit Heinrich glücklich. „Schau, Poldl! Der Julius führt sie an!“

Julius Raab, der seinen Männern vorausreitet, ist auch nach vier Jahren Krieg und in einer verschlissenen Uniform eine imposante Erscheinung. Die Soldaten gehorchen ihm, auch wenn sein Offiziersrang seit dem Waffenstillstand an Bedeutung verloren hat. Der Oberleutnant führt den Rest seiner Kompanie zum elterlichen Bauhof. Aufgeregt beobachten Heinrich und Leopold, wie die Soldaten ihre Waffen in einem absperrbaren Raum verstauen. Wer kann, tauscht seine hechtgraue Uniform gegen Zivilkleidung. Nach und nach verabschieden sich die Männer von ihrem Oberleutnant. Die gemeinsam überlebten Isonzo-Schlachten und der lange Marsch in die Heimat verbinden. Der Offizier und „seine“ Soldaten wünschen sich gegenseitig Glück und wissen, dass sie es brauchen werden. Zwar schweigen die Waffen, doch bis zum Frieden ist es noch ein langer Weg.

Die beiden Buben weichen den Erwachsenen nicht von der Seite. Schließlich will Julius Raab seine Heimkehr mit einigen Freunden im Gasthaus feiern. Endlich kommt Heinrich dazu, seinen Freund vorzustellen.

„Alle sagen Poldl zu mir!“, sagt der Gymnasiast etwas schüchtern.

„Na, dann kommst halt mit, Poldl!“, antwortet der Ältere. Später wird viel über gewonnene Schlachten, vergebene Siege, den verlorenen Krieg und über Österreich gesprochen. Die beiden Schüler, die ihr Alter davor bewahrt hat, kämpfen zu müssen, hören mit roten Ohren und offenen Mündern zu. Der 16-jährige Poldl ahnt nicht, dass die Freundschaft zu Julius Raab sein Leben prägen wird.

Der 27-jährige Julius Raab kehrt in eine Heimat zurück, die sich – wie er es selbst einmal beschrieben hat – in völliger Auflösung befindet. Nur 20 Tage zuvor, am 3. November 1918, ist der Waffenstillstand zwischen der Entente und Österreich-Ungarn unterzeichnet worden. Die »Neue Freie Presse« berichtet in ihrer Ausgabe vom 24. November 1918, dass die Personendemobilisierung nunmehr beendet sei. An allen Ecken und Enden bemächtigen sich fremde Soldaten österreichischen Gebiets: An dem Tag, an dem der spätere Bundeskanzler heimkehrt, besetzt serbisches Militär Kärnten und rücken italienische Truppen nach Innsbruck vor. Das Gebiet, das später Südtirol genannt werden wird, ist bereits seit Wochen italienisch besetzt. Marburg ist in serbischer Hand. In St. Pölten, der Schulstadt Leopold Figls, müssen die Menschen keinen Einmarsch fremder Soldaten fürchten. Doch auch hier kämpft man mit riesigen Problemen: Ein Fünftel der St. Pöltner, die für Gott, Kaiser und Vaterland in den Krieg gezogen sind, kehrt nicht mehr in die Heimat zurück. Soldatenräte haben die Stadtverwaltung übernommen. Die Ernährungslage ist katastrophal, viele Menschen hungern.

Leopold Figl ist in jenen bitteren Jahren sicherlich dankbar, aus einer Bauernfamilie zu stammen. Der Gymnasiast kommt aus Rust im Tullnerfeld, wo seine Mutter gemeinsam mit den acht Geschwistern einen ansehnlichen Hof bewirtschaftet. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Familie Figl im Tullnerfeld ansässig. »Seit Anno Domini 1752 sitzen wir Figl auf dem Bauernhaus Nr. 37 in Rust, Bezirk Tulln. Dass es immer so bleibe, das walte Gott!«, kann man im »Goldenen Ehrenbuch der niederösterreichischen Bauernschaft« nachlesen. Leopold Figl ist stolz auf seine traditionsreiche Familie. Das Gemälde des 1702 geborenen Balthasar Figl und seiner Gattin Juliane wird auch in der »Kanzler-Wohnung« in der Peter-Jordan-Straße im 19. Bezirk hängen. Balthasar hält den sogenannten Roßstock in der Hand, das Zeichen des freien Bauern.

Genau 200 Jahre nach ihm kommt Leopold Figl zur Welt. Als er zwölf Jahre alt ist, stirbt sein Vater im Alter von 44 Jahren. Die Mutter, die »Figlin«, wie sie im Ort respektvoll genannt wird, ist eine Frau, die Gehorsam einfordert. Eine Witwe mit neun Kindern, die im Jahr, als der Erste Weltkrieg ausbricht, plötzlich auf sich allein gestellt ist, muss sich durchsetzen können. Josefa Figl führt ein Leben, dessen Belastungen man heute kaum nachempfinden kann: Sie muss mit dem plötzlichen Verlust des Familienoberhauptes fertigwerden, bringt neun Kinder durch den Krieg und führt einen großen Hof. Für Zärtlichkeiten oder Freizeit mit den Kindern bleibt kaum Zeit.

Der Alltag des kleinen Poldl wird vor allem durch Pflichten bestimmt: Lernen für die Schule, Arbeit auf dem Feld oder auf dem Hof, Kirchgänge. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – das gilt zu dieser Zeit auch für Kinder. Leopold ist ein aufgeweckter kleiner Bursche. Nach sechs Jahren Volksschule rät der Pfarrer, den Poldl aufs Gymnasium nach St. Pölten zu schicken. Vermutlich denkt er an eine Karriere als Seelsorger. Eigentlich ist Leopolds älterer Bruder Josef als »Studierter« vorgesehen: Er besucht die Bürgerschule in Neulengbach. Schließlich folgt die Mutter dem geistlichen Ratschlag, und der schmächtige 13-Jährige wird aufs Gymnasium geschickt. Josef muss wieder nach Hause kommen; zwei Söhne kann Josefa Figl auf dem Hof nicht entbehren.

1915, als Leopold Figl seine Gymnasiallaufbahn startet, befindet sich die Monarchie im zweiten Kriegsjahr. Die Köpfe der Buben sind voll von Propaganda und heldenhaften Geschichten über Schlachten und Siege. So geht auch der 13-jährige Ruster mit dem Gedanken an eine militärische Laufbahn in die Stadt: »Es war ja Krieg, und da hat man gesagt: mach das Gymnasium, dann kannst du nachher gleich Leutnant werden. Mit dieser Begeisterung bin ich nach St. Pölten gegangen.«1

Trotz der räumlichen Trennung bleibt der Gymnasiast seiner Familie eng verbunden: Wann immer es Geld und Zeit zulassen, fährt er nach Hause und hilft selbstverständlich bei allen Arbeiten auf dem Hof mit. Erst danach ist Zeit für Radtouren oder Turnen. Die starke Beziehung zu seinen Geschwistern und vor allem zur Mutter wird Leopold Figl auch später aufrechterhalten. Das Wort von Josefa Figl hat auch für den Bundeskanzler der Republik Österreich noch Gewicht. Wenn Leopold Figl einen Rat braucht, fährt er nach Rust und vertraut der Meinung jener Frau, die ihm und seinen acht Geschwistern trotz Krieg und Krisen eine behütete Kindheit ermöglicht hat.

Leopold Figl

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