Читать книгу Leopold Figl - Birgit Mosser-Schuöcker - Страница 13

Ein sonntäglicher Besuch: 6. März 1938

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Der Applaus klingt noch in seinen Ohren. Nur ungern hat Leopold Figl die Versammlung, auf der er gesprochen hat, verlassen. In Loosdorf hat ihn ein Anruf des Kanzlers erreicht: Er soll zurück nach Wien kommen. Das kann nur bedeuten, dass sich die Situation weiter zugespitzt hat. Seit Kurt von Schuschnigg vom Obersalzberg zurückgekehrt ist, wissen es alle Vertrauten des Kanzlers: Adolf Hitler wird nicht zögern, seine Macht auch gegen seine Heimat auszuspielen. Beim Gedanken an den demütigenden Besuch des österreichischen Kanzlers beim „Führer“ verhärten sich die Gesichtszüge Leopold Figls. Man darf nicht nachgeben, man darf den Nazis Österreich nicht kampflos überlassen. Das muss vor allem der Jugend klargemacht werden. Deshalb versucht er, möglichst oft zur Bevölkerung zu sprechen, wie heute in Loosdorf. Der Reichsbauernführer weiß, dass viele schon angesteckt sind vom „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“-Taumel. Aber warnen, denkt er trotzig, muss man doch. Auch er selbst wurde schon gewarnt: Er solle nicht gar so wettern gegen die Nazis. Wer weiß, was noch kommt. Doch irgendetwas in Leopold Figl weigert sich, diesem gut gemeinten Rat zu folgen.

Das Auto wird langsamer, Rust ist erreicht. Eine Schar bloßfüßiger Buben in Lederhosen trabt neben der schwarzen Limousine her. Trotz aller Anspannung muss der Politiker lächeln. Modernisierung hin oder her, ein Auto ist in seinem kleinen Heimatort immer noch eine Seltenheit und damit eine Sensation. Der Fahrer hält vor dem Figl’schen Hof. Die Mutter kommt ihm entgegen, sie muss das Auto gehört haben. Forschend betrachtet Josefa Figl ihr drittgeborenes Kind. Ob etwas passiert ist, dass ihr der Sohn einen so überraschenden Besuch abstattet? Die Rusterin weiß, dass ihr „Poldl“ ein viel beschäftigter Mann ist.

„Na, komm erst einmal herein!“, sagt sie und zieht ihren Sohn in die Küche. „Ich richt dir was her, du bist ja ganz schmal geworden!“

Während sie sich am Herd zu schaffen macht, betrachtet Leopold Figl das faltige Gesicht seiner Mutter. 65 ist die Mutter mittlerweile, und man sieht ihr das Alter auch an. Sie hat ihr ganzes Leben schwer gearbeitet; zuerst für den Vater, dann für die eigene Familie. „Ihrem Fleiß habe ich alles zu verdanken. Das Gymnasium, das Studium, den Beruf“, geht es Leopold Figl durch den Kopf.

Josefa Figl stellt einen dampfenden Teller auf den großen Holztisch und reißt ihren Sohn damit aus den Gedanken. „So, Poldl, und jetzt erzähl, was du auf dem Herzen hast!“

Als Leopold Figl den Hof wenig später verlässt, ahnt er nicht, dass dies der letzte Besuch für fünf lange, bittere Jahre gewesen ist. Schon längst steht der Reichsbauernbunddirektor auf der schwarzen Liste der Nazis für den Fall ihrer Machtübernahme in Österreich. Durch Reden wie jene, die er am 6. März 1938 hält, hat er sich den Hitler-Anhängern verhasst gemacht.

»Den Nationalsozialisten geht es nicht um eure blauen Augen und eure blonden Haare. Es geht ihnen um unsere Wälder, denn sie brauchen Holz. Es geht ihnen um unseren Erzberg, denn sie brauchen Eisen. Es geht ihnen um unser Gold und um unsere Devisenschätze. Wenn ihr dem Nationalsozialismus huldigt, dann seid ihr nächstes Jahr im Krieg. Und wer von euch noch heimkommt, das weiß ich nicht!«11

Worte, die sich auf tragische Weise bewahrheiten werden.

Der 6. März ist ein langer Tag für Leopold Figl. Nach seiner Ansprache in Loosdorf, dem Kurz-Besuch bei seiner Mutter in Rust und einer Besprechung im Kanzleramt sitzt er noch mit Freunden in seiner Wohnung in der Kundmanngasse zusammen. In der holzgetäfelten Bauernstube, die Figl eigens für seine Wohnung anfertigen ließ, drängt man sich bis spät in die Nacht um den wuchtigen Holztisch und spricht über die Heimat. Die Regierung steht mit dem Rücken zur Wand, das wissen alle Anwesenden. Auch Julius Raab, der väterliche Freund aus der Gymnasialzeit, ist dabei. Der Sohn eines Baumeisters wurde vor Kurzem zum Handelsminister ernannt. Die Stimmung ist gedrückt. Was wird werden? Die Befürchtungen, die Vermutungen gehen auseinander. In einem sind sich die Männer einig: Österreich muss weiterleben. Julius Raab, der gerne dichtet, fasst in Reimform, was wohl viele der Anwesenden an diesem Abend fühlen:

»Am Anfang des März

da geht es um Österreich.

Wir bleiben die alten fürs Heimatreich.

Mögen viele sich drehen,

mögen manche sich neigen,

mag alles vergehen,

Österreich muss bleiben.

Rot-weiß-rot bis in den Tod

ist nicht nur ein schales Wort,

ist unser Sinn, ist unser Hort.

Ist Österreich nun, für das wir stehen,

ist die Heimat, für die wir leben.«

Es ist der letzte Eintrag in das Figl’sche-Gästebuch für lange Zeit. Der Hausherr wird in den nächsten Jahren keine Gelegenheit haben, Gäste zu empfangen.

Auch wenn es spät wird an jenem Sonntagabend, am nächsten Morgen muss jeder wieder auf seinem Posten sein. Es sind hektische Tage. Am 7. März werden den Arbeiterführern freie Versammlungen gestattet. Erst jetzt, viel zu spät, versucht der Kanzler, dem Feind aus dem blutigen Jahr 1934 die Hand zu reichen. Man braucht sie jetzt, die »Roten« und die Kommunisten. Am 9. März gibt Kanzler Schuschnigg bekannt, dass er bereits am kommenden Sonntag, den 13. März, das Volk darüber abstimmen lassen werde, ob es ein »freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich« wolle oder nicht. So gut er kann, unterstützt Leopold Figl den Kanzler. Er wendet sich mit einem Aufruf an die Bauernschaft, der Heimat treu zu bleiben. »Ich werde den Tag niemals vergessen, als wir am 10. März 1938 die Landesbauernräte, unsere Funktionäre und Mandatare im Landhaus zusammenriefen, um ihnen zu sagen: Es geht um Sein oder Nichtsein Österreichs!«, wird Leopold Figl später berichten.12

Freitag, 11. März 1938. Der Niederösterreichische Bauernbund hat zu einer Massenkundgebung in den Sophiensälen aufgerufen. Die Bauern sollen vor dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler ihre Bereitschaft zur Volksabstimmung demonstrieren. Tausende Bauern sind erschienen. Sie stauen sich auf den Straßen, da der Veranstaltungsort bereits überfüllt ist. Doch alles kommt anders als geplant. Weder Miklas noch Schuschnigg erscheinen, dafür erhält der Reichsbauernführer einen Anruf. Leopold Figl erinnert sich: »Schuschnigg sagt mir: ›Figl, der Bundespräsident kann nicht kommen. Und ich kann auch nicht kommen. Aber komm mit Reither sofort zu mir.‹ Ich sage: ›Aber Kurt, das ist doch unmöglich, es sind über 10 000 Bauern hier.‹ Da sagt er: ›Freund, es tut mir leid, nimm Reither und komm’ sofort zu mir. Auf Wiedersehen.‹ […] Auf dem Weg hab ich zu Reither gesagt: ›Es wird zum Krachen kommen.‹«13

Im Kanzleramt erklärt der Kanzler dem Niederösterreichischen Landeshauptmann, dem Reichsbauernbundführer und den anwesenden Ministern die ausweglose Lage. Seyß-Inquart ist soeben aus Berlin zurückkehrt: Der »Führer« verlangt die Abberaumung der Volksabstimmung innerhalb von zwei Stunden. Noch weigert sich der Kanzler, noch hofft man auf die Unterstützung des Auslandes. Seit 20 Jahren bestehen die Sieger des Ersten Weltkrieges darauf, dass Österreich – der Rest, wie es Georges Clemenceau ausdrückte – ein selbstständiger Staat bleiben muss. Kein Anschluss an Deutschland, das war der Richtspruch der ehemaligen Entente. Jetzt steht die Macht des Reiches gegen die Unabhängigkeit Österreichs, der »Führer« will seine Heimat heimholen. Wird das europäische Ausland helfen? Der 11. März ist von hektischen Telefonaten erfüllt. Nachmittags haben Figl und Reither einen Termin im Hotel Meissl & Schaden, besonders verdienten Bauernbundfunktionären sollen Orden verliehen werden. Die geplante Zeremonie entbehrt nicht einer typisch österreichischen Mischung aus Tragik und Komik: Die Erste Republik steht vor dem Untergang, aber bevor sie untergeht, werden noch rasch einige Orden verliehen. Doch kaum angekommen, werden Figl und Reither wieder ins Kanzleramt zurückbeordert.

Leopold Figl

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