Читать книгу Mauerblümchen - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - Страница 11
— Achtes Kapitel
ОглавлениеIn der Dämmerung wehte ein kalter Wind. Die Stadt war in neblige Kälte gehüllt. Ihm gefiel das. Es würde der richtige Abend für ihn werden. Ein herrlicher Abend. Der Abend der Revanche.
Aber noch war es zu früh, um irgendetwas zu tun. Er musste mindestens noch eine halbe Stunde warten, sonst konnte alles entdeckt werden, und die ganze Mühe wäre umsonst gewesen.
Die Gegend, die er nach sorgfältiger Überlegung ausgewählt hatte, war ein öffentliches Gelände, das Dalen genannt wurde und ein Stück südwestlich vom Zentrum lag. Er hatte es von hier aus nicht weit zu seiner kleinen Rentnerwohnung in Bäcken, wo er wohnte, seit er vor drei Jahren Witwer geworden war und keinen Grund mehr gehabt hatte, in der Bruchbude zu bleiben, in die er bereits 1949 gezogen war, im gleichen Jahr, in dem er seine Ester geheiratet hatte.
Natürlich kam es ab und zu vor, dass er die alte Gegend vermisste – in erster Linie vielleicht die Laube mit ihren vielen Erinnerungen –, aber er war kein ausgesprochener Nostalgiker. Was vorbei war, war vorbei. Jetzt ging es darum, sich mit der Gegenwart zu arrangieren, und er musste zugeben, dass es schön war, alle diese belastenden Pflichten los zu sein, den schwer zu pflegenden Garten, alle Zipperlein des langsam zerfallenden Hauses. Er war nie der große Handwerker gewesen, hatte meistens hilflos den Problemen gegenübergestanden, die in älteren Gebäuden nun einmal auftreten. Und einen grünen Daumen hatte er auch nie besessen.
Außerdem befand sich das Haus fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Seine jetzige Wohnung – seine letzte? – lag bedeutend günstiger, er konnte fast zu Fuß ins Zentrum gehen. Dabei wurde er durch kein Gedränge gestört, da Bäcken ein relativ spärlich besiedeltes Gebiet am Rande der eher begüterten Viertel im Süden war.
Außerdem war die Wohnung ausreichend groß, praktisch und mit den notwendigen modernen Geräten ausgestattet. Nette Nachbarn hatte er auch. Ordentliche, rücksichtsvolle Leute, die niemals Inliner fuhren.
Es gefiel ihm in seinem Zuhause, aber er war verärgert darüber, welche Entwicklung die Gesellschaft in den letzten Jahren durchgemacht hatte.
Man muss die guten alten Zeiten wirklich zu schätzen wissen, dachte er, als noch Recht und Ordnung herrschten, als die Leute sich auf den Straßen bewegen konnten, ohne sich vor Rasern auf Rollschuhen in Acht nehmen zu müssen.
Man denke nur an die arme Dame, der letzte Woche die Handtasche mit all ihrem Ersparten geraubt worden ist, mitten in der Stadt! Nicht ein Zeuge hat sich gemeldet. Im Bladet war berichtet worden, dass der Grünschnabel frech neben sie gerollert ist, die Tasche gepackt hat und verschwunden ist, bevor sie überhaupt reagieren konnte.
Wenn er diesen feigen Kerl vor sich hätte, dann ...
Klas Björke verzog sein Gesicht vor Abscheu und schlug die Arme um den Leib, um sich vor der Kälte zu schützen.
Da er nichts Wichtigeres zu tun hatte, beschloss er, einen kurzen Spaziergang durch das Viertel zu machen, um zu sehen, ob er vielleicht noch einen besseren Ort für die Durchführung seines Plans finden würde.
Doch schon nach wenigen hundert Metern setzte ihm sein verletzter Fuß zu, in dem sich, laut seinem Arzt, ein Knochenriss gebildet hatte.
Der alte Mann verzog sein Gesicht vor Schmerz und Wut.
Ihm wurde klar, dass er fast genauso wütend auf die Polizei war wie auf den Plagegeist, der ihn angefahren und dann auch noch so höhnisch gelacht hatte. Außerdem war seine neue Hose von dem groben Straßenkies zerrissen – er konnte ja wohl schlecht mit einem großen Flicken auf dem Knie herumlaufen.
Aber am schlimmsten war der Schlag gegen den Fuß. Die Verletzung würde vielleicht nie ganz ausheilen. Und all das nur, weil so ein Lümmel auf Rollschuhen sich nicht vorsehen konnte. Außerdem war er garantiert nicht der Einzige, der Opfer dieser Rücksichtslosigkeit wurde. Und was tat die Polizei dagegen, dass die Rüpeleien auf den Straßen und Fußwegen immer mehr um sich griffen?
Gar nichts!
Es ist nicht so einfach, dagegen etwas zu machen.
Genauso hatte er sich ausgedrückt, dieser spöttische Muskelprotz von Polizist, der seine Anzeige aufgenommen hatte.
»Aber das war ja nicht das erste Mal, dass ich von diesen Teufeln angefahren worden bin. Das ist mir schon früher passiert. Und ich weiß nicht, wie vielen anderen ...«
»Ja, ja, das habe ich schon verstanden«, hatte der aufgeblasene Bulle ihn angefaucht, »aber dann versuchen Sie bitte, mir eine Personenbeschreibung zu geben, damit wir etwas Konkretes in die Hand kriegen.«
»Wissen Sie, wie viele solcher unverschämter Gestalten sich hier in der Stadt herumtreiben und uns gesetzestreuen Mitbürgern das Leben zur Hölle machen? Hunderte! Und jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass ich die auch noch beschreiben soll. Die sehen doch alle gleich aus. Und außerdem war es dunkel, als es passiert ist. Dieser Typ hatte eine solche Fahrt drauf, dass ich kaum seinen Rücken erkennen konnte. Und außerdem sollten Sie dieser armen Frau ihre Handtasche ersetzen. Und außerdem können Sie mir alle mal den Buckel runterrutschen.«
»Nun nun, Alterchen, jetzt beruhigen Sie sich erst mal.« »Ich bin kein Alterchen, und schon gar nicht für so einen Flegel wie Sie!«
Er hatte seine Wut nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Ja, er hatte den Kopf verloren, das kam ab und zu vor, er war nun einmal cholerisch veranlagt. Aber meistens – fast immer – gab es einen Grund für seine Wut. Wie jetzt zum Beispiel. Er war friedlich den Fußweg entlangspaziert und von einem rücksichtslosen, unaufmerksamen Idioten auf Rollschuhen angefahren worden, der zu allem Überfluss auch noch ein höhnisches Lachen von sich gegeben hatte, als Björke auf dem Boden lag und sich in Schmerzen wand. Konnte man da etwa erwarten, dass er ruhig und besonnen einfach wieder aufstand, sich den Dreck abbürstete und weiterging, als sei nichts passiert?
Er hatte den Polizisten nach Strich und Faden ausgeschimpft, die Tür hinter sich zugeworfen und war wutschnaubend auf seinem schmerzenden Fuß davongehinkt. Er hatte sogar überlegt, ob er diesen aufgeblasenen Zwerg wegen Dienstvergehens und unbotmäßigen Verhaltens melden sollte, verwarf aber das Projekt, in erster Linie, weil er nicht so recht wusste, wie er da eigentlich vorgehen musste.
Später, als er sich etwas beruhigt hatte, war er noch einmal zum Polizeirevier gegangen, um seine Anzeige etwas freundlicher abzuliefern. Ein anderer Polizist hatte sich seine Klagen angehört, ein etwas älterer, mit größerem Verständnis und mehr Einfühlungsvermögen. Aber auch er hatte kein besonders großes Interesse daran gezeigt, sich dem Problem zu widmen.
»Sie haben natürlich wichtigere Dinge zu tun, als einem alten Fußgänger zuzuhören, der angefahren wurde«, hatte Björke gefaucht.
»Darum geht es nicht, Herr Björke. Wir wollen Ihnen natürlich nach bestem Vermögen helfen.«
»Dann tun Sie das doch. Und zwar schnell. Bevor wieder jemand angefahren wird. Verdammt, diese Lümmel brausen wie eine Formel-1-Mannschaft herum, und die Polizei rührt nicht einen Finger, steht nur daneben und schaut zu. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie denen noch applaudieren! In was für einer Gesellschaft leben wir hier eigentlich!«
Der Wutausbruch im Polizeirevier hatte etwas von dem Druck von ihm genommen – aber nur für kurze Zeit. Die Wut war wieder aufgeflammt, sobald er nach Hause gekommen, den anhaltenden Schmerz im Fuß gespürt und an die teure, verhunzte Hose gedacht hatte.
Jetzt hatte er vor, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.
Er würde es ihnen heimzahlen.
Nach zwanzig Minuten war er wieder am ursprünglich vorgesehenen Platz. Er hatte keinen besseren gefunden. Es würde also hier stattfinden.
Aber jetzt noch nicht. Es musste noch etwas dunkler werden zwischen den Kiefern hinter dem schmalen asphaltierten Weg.
Er war stolz auf seine Entscheidung hinsichtlich der Stelle.
Schlau berechnet.
Nicht zu nah am Zentrum. Aber auch nicht ganz in der Ödnis.
Nicht zu nah an der bewohnten Gegend. Aber auch nicht zu weit von seiner Wohnung entfernt.
Und natürlich eine beliebte Strecke bei diesen Rollschuhläufern, die offensichtlich angezogen wurden von der beträchtlichen Neigung des Weges, an dem er jetzt Posten bezog.
Björke nannte sie Rollschuhläufer, obwohl er wusste, dass es heutzutage einen anderen Namen für sie gab, einen fremdländischen Namen, den er sich einfach nicht merken konnte.
Sein Versteck zwischen den Kiefern war ideal, nahe genug, dass er den Zusammenstoß miterleben konnte, aber gleichzeitig weit genug entfernt, dass niemand ihn entdecken würde. Aber vermutlich würde der, den es traf, an anderes zu denken haben als daran, einen fliehenden Saboteur zu fangen.
Der Alte lachte laut vor sich hin.
Er fühlte sich jetzt besser, aufgemuntert von dem kommenden Triumph.
Die Rache würde süß sein. Und es war seine. Seine ganz eigene, private Rache.
Sollte die Polizei doch mit langer Nase dastehen. Ihm würde das gelingen, woran sie so kapital und verantwortungslos gescheitert war.
Ihm war klar, dass es mit fast hundertprozentiger Sicherheit einen anderen treffen würde als denjenigen, der den Knochenriss in seinem Fuß verursacht hatte. Aber war das von Bedeutung?
Nein. Die Hauptsache war doch, diesen Idioten zu zeigen, dass er ihr wahnsinniges, ja, fast lebensgefährliches Vorgehen nicht länger tolerierte.
In Björkes Augen waren sie sowieso alle gleich: rücksichtslos und egoistisch.
Es bestand natürlich die Gefahr, dass zufällig ein Radfahrer oder ein Fußgänger vorbeikam, aber von seinem Versteck aus hatte er eine gute Übersicht über den Weg und konnte sicher rechtzeitig das Seil lösen und einholen, wenn es nötig wäre. Ein Unschuldiger durfte auf keinen Fall zu Schaden kommen.
Ein älteres Paar ging in gemächlichem Tempo an ihm vorbei. Einer der beiden führte einen Schäferhund an der Leine, und Björke überlegte einen Augenblick lang besorgt, ob der Hund möglicherweise seine Anwesenheit durch Knurren entlarven könnte. Nicht, dass das im Augenblick so viel bedeutet hätte.
Bisher war ja noch nichts passiert.
Aus der Ferne war das unverkennbare Geräusch von Rollschuhfahrem zu hören, aber damit konnte er jetzt nichts anfangen. Die Falle war noch nicht aufgestellt, und außerdem war das Paar mit dem Schäferhund noch in Hör- und Sichtweite.
Sie kamen in Schwindel erregender Fahrt den abschüssigen Weg heruntergesaust, zwei Jungs, die ihrer Körpergröße nach zu urteilen nicht älter als fünfzehn Jahre sein konnten. Ihre Stimmen wurden ein paar Sekunden lang vom Wind getragen, dann waren sie und ihre Besitzer schon vorbei. Er sah, wie die Fußgänger erschrocken zur Seite sprangen, um den Jugendlichen Platz zu machen. Der Hund bellte kurz, dann war es wieder ruhig.
Der Alte wartete zwei Minuten. Dann öffnete er seine kleine Tasche und begann mit der Arbeit, die, wie er hoffte, darin gipfeln sollte, dass einer der Quälgeister schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Asphalt machen würde. Er brauchte nicht einmal eine Minute, um die primitive Falle zu errichten.
Er spannte das Seil gut zehn Zentimeter über dem Boden und ging dann den Weg ein Stück hinauf, wobei er sich die Brille aufsetzte.
Von oben konnte man kaum etwas erkennen, und da ein Rollschuhfahrer ja reichlich Geschwindigkeit drauf haben würde, wenn er die Senkung heruntersauste, hatte er keine Chance, dem Hindernis auszuweichen.
Dann, wenn sein Opfer dalag, würde Björke sich das Seil schnappen und damit verschwinden, bevor es überhaupt begriffen hatte, was passiert war. Wenn er das Seil nicht mitnehmen konnte, war das auch nicht so schlimm, aber er nahm an, dass sich das wohl würde bewerkstelligen lassen.
Er zitterte in der rauen Kälte des Abends und hoffte, dass die jungen Rabauken sich nicht von dem ungemütlichen Wetter abhalten ließen. Es wäre ja lächerlich, wenn sie einfach ausblieben, jetzt, wo er sie zum ersten Mal herbeisehnte, während sie doch sonst wie die Fliegen um ihn herumschwärmten, wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als in Ruhe gelassen zu werden.
Aber da er wusste, dass sie besonders an den Wochenenden sehr aktiv waren und gerade diesen Weg gern benutzten, war er guter Hoffnung.
Der Alte ließ den Samstagabend ruhig weiterticken.
Er wartete und freute sich schon auf das, was kommen sollte.