Читать книгу Mauerblümchen - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - Страница 5
— Zweites Kapitel
ОглавлениеDer Wind fühlte sich winterlich beißend, aber auch frühlingshaft und voller Verheißungen an, beides zugleich. Ihm schien, dass es milder geworden war – er verabscheute die Kälte –, auf jeden Fall biss der schneidende Wind nicht mehr so scharf wie noch vor ein paar Tagen.
Der dunkelblaue Mantel war ganz zugeknöpft, bis zum Hals hinauf. Und dennoch gelang es dem Wind, einen eisigen Finger darunter zu schieben, der ihn zu einem leichten Schaudern brachte. Der dünne Seidenschal bot keinen nennenswerten Schutz, verlieh ihm aber, wie zumindest er selbst fand, einen eleganten Touch. Und diesen gewissen Pfiff, der heute wichtiger für ihn war als je zuvor.
Er beschleunigte seine Schritte.
In die Manteltaschen hatte er zwei zusammengefaltete Abendzeitungen mit Reklamebeilagen gestopft, die er gerade am Hauptbahnhof gekauft hatte.
Er war auf dem Heimweg und bereute langsam, nicht den Wagen genommen zu haben. Aber er saß aus dienstlichen Gründen so oft hinterm Steuer, dass er gern die Gelegenheit zu einem Spaziergang nutzte, sobald sie sich bot. Das war auch das Einzige, was irgendeiner Art von sportlicher Betätigung nahe kam. Er war nie ein großer Freund körperlicher Anstrengungen gewesen, war sich aber im Klaren darüber, dass er ein Alter erreicht hatte, in dem es empfehlenswert war, sich fit zu halten.
Als er den Stortorget überquerte, bemerkte er, dass das Mittagsgeschäft bereits abgeebbt hatte. Die Stadt genoss einige Stunden wohlverdienter Nachmittagsruhe vor dem Trubel des Samstagabends.
Eigentlich war er nicht besonders begeistert von seinem jetzigen Wohnort. Nicht, dass er ihn nicht leiden konnte. So schlimm war es nun auch nicht. Die Stadt hatte einen gewissen Charme, der wohl in allererster Linie auf den Stadtteil zutraf, durch den er gerade ging: Gamleby, mit einem Gewimmel pittoresker Häuser in den malerischen Gassen und den gepflegten Grünanlagen.
Auch die Lage der Stadt war von Vorteil. Besonders schätzte er die Nähe zum Meer und die salzigen Bäder, die seine Sommer vergoldeten. So einen Luxus war er aus früheren Zeiten nicht gewohnt, als diese Freuden für Charterreisen in den Süden reserviert waren.
Und dennoch. Es war nicht wie daheim in Örebro, wo er geboren und aufgewachsen war und bis vor fünfzehn Jahren gelebt und gearbeitet hatte. Die Stadt war schon okay, aber trotz allem eine Spur zu klein, um ihm uneingeschränkt zuzusagen. Außerdem waren die Winter hier eindeutig kälter und windiger als in seiner Heimat.
Während er mit zielgerichteten Schritten durch die spätwinterlichen Straßen schritt, entsprach seine Erscheinung genau dem, was er war: ein wohlerzogener, erfolgreicher Vierziger mit einem ordentlichen Beruf.
Er wohnte mit seiner Frau Elisabeth in einer großzügigen Wohnung in einem alten Patrizierhaus in der Nähe des Krankenhauses, in bequemem Spazierabstand zum Zentrum.
Sie lebten jetzt zu zweit, nachdem beide Söhne ausgezogen waren. Die beiden waren schon zum Zeitpunkt des Umzugs von Örebro hierher fast flügge gewesen und hatten nur wenige Jahre in dem neuen Heim gelebt, in das sie nur unter brummenden, aber nicht besonders energischen Protesten umgezogen waren.
Anschließend hatten sie sich nach dem Studium in Göteborg beziehungsweise Lund jeweils eine respektable Arbeit beschafft, und obendrein war es beiden gelungen, eine Familie zu gründen.
Also Ruhe und Frieden an dieser Front.
Er öffnete die Wohnungstür, zog die Abendzeitungen aus den Taschen und legte sie auf den Flurtisch. Ein Prospekt fiel zu Boden. Er bückte sich, um ihn aufzuheben.
»Bist du’s, Hadar?«, war aus einem Zimmer rechts vom Eingang zu hören.
»Wer soll es denn sonst sein?«
»Ach, ich wollte es nur wissen.«
Nachdem er seinen Mantel auf einen Holzbügel gehängt hatte (er traute diesen umständlichen Metallkonstruktionen nicht), verzog er sich in die Küche und goss sich ein großes Glas fettarme Milch ein. Er trank es in einem Zug aus und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um eventuelle Spuren des Getränks wegzuwischen, die seine Mutter immer scherzhaft als Schnurrhaare bezeichnet hatte.
Er rauchte eine Zigarette, blätterte eine der Zeitungen flüchtig durch und ging dann ins Zimmer seiner Frau.
Wie lange war es schon her, dass sie ein gemeinsames Schlafzimmer gehabt hatten?
Sie saß vor dem Spiegel an ihrem Frisiertisch und konzentrierte sich voll und ganz darauf, ihre Lippen anzumalen. Schminkutensilien in Hülle und Fülle stapelten sich auf der Tischplatte. Er kannte niemanden, der sich mit Elisabeth messen konnte, was die Anzahl überflüssiger Accessoires betraf.
Ihr Haar war voller Lockenwickler, deren Ränder sich unter einem locker umgeschlungenen Handtuch abzeichneten, das den größten Teil ihres Kopfes bedeckte. Ihr Morgenrock war nicht zugeknöpft, er hing nachlässig um ihren drallen Körper. Er konnte ihren beigefarbenen, gut gefüllten BH sehen und ein großes Stück eines ihrer weißen, strumpflosen Beine. Das andere wurde fast zur Gänze von dem Morgenrock verdeckt. Durch die Fensterscheibe fiel das Tageslicht herein und ließ den Ohrring in ihrem linken Ohrläppchen funkeln. Er erinnerte sich daran, dass er früher daran geknabbert hatte. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr an den Geschmack erinnern.
»Wo warst du?«, fragte sie, ohne ihre mascaraeingerahmten Augen vom Spiegel zu lösen.
»Ich habe die Abendzeitungen gekauft. Hat jemand für mich angerufen?«
»Keine Menschenseele ... oder doch, ja, Mikael hat von sich hören lassen.«
»Aha. Und, alles in Ordnung bei ihm?«, fragte er, ohne bei der Sache zu sein.
Mikael war ihr jüngster Sohn.
»Ihnen geht es glänzend«, sagte sie und spitzte die Lippen, um zu kontrollieren, ob der Lippenstift auch dort war, wo er sein sollte. »Er und Lotta sind heute Abend eingeladen. Die Großeltern passen aufs Kind auf. Sie wollen zu ...«
Er hatte keine Lust, weiter zuzuhören, und ging zur Tür.
»Was gibt es zu essen?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Nicht, was Mikael und Lotta kriegen«, schnaubte er. »Was hast du für uns?«
»Es wird wohl was aus der Kühltruhe werden. Such dir selbst was aus.«
»Das kannst du tun.«
»Wie ist das Wetter?«, fragte sie.
»Der Jahreszeit entsprächend.«
»Es heißt entsprechend«, korrigierte sie ihn, immer noch ohne den Blick von ihrem Spiegelbild zu lösen.
»Musst du mich ständig verbessern? Du bist wirklich berufsgeschädigt, Frau Lehrerin, Pedantin durch und durch.«
»Beruhige dich«, sagte sie und schraubte die Hülle auf den Lippenstift.
Er schnappte sich die Abendzeitungen und ging ins Wohnzimmer, wo er sich ans Fenster setzte, um noch das restliche Tageslicht auszunutzen.
Er rechnete mit einem angenehmen Nachmittag. Vielleicht ein kleines Nickerchen, vielleicht ein richtig herausforderndes Wochenend-Kreuzworträtsel, vielleicht ein halbes, schläfriges Auge auf eines der Fußballspiele, die bald im Fernsehen gezeigt werden würden.
Die Hauptsache war, dass er etwas ausruhen konnte vor dem, was ihm heute Abend noch bevorstand.
Erregung stieg in ihm hoch, und er musste sich zügeln, um nicht allzu ungehemmt seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.
Er sollte seine Kräfte besser sparen.
Jetzt brauchte er sie noch nicht.
Noch nicht. Aber bald.
Heute Abend.
Er konnte nicht still sitzen, musste aufstehen und im Zimmer herumlaufen.
»Hadar?«
»Ja.«
»Bist du so lieb und hilfst mir mal?«
Ihre Stimme klang schrill, als sie sich ihren Weg durch die Wohnung bahnte; war sie immer schon so durchdringend gewesen?
»Hadar, was machst du? Hörst du nicht? Komm mal her, sei so gut.«
»Ich komme«, sagte er und wünschte, es wäre schon fünf Stunden später.