Читать книгу Der Staatsminister reist aufs Land - Bo Balderson - Страница 5
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ОглавлениеDer Staatsminister kam ohne Zwischenfälle mit seiner Zeitung zurück.
Wir fuhren weiter durch die grüne, frühlingsfrische Landschaft.
Während der Staatsminister irgendwas von einer Hündin faselte, die trotz mehrerer Versuche keine Welpen kriegte, schweiften meine Gedanken zu unserem Nachtquartier ab. Wir hatten uns im Stadthotel in Mellanstad einquartiert. Ob es wohl eher von der älteren, knarrenden oder von der modernen, hellhörigen Sorte war?
Mit einem Seufzer überließ ich das Stadthotel der Zukunft und notierte mir im Gedächtnis, dass ich mir unbedingt die Domkirche ansehen wollte, insbesondere den mittelalterlichen Taufstein ...
»Ich habe dir doch mitgeteilt, dass ich die Hotelzimmer abbestellt habe?«, unterbrach der Staatsminister meine Überlegungen. »Wir wohnen stattdessen bei Johan Åkerblom. Das ist viel netter, persönlicher.«
Das war mir neu.
Ich konnte mich nicht erinnern, einen Johan Åkerblom zu kennen.
Also fragte ich nach.
»Du weißt nicht, wer Johan Åkerblom ist? Du bist ihm bestimmt schon mal begegnet. Oder hast zumindest von ihm in der Zeitung gelesen. Er ist Reichstagspräsident. Stellvertretender Vizepräsident. Dritter Vizepräsident, um genau zu sein. Ein alter Parteigenosse. Von mir, versteht sich. Hat sich zwanzig Jahre lang in Västmanland aufstellen lassen. Davor war er Volksschullehrer. Da könnt ihr pädagogische Erfahrungen austauschen, ist das nicht wunderbar? Er wohnt bei Mellanstad. Ganz in der Nähe unserer Immobilienobjekte. Praktisch, oder?«
»Weiß er davon?!«
Meine hochgeschraubte Stimmlage war durchaus berechtigt, hatte der Staatsminister mich doch schon des Öfteren in spontane Besuchsüberfälle verwickelt, Morde inklusive, die jeden Hotelaufenthalt in den Schatten stellten.
»Aber natürlich weiß er Bescheid! Man kann die Leute doch nicht einfach überfallen, ohne sich vorher anzukündigen! Ich habe ihn heute Morgen angerufen, und er klang hocherfreut. Na ja, zumindest nicht ablehnend. Die Kinder sind aus dem Haus, und seine Frau macht gerade eine Rundreise und besucht sie. Da fühlt er sich doch sicher einsam und langweilt sich. Du hast sogar ein eigenes Zimmer! Ich habe gesagt, dass du nur unter der Bedingung mitkommen würdest.«
Mit Familienanschluss untergebracht zu sein ist fast noch schlimmer, als im Hotel zu wohnen, weil man sich dem Tagesrhythmus der Gastgeber und ihren häufig sehr eigenartigen Gewohnheiten anpassen muss. Bei einem unserer Ausflüge musste ich beispielsweise um sechs Uhr morgens aufstehen, um unserem Gastgeber zu seinem achtzigsten Geburtstag ein Ständchen zu bringen. (Der zu dem Zeitpunkt bereits tot war.) Für einen empfindlichen Magen kann auch die Nahrungsaufnahme zum echten Problem werden. Wie oft habe ich mich schon von trockenen Keksen oder Zwiebäcken ernährt, die ich heimlich in meinem Zimmer gegessen habe, weil es bei den Mahlzeiten ausschließlich fette Fleischwürste, gebratene Leber oder klumpige Puddings gab. Besonders schwer zu ertragen sind die Familien mit Kindern. Die Kleinsten halten einen die ganze Nacht mit ihrem Gebrüll wach, die älteren mit nächtlichen Musikorgien. Was habe ich schon mit Stöcken an Decken und Wände geklopft, aber das Gejohle der Idole übertönt alles. Die meisten Eltern entwickeln im Laufe der Jahre eine Widerstandskraft, die schon an Immunität grenzt und sie gegen jede Art von Klagen taub macht. Und für einen Gast geziemt es sich ja wohl kaum, diesbezüglich ein Machtwort zu sprechen.
In diesem Fall waren die Kinder bereits ausgeflogen. Aber wer konnte schon wissen, welchen nächtlichen Ausschweifungen sich der Präsident in Abwesenheit seiner Frau hingab?
Ich näherte mich Mellanstad mit sehr widersprüchlichen Gefühlen. Der Countdown der Schilder von 110 über 90 auf 70 bis 50 km/h ging schnell, danach passierten wir den unvermeidlichen Gürtel aus Tankstellen, die sich auf die übliche vulgäre Weise darboten. In dem alten Stadtkern erhaschte ich zwischen zwei verglasten Kaufhäusern einen kurzen Blick auf den Dom. Gleich darauf befanden wir uns im Tankstellengürtel auf der anderen Seite der Stadt.
Der Staatsminister reckte den Hals und murmelte Straßennamen vor sich hin, und nach ausgedehntem, verwirrendem Herumgekurve, vorbei an kleinen, roten Backsteinhäuschen in kleinen, gepflegten Gärten, erreichten wir waldigeres Gebiet. Die Villen auf den Lichtungen boten einen eindeutig individuelleren Anblick.
»Hier muss es sein!«, rief der Staatsminister und bog in einen schmalen Weg ein, der sich gleich darauf auf einen Kiesplatz mit einem großen »Schutzbaum« in der Mitte öffnete.
Es war ein stattliches Haus, das Präsident Åkerblom sein Eigen nannte. Wie einer der Gutshöfe aus der Zeit Gustav Vasas, in dem jener in seiner stürmischen Jugendzeit häufig Schutz suchte. Braun gebeiztes Fachwerk, Laubengänge, kleine Sprossenfenster und ein insgesamt rustikaler Stempel. Wohl kaum der Ort, an dem ein einsamer Vizepräsident die ganze Nacht hindurch Hardrock hörte, dachte ich und schnallte mich los.
Da trat Präsident Åkerblom aus seinem Haus.
Er war auch eher von der rustikaleren, altmodischeren Sorte.
Nicht, dass er sonderlich alt gewesen wäre, Mitte fünfzig, vielleicht. Und die Augen hinter der Goldrahmenbrille blinzelten lebhaft. Aufrechte Haltung und energischer Gang. Aber seine Erscheinung strahlte etwas leicht Angestaubtes aus. Vielleicht lag es an der grauweißen Ponytolle, die ihm in die Stirn fiel. Oder an seiner Kleidung. Er trug ausgebeulte, fischgrätengemusterte Knickerbocker, einen Pullover mit großen Karos, Strickstrümpfe mit kleinen Karos und Lederwanderschuhe. (Dieser Aufzug, wohl mit Ausnahme der Lederwanderschuhe, war gerade topmodern, wie ich später erfuhr. Trotzdem bin ich überzeugt, dass Johan Åkerblom zu der zeitlosen Spezies Mensch gehört, die alle zehn Jahre für eine kurze Saison modern sind, ganz ohne eigenes Zutun.)
»Herzlich willkommen!«, rief Åkerblom und strich sich die grauweiße Tolle aus der Stirn. »Nein, ich nehme das Gepäck! Immer rein mit euch in die gute Stube! Das Essen ist gleich fertig. Elsa ist verreist, ihr werdet euch also mit dem begnügen müssen, was ich zu bieten habe. Nein, nicht in die Küche, da ist es zu unordentlich!«
Das Durcheinander im Wohnzimmer war auch nicht von schlechten Eltern. Besonders beeindruckend fand ich die Zeitschriftenstapel, die über den ganzen Boden verteilt lagen und Stühle, Sofas und Tische unter sich begruben, sodass sie aussahen wie nachlässig zugedeckte Leichen. Dazwischen lagen diverse Reichstagshandouts und ungeordnete Unterlagen, die wie aufgescheuchte Hühner aufflatterten, als wir den Raum durchquerten.
Ich räumte einen Stapel Regierungsvorlagen von einem Bauernstuhl, setzte mich und blätterte in dem kleinen Zeitungshügel zu meinen Füßen. Die älteste Ausgabe war eine Woche alt. Daraus schloss ich, dass Frau Åkerblom an diesem Tag das Haus verlassen hatte.
»Wenn ich nur wüsste, wo Elsa den Küchenfreund versteckt hat!«
Unser Gastgeber stapfte in einer Wolke Essensdünste aus der Küche ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick verzweifelt über das Zeitungschaos schweifen. Hier kam offensichtlich jede Hilfe zu spät: ein Mann, der im Wohnzimmer nach dem Pfannenwender sucht, hat eindeutig die Kontrolle über sein Zuhause verloren.
Der Staatsminister sagte, ein Vorlegemesser täte es auch, worauf der Präsident mit einem dankbaren Grunzen zurück in die Küche entschwand.
»Ich verstehe gar nicht, wie es so schnell so unordentlich werden kann«, sagte er wenig später beim Abendessen, zu dem etwas zäh Gebratenes serviert wurde, bei dem man nicht unnötig lange verweilen sollte. »Dabei bin ich doch eigentlich nur samstags und sonntags zu Hause. Unter der Woche übernachte ich in meinem Zimmer im Reichstag in Stockholm.«
Er kratzte sich in der weißen Mähne und sah uns aufrichtig verzweifelt durch den Goldrahmen an.
»Ich vermute, die Zeitungen sind an allem schuld«, fuhr er fort. »Ich muss sie ja alle lesen, überregionale und lokale Zeitungen. Und die kommen, ob ich zu Hause bin oder nicht. Am Wochenende muss ich sie dann durcharbeiten und gucken, ob sich etwas auszuschneiden lohnt. Aber kaum schlage ich eine Zeitung auf und fange an zu blättern, werde ich von einem Anruf unterbrochen oder einem Besuch, und so bleiben sie liegen!«
Er zeigte mit einer hilflosen Geste über das bedeckte Mobiliar.
»Es hat etwas so Demoralisierendes, wenn die Zeitungen sich immer weiter ausbreiten, und dann fange ich an, mit dem Aufräumen und dem Abwasch zu schlampern, und überhaupt. Ich war richtig froh, als euer Anruf kam, dass ihr hier wohnen wollt. Das zwingt mich sozusagen dazu, den Zeitungen den Garaus zu machen! Dachte ich. Aber dann konnte ich die Schere nicht finden und musste mit den Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen.«
»Wie wäre es mit einer Haushaltshilfe?«, schlug der Staatsminister vor.
Johan Åkerblom sah ihn erschrocken an. Die Hand strich über die Stirntolle.
»Um Himmels willen, das geht auf keinen Fall! Sie würde sich bloß auf die Zeitungen stürzen, sie zusammenfalten und stapeln. Wie soll ich da jemals wiederfinden, was ich ausschneiden wollte. Außerdem kann man einer Putzfrau ein Chaos wie dieses kaum zumuten.«
Damit wollte er wohl ausdrücken, dass der Zustand in seinem Heim bereits die Grenze überschritten hatte, wo man noch guten Gewissens Hilfe von außen in Anspruch nehmen konnte. Und ich konnte ihn verstehen, er in seiner Position war angreifbar, er musste an seinen Ruf bei seinen Wählern denken. Wenn bekannt wurde, dass der Präsident nicht in der Lage war, in seinen eigenen vier Wänden für Ordnung zu sorgen, dass es in seinem Haus aussah wie in einem Schweinestall ...
»Ist Elsa lange fort?«, fragte der Staatsminister.
»Wir haben fünf Kinder, und sie bleibt drei, vier Tage bei jedem von ihnen. Mit drei Wochen muss ich schon rechnen. Und jetzt ist gerade mal die erste vorbei.«
Ich stellte fest, dass das Blättern in dem Zeitungsstapel mich der Wahrheit sehr nah gebracht hatte.
»Ach, fünf Kinder sind schon eine Menge«, seufzte Johan Åkerblom. »Natürlich war es auch oft anstrengend, als sie noch alle zu Hause wohnten. Aber eigentlich finde ich es viel anstrengender, seit sie nicht mehr da sind. Im Herbst zieht Björn, unser Ältester, für ein paar Jahre mit seiner Familie nach Japan. Ich habe mich noch nicht getraut, Elsa zu fragen, ob sie ihn dort auch besuchen will. Da wäre sie ja Monate unterwegs!«
Der Staatsminister schlug dem Präsidenten vor, bei einem der vielen Ausschüsse des Reichstags eine Reise dorthin zu beantragen, an der er natürlich selber teilnehmen würde. Aber jetzt würde er, der Staatsminister, erst mal einen Kaffee ansetzen, bevor sie gemeinsam die Zeitungsberge in Angriff nehmen würden.
Beim Kaffee erwähnte ich, dass die Autofahrt mich sehr erschöpft hätte. Johan Åkerblom sprang auf.
»Wo bin ich bloß mit meinen Gedanken! Ihr wollt natürlich sehen, wo ihr untergebracht seid! In den Kinderzimmern war niemand mehr, seit Elsa weg ist, da ist es also sauber und aufgeräumt. Aber die Betten müssen noch bezogen werden. Meine Güte, wo mag Elsa bloß die Bettwäsche haben?«
Der Staatsminister rettete die Situation, indem er verkündete, dass seine Frau Margareta uns Bettzeug eingepackt hätte. Ich wurde in mein Zimmer geführt, wo ich meine Taschen auspackte und mein Nachtlager bereitete. Dann legte ich mich mit den »Beiträgen zur Erforschung der Kämpfe zwischen König Sigismund und Herzog Karl 1598–1599« ins Bett, einer Abhandlung, die mich mit ihrem umfangreichen Anmerkungsapparat schon lange reizte.