Читать книгу Der Kristall - Bärbel Junker - Страница 13
GEFANGENE DER ORKS
ОглавлениеHetzel richtete sich stöhnend auf. Wie ein Pfeil schoss der Schmerz durch sein Gesicht. Vorsichtig tastete er mit der Hand darüber. Sein Kinn war geschwollen, Kopfschmerzen hämmerten wie eine Axt in seinem Kopf.
Verdammt! Was war passiert?
Er konnte sich nicht erinnern. War da nicht irgendwas mit dem verrückten Balbur gewesen? Hatte er nicht einen riesenhaften Ork neben Balbur gesehen?
Natürlich! Orks! Der Kampf! Und dann flog Balburs Kopf! Und dann war da noch eine riesengroße Faust!
„Balbur! Du verdammter Dreckskerl! Du gottserbärmlicher Verräter. Hätte nicht der Ork dir den Kopf abgehauen, hätte ich das mit Vergnügen getan, du verfluchter Hundesohn!“, fluchte Hetzel und hielt sich den schmerzenden Kopf.
„Verdammter Mist! Die Orks haben mich geschnappt!
Die haben mich glatt zwischen meinen Leuten herausgepickt wie Hühnerfutter. Wie komme ich da nur heil wieder raus. Ich muss mir schnell was einfallen lassen, bevor die mich als nächste Mahlzeit auswählen. Zwerg gesotten mit Preiselbeeren! Echt lecker!“, knurrte Hetzel mit Galgenhumor.
Am späten Nachmittag brachte ihm ein schweigsamer Ork eine Schüssel mit dünnem Eintopf, einen Holzlöffel und einen abgeschlagenen Krug mit Wasser. Eine Weile blieb er vor Hetzel stehen und beäugte ihn von allen Seiten.
Der sucht sich wohl schon die besten Bissen aus, dachte Hetzel zynisch. Er ekelte sich zwar vor dem Zeug, das die Orks Essen nannten, doch wenn er bei Kräften bleiben wollte, musste er es wohl oder übel hinunterwürgen.
Der Ork grinste, als er zusah. „Gutt?“, grunzte er einfältig. Hetzel nickte. Vielleicht konnte er das Monstrum aushorchen. Dass man ihn nicht gefesselt hatte deutete darauf hin, dass sie ihn in einem Bereich des Lagers untergebracht hatten, in dem eine Flucht so gut wie ausgeschlossen war. Der Ork stand da, starrte ihn an und grinste dumm. Anscheinend hat er nicht alle Tassen im Schrank, dachte Hetzel. Aber vielleicht konnte das ja ganz nützlich sein.
„Wo bin ich hier eigentlich?“, fragte er.
„Utama-Gebirge. Orks-Gebiet“, erwiderte der Ork stolz.
Hetzel starrte ihn schockiert an. Das konnte doch nicht sein! Das Utama-Gebirge lag doch mehrere Tage vom Krakhet-Gebirge, seiner Heimat, entfernt!
„Wie lange bin ich denn schon hier?“, fragte er verstört.
„Zwei Tage. Du schlafen. Bald große Feier. Du gutes Essen bist“, grinste der Ork. Bei dieser Aussicht lief gelber Speichel über seine Hauer und versickerte auf seiner Brust. „Du nicht kannst fliehen. Ich gutt aufpassen auf dich.“
Zwei Tage! Hetzel war die Lust an einem weiteren Gespräch vergangen. Er lehnte sich an die Wand und starrte trübe vor sich hin.
Der Ork nahm die Schüssel und den Löffel, verriegelte die schwere Holztür und latschte grinsend davon.
Hetzel, der über seine trübsinnigen Gedanken eingeschlafen war, wurde durch Getöse vor der Höhle geweckt. Anscheinend war da eine Keilerei im Gange.
„Lasst mich los, ihr blödsinnigen Schweineschnauzen“, schrie eine menschliche Stimme. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein schwerer Körper flog auf Hetzel zu, der sich gerade noch mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen konnte. Wo er gerade eben noch gesessen hatte, krachte der Körper des Fremden zu Boden.
„Verdammter Mist“, knurrte der und richtete sich auf.
Hetzel musterte neugierig den Mann. Groß war der Fremde, mindesten sechs Fuß, wenn nicht sogar etwas mehr. Aus einem kantigen Gesicht starrten funkelnde graublaue Augen den Zwerg überrascht an. Der Mann reckte seine athletische Gestalt und strich sich über sein volles blondes Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug. Seine Jacke, Weste und Hose waren aus braunem Leder, das Hemd braun und grün kariert. Die kniehohen Lederstiefel waren ebenfalls braun.
„Hallo, Zwerg“, sagte er freundlich. „Haben dich diese verdammten Schweineschnauzen auch gefangengenommen! Na, da sitzen wir aber ganz schön in der Patsche bei dem Appetit den die haben! Übrigens, ich heiße Rowan und du?“
„Hetzel. Mein Name ist Hetzel. Hast du gesehen, ob es hier irgendeine Möglichkeit gibt zu verschwinden? Ich habe nämlich keine Ahnung wie es da draußen aussieht. Ich war bewusstlos als sie mich hierher brachten.“
„Deshalb habe ich ja die Rauferei angefangen. Ich brauchte Zeit, um mich umzusehen“, grinste Rowan. „Es wird zwar nicht leicht werden, aber unmöglich ist es nicht. „Wie haben die dich denn erwischt?“ Hetzel erzählte es ihm.
„Und dabei habe ich sowieso schon viel zu viel Zeit im Kampf gegen die Orks verloren. Dieser verdammte Balbur“, fügte er wütend hinzu. „Ich muss unbedingt nach Arakow, da warten Freunde auf mich, denen ich beistehen muss.“
Gedankenverloren starrte er vor sich hin und erinnerte sich. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ausgerechnet ihn irgendwann eine Vision heimsuchen könnte. Und doch war es geschehen!
Seitdem wusste er um die Gefahr, in welcher der Perlmuttbaum schwebte und nicht nur er, sondern ebenso die Natur und die übrigen Lebewesen dieser Welt.
Er wollte sich sofort nach Preleida aufmachen, doch Balburs Intrige – wie er jetzt wusste – hatte das verhindert. Und jetzt saß er hier bei den verfluchten Orks fest.
„Ich hatte mir nach dem bösen Erlebnis mit einer Schwarzen Hexe geschworen, mich nie wieder gefangen nehmen zu lassen“, seufzte Roman. „Hätten mich diese Samiras und ihr Bruder nicht gerettet, wäre die Sache übel ausgegangen.“
Hetzel fuhr hoch, als hätte er einen Stromschlag erhalten. „Wie sah die Frau aus?“, keuchte er erregt.
„Schön, sehr schön“, erwiderte Rowan versonnen. „Schlank, feingliedrig, schmales Gesicht. Und dann diese smaragdgrünen Augen und das schulterlange kupferfarbene Haar. Wirklich ein Bild von einer Frau. Ihr Bruder sah allerdings auch sehr gut aus. Aber ihre übrige Begleitung war schon sehr ungewöhnlich“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Was meinst du mit ungewöhnlich?“, wollte Hetzel wissen. Natürlich war ihm bereits klar, dass der Mann Samiras getroffen haben musste. Die Beschreibung passte genau auf sie.
„Na ja, als Frau mit einem riesigen Troll herumzuziehen ist ja wohl nicht das Übliche, oder?“
„Du hast meine Freunde getroffen“, sagte Hetzel leise. „Mit ihnen will ich mich in Arakow treffen. Eine schwarze Pantherin, ein Mauswiesel und ein Elf müssen auch dabei gewesen sein. Hast du sie gesehen?“
„Willst du mich veräppeln? So seltsam waren ihre Begleiter ja nun auch wieder nicht“, erwiderte Rowan, der sich auf den Arm genommen fühlte.
„Es ist mein völliger Ernst“, beruhigte ihn Hetzel. „Sie alle und noch einige andere halfen dabei, den Perlmuttbaum zurückzubringen.“
Rowan starrte ihn ungläubig an. „Ihr wart das? Ihr habt die Welt gerettet, Mann! Ist dir das eigentlich klar?“, stieß er hervor.
„Natürlich weiß ich das. Das Schlimme jedoch ist, dass wir es noch ein zweites Mal tun müssen. Das Böse hat nämlich erneut Fuß gefasst und bedroht den Perlmuttbaum und damit uns alle“, erwiderte Hetzel frustriert.
„Ich helfe euch“, sagte Rowan spontan. „Ich bin zwar auf der Suche nach meinem Bruder, aber vielleicht lässt sich das ja irgendwie miteinander vereinbaren.
„Wo wolltest du denn nach ihm suchen?“
„Zuletzt soll er mit seinem Freund George in Okzaht gewesen sein“, erwiderte Rowan. „Vielleicht kommen wir da ja vorbei. Ich meine, falls ihr mich überhaupt dabei haben wollt.
Allerdings könnte ich so meine Schuld gegenüber der Frau begleichen. Du kennst mich zwar noch nicht, aber das kann ja noch kommen. Vielleicht kannst du dann ja ein gutes Wort bei deinen Gefährten für mich einlegen“, schlug Rowan augenzwinkernd vor.
Hetzel reagierte nicht auf seine Worte. Der Name George war ihm unter die Haut gegangen, hatte ihn an dessen Verrat in der Todeswüste erinnert. Konnte das Zufall sein? Er musterte Rowans Gesicht. War da Ähnlichkeit?
„Wie heißt denn dein Bruder“, fragte er gespannt.
„Karon. Mein Bruder heißt Karon“, erwiderte Rowan ahnungslos.
Woher sollte er das Schreckliche auch wissen? Und jetzt war es an Hetzel, die Schrecken wieder aufleben zu lassen. Er wollte das nicht! Für nichts auf der Welt wollte er diesem Fremden das Furchtbare erzählen. Doch wollte er ihn nicht umsonst weitersuchen lassen, würde er es müssen!
„Du bist in Kaffra zu Hause?“, fragte er zögernd.
Rowan musterte ihn misstrauisch. „Woher weißt du das, Zwerg Hetzel?“
Hetzel schluckte. Verdammt! Wie sollte er es am besten angehen. Der Mann war völlig ahnungslos, glaubte seinen Bruder bald wiederzusehen. Wie sollte er ihm die Geschehnisse nahebringen?
Wie erklären, warum Karon freiwillig sein Leben hingegeben hatte? Er war dabei gewesen, hatte alles hautnah erlebt. Wie sollte er die vielfältigen Erlebnisse in Worte kleiden? Er, der sowieso kein großer Redner war?
„Also, Hetzel? Woher weißt du, dass Kaffra meine Heimat ist?“, drängte Rowan auf eine Antwort.
„Ich weiß es von deinem Bruder Karon“, erwiderte Hetzel bekümmert. „Wir stießen in der Todeswüste auf ihn und seinen Freund George. Sie waren halb verdurstet. Wir retteten sie, daraufhin schlossen sie sich uns an.
Karon war auf der Suche nach eurem Bruder Amos, der bei dem Magier Teufat zusammen mit Georges Bruder Krieger ausbildete. Doch er kam leider zu spät. Der Magier hatte sie bereits lange vorher getötet“, erzählte Hetzel.
„Waren Karon und George bis zuletzt dabei?“, wollte Rowan wissen.
„Karon war fast bis zuletzt bei uns. George jedoch kam in der Todeswüste um. Der Magier Teufat tötete ihn. Aber er hat es verdient, denn er verriet Samiras an den Zauberer, die fast dabei umgekommen wäre“, sagte Hetzel hart.
Rowans vorher funkelnde Augen hatten sich getrübt. War es der Schatten einer Ahnung? War es die Furcht zu erfahren, dass etwas oder jemand unwiederbringliche Vergangenheit war? Hatte diese Erkenntnis einen Schleier vor seine eben noch so strahlenden Augen gezogen? Was hatte der Zwerg gesagt? Karon sei fast bis zuletzt bei seinen Gefährten gewesen. Fast! Und wieso nicht bis ganz zum Schluss?!
Rowan schluckte, räusperte sich, setzte zum Sprechen an. Doch diese Frage wollte nicht über seine Lippen. Die Antwort mochte vielleicht zu schrecklich sein. Und doch war sie letztendlich so viel schrecklicher, als er sich überhaupt ausmalen konnte.
Hetzel, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, erkannte seine Sorge, erkannte seine Qual. Auch Unwissenheit kann zerstören, dachte er. Rowan muss die ganze Wahrheit erfahren.
Und so erzählte er von Karon. Erfreute sich ein letztes Mal an Karons Kameradschaft, seiner Ehrenhaftigkeit, seiner Freundschaft und seiner absoluten Loyalität.
„Selbst der kühle und zurückhaltende Elfenkönig schloss Freundschaft mit ihm. Da hatten wir sämtliche Herausforderungen überwunden, waren dem Erfolg so nahe und dann ...“, Hetzel stockte.
„Und dann? Was war dann? Was ist meinem Bruder passiert? Ich muss es wissen, Hetzel. Sag es mir.“
Hetzel legte den Kopf in die Hände und seufzte. „Dann kam der Moglack“, flüsterte er.
Und wie damals spürte er das Grauen beim Anblick des Ungeheuers, spürte dessen grenzenlose Bosheit, seine Mordgier und seine Hinterhältigkeit. Sah den Gnom Urselik am Gift des Moglack qualvoll sterben.
Hörte die Geräusche herabstürzender Gesteinsmassen, die das Ungeheuer aufhalten sollten. Sah sich und die Gefährten bis zu dem nach draußen führenden Brunnen fliehen. Und hörte Tolkar mit der bewusstlosen Pantherin auf den Armen auf die Frage nach Karon sagen: „Er kommt nicht mehr zurück.“
„Danach erfuhren wir von Tolkar, dass Karon bei dem toten Gnom Urselik in dem Stollen geblieben war. Der Moglack hatte auch ihn verletzt und diese Verletzung hätte ihn zu einem unvorstellbaren Ungeheuer mutieren lassen. Von dem Menschen Karon wäre nichts geblieben.
Es war seine Entscheidung, aber in Wirklichkeit hatte er keine Wahl“, schloss Hetzel, der gar nicht gemerkt hatte dass er seine schrecklichen Erinnerungen laut durchlebt hatte.
Rowan saß in sich zusammengesunken wie erstarrt. Er wollte nicht denken. Wollte die Wahrheit nicht wissen, wollte sich nicht klarmachen, dass er als einziger von seiner Familie übriggeblieben war.
Vier Brüder und eine Schwester waren sie gewesen. Sie hatten sich geliebt, hatten in manch schwieriger Situation treu zueinandergestanden. Seine Familie war nicht begütert gewesen. Aber sie hatten ihr Auskommen und waren eine glückliche Familie gewesen.
Bis zu dem Tag, als eine Horde absonderlicher Wesen, Skorps genannt, gemeinsam mit einer skrupellosen Verbrecherbande Kaffra überfallen, Mensch und Tier niedergemetzelt und die Stadt in Brand gesetzt hatte.
Sein Bruder Baros, seine Schwester Marita und seine Eltern waren bei dem Massaker umgekommen. Er machte sich noch immer Vorwürfe, nicht daheim gewesen zu sein. Vielleicht hätte er wenigstens seine Familie retten können, wenn schon nicht alle in Kaffra lebenden Menschen.
Danach hatte er sich auf die Suche nach Amos und Karon begeben. Doch auch sie werde ich niemals wiedersehen, dachte er wehmütig. Denn wie er jetzt wusste, war Amos von dem Magier Teufat getötet worden, und Karon hatte in den unterirdischen Gewölben der Stadt Zophtarr den Tod gefunden.
Einzig er war übriggeblieben. Aber wie lange noch? fragte er sich niedergeschlagen. Vielleicht landete er in den Mägen der Orks. Vielleicht gelang ihm die Flucht. Im Augenblick jedoch waren ihm beide Möglichkeiten völlig einerlei. Was er von dem Zwerg Hetzel erfahren hatte war so schrecklich, dass er vor lauter Verzweiflung und Niedergeschlagenheit nicht mehr ein noch aus wusste.
„Und hinter all diesen Gräueltaten steckt immer wieder dieser dreimal verfluchte Dämon“, grollte Hetzel. „ER ist es, der immer wieder das Böse zu gigantischer Größe wuchern lässt. ER verdirbt Alles und Jedes.
Wir müssen diesen Mistkerl loswerden! Und genau dabei werde ich Samiras unterstützen und wenn es das Letzte ist, dass ich in meinem Leben tue. Ich will nicht, dass Karons und Urseliks Tod und der Tod all der vielen anderen umsonst gewesen ist. Vielleicht kehrt hier ja endlich für eine lange Zeit Ruhe und Frieden ein, wenn endlich dieser grässliche Dämon verschwunden ist!“
Hetzels wütender Ausbruch riss Rowan aus seiner lethargischen Stimmung. Der Zwerg hatte ja recht! Es gab jemanden der die Schuld an all dem Leid trug. Und IHN musste man bestrafen. Oh ja, das war wahrlich eine Aufgabe, für die es sich zu sterben lohnte!
„Ich bin dabei, Hetzel. Und wenn ihr mich nicht haben wollt, jage ich diese Bestie eben auf eigene Faust. Ich werde meine Brüder rächen, so wahr ich Rowan heiße.
Und falls ich dabei auch noch einige von dieser Kretox-Bande zwischen die Finger bekomme, würde mich das sehr, sehr glücklich machen.“
„Guter Spruch, Rowan“, grinste Hetzel. „Doch zuerst einmal müssen wir hier raus. Hast du eine brauchbare Idee?“
„Vielleicht die, dass ich ...“ Er konnte nicht zu Ende sprechen, denn in diesem Moment flog die Tür krachend auf.
Diesmal stampfte ein anderer Ork auf Hetzel zu. Er riss ihn am Kragen hoch und schleppte ihn mehr als er ging nach draußen. Krachend schlug die Tür hinter ihnen zu.
Auf der anderen Seite wurde der Riegel vorgeschoben, dann verklangen die schweren Schritte des Ork. Und Rowan fragte sich besorgt, ob er den Zwerg jemals wiedersehen würde.