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DIE STRASSE DER ZUKUNFT
ОглавлениеImmer wieder nahm Samiras unterwegs die Skizze mit der eingezeichneten „Straße der Zukunft“ in die Hand, die sie in dem schmalen, roten Buch gefunden hatte. Der Vers in dem Buch warnte vor schrecklichen Gefahren, denen sie nur allzu gern ausgewichen wäre. Andererseits jedoch konnte sie nur dort den „Stein der Wahrheit“ finden, der ihr helfen und sie leiten würde. Also würde sie sich wohl oder übel den Gefahren stellen müssen.
Nach einer kurzen Rast, sie hatte den letzten Bissen kaum runter geschluckt, sprang Danina auf und machte sich davon. Samiras erhob sich seufzend und eilte ihrer Gefährtin hinterher. Ohne Pause ging es weiter. An brachliegenden, von den Bauern verlassenen Feldern und Gehöften vorbei, die jedoch immer spärlicher wurden, bis nur noch verdorrende Wiesen das Bild bestimmten. Dürre und Verfall, soweit das Auge reichte. Zeichen des immer rascher um sich greifenden Verderbens. Die Zauberin hatte nicht übertrieben, begriff Samiras erschrocken. Die Zeit drängte. Sie mussten sich beeilen.
Irgendwann wurde der Boden hügeliger und das Gehen beschwerlich. Trotzdem kamen sie bis zum Nachmittag gut voran. Doch dann versperrte ihnen eine Hügelkette den Weg, die höchste bislang. „Rasten wir erst oder gehen wir weiter?“, fragte Samiras. Aber die Pantherin war nicht mehr neben ihr. Sie verschwand gerade auf der anderen Seite der Anhöhe. „Also keine Pause“, seufzte Samiras und kletterte ihr hinterher.
Oben angekommen sah sie unter sich eine breite Senke liegen, die sich zwischen mit Felsgestein verstärkten Wällen tief ins Land hineinschob und nicht besonders einladend aussah. Ich gehe da auf keinen Fall hinein! Eher gehe ich den ganzen Weg wieder zurück! Widerstrebend machte sie sich an den Abstieg.
Die Pantherin wartete in einer Lücke zwischen den Wällen auf sie.
„Keine Chance“, sagte Samiras. „Da bringen mich keine zehn Pferde rein. Wir wissen ja noch nicht einmal, wohin die Senke führt. Vielleicht laufen wir geradewegs in eine Falle.“
Daninas Antwort war ein ungeduldiges Fauchen. Als Samiras jedoch keinerlei Anstalten machte ihr zu folgen, kam sie unwillig knurrend heran und riss ihrer Gefährtin den Lederbeutel aus der Hand.
„He! Was soll das?“, rief Samiras überrascht.
Danina beachtete sie nicht. Sie zerrte mit den Zähnen den Verschluss auf, stülpte den Beutel um, schnappte sich die heraus flatternde Skizze und warf sie ihrer verdutzten Gefährtin vor die Füße, die endlich begriff.
„Du meinst, die Senke da ist die „Straße der Zukunft“? Soll das etwa ein Witz sein? Die Vertiefung dort kann man doch nicht als Straße bezeichnen!“
Daninas Antwort war ein kräftiger Stoß in die Seite, der Samiras fast von den Beinen riss.
„Sei nicht so ruppig. Man wird sich ja wohl noch Gedanken machen dürfen. Schließlich kannst selbst du dich ja trotz deiner besonderen Fähigkeiten auch mal irren, oder?“
Doch sie verschwendete nur unnötig ihren Atem. Ihr Protest ging ins Leere, denn Danina verschwand gerade in der Senke. Samiras blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Also warf sie ihre Bedenken über Bord, sammelte hastig ihre Habseligkeiten wieder ein und eilte ihrer Gefährtin hinterher.
Die unvermutete Hitze traf sie wie ein Faustschlag. Als sie Danina endlich eingeholt hatte, war sie in Schweiß gebadet. Anfangs hielt sie das Tempo der Pantherin mit, fiel aber nach einer Weile immer weiter zurück. Sie fühlte sich so matt, als sauge der Boden sämtliche Kraft aus ihren Gliedern. Und die Hitze wurde mit jedem Schritt drückender. Apathisch trottete sie mit gesenktem Kopf hinter Danina her, der die Bruthitze nichts auszumachen schien.
Samiras wusste nicht wie lange sie sich bereits in dieser Hölle aufhielt, als sich die Luft um sie herum plötzlich veränderte. Nebelfetzen die etwas Rotes, Oszillierendes verbargen waberten bebend und schwankend auf sie zu. Und dann bewegte sich auch noch der Boden unter ihren Füßen.
Was war das?!
Die Schwingungen wurden stärker, vermischten sich mit Stimmen und schrillen Geräuschen, die ihren Kopf fast zerspringen ließen. Mit letzter Kraft wehrte sie sich gegen die Stimmen – und plötzlich waren sie fort und ihr Kopf wieder frei.
Sie schloss mit bebenden Fingern den Riegel an der Tasche in der Mawi fest schlief und beeilte sich Danina einzuholen, als sich die grässlichen Stimmen erneut und mit verstärkter Wucht auf sie stürzten und ihren Kopf marterten. Sie versuchte zu schreien, wollte Danina zu Hilfe rufen, doch kein Laut drang über ihre Lippen. Ihre Stimmbänder verweigerten einfach den Dienst.
Wieso hört Danina nichts? fragte sie sich voller Qual und hielt sich die Ohren zu. Aber natürlich half das nicht, denn die Stimmen drangen nicht von außen auf sie ein, sondern schrien in ihrem Schädel, der fast zerbarst. Als sie strauchelte, bemerkte sie schaudernd phosphoreszierendes Leuchten unter ihren Füßen, das ihre Stiefel umklammerte und jeden Schritt zur Qual werden ließ. Und dann sackte plötzlich auch noch der Boden etwa einen halben Meter unter ihr weg, und das Kreischen in ihrem Kopf verstummte abrupt. Doch da nahten neuerliche Schrecken!
Wabernde Schatten sprangen aus dem Nichts, materialisierten zu monströsen Gestalten die ihr den Weg versperrten und sie von ihrer Gefährtin trennten, die noch immer nichts bemerkte.
Samiras blieb wie angewurzelt stehen und starrte fassungslos auf das unglaubliche Szenarium vor sich. Sie versuchte zu schreien. Umsonst. Ihre Stimmbänder waren noch immer blockiert. Einem Albtraum entsprungene Wesen bevölkerten die Straße; und der Boden war mit apfelgroßen Skorpionen übersät. Schreckliche Gesichter wandten sich ihr zu. Klauenhände drohten mit Krummsäbeln und Äxten, Schwertern und Eisenketten. Große und kleine, gesunde und missgestaltete Körper stürmten und humpelten, krochen und taumelten kreischend auf sie zu.
Samiras riss den Dolch, den ihr Xzatra gegeben hatte, aus der Scheide und stach auf alles ein, was sich ihr näherte. In letzter Sekunde wich sie dem Schlag einer Streitaxt aus, der in Brusthöhe an ihr vorbei sauste, und parierte Stahl, der dicht an ihr Gesicht herankam. Sie kämpfte so gekonnt, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Schlagend und stechend versuchte sie Danina zu erreichen, die von alledem nichts bemerkte. Ihr skalpellscharfer Dolch schlug eine Schneise der Vernichtung in die sie bedrängenden Kreaturen, doch diese gaben nicht auf.
Nur für eine Sekunde vergaß Samiras die Gefahr, in der sie schwebte und sah Danina hinterher, die sich immer weiter von ihr entfernte. Und dieser kurze Moment wäre ihr fast zum Verhängnis geworden!
Plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen; Hände wie Eisenklammern rissen sie nach vorne und in die Luft; unaufhaltsam flog sie über den Kopf des Zerrbildes eines Mannes hinweg und stürzte mit einem schrecklichen Aufprall zu Boden. Eine Axt blieb knapp neben ihrem Kopf im Boden stecken; ein Messer schrammte über ihre Hand. Sie warf sich zur Seite und... schrie! Sie hatte ihre Stimme wieder!
„Hilfe Danina! Zu Hilfe!“
Die Pantherin fuhr mit einem Ruck herum. Sekunden später wütete sie wie ein Berserker unter den Angreifern. Aber auch sie stand auf verlorenem Posten, denn dort, wo eine der schaurigen Kreaturen fiel, tauchten zwei neue, noch scheußlichere auf. Es ist sinnlos, dachte die Pantherin. Wir müssen fliehen. Ich muss Samiras auf meinem Rücken aus der Gefahrenzone bringen.
Diese hatte sich zwar wieder aufgerappelt, aber der harte Aufprall auf dem felsigen Boden hatte sie mitgenommen. Ihre Bewegungen waren längst nicht mehr so sicher und ihre Abwehr so schwach, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie unterlag. Bisher hatte sie außer Abschürfungen und kleineren Verletzungen nicht viel abbekommen, doch das konnte sich sehr schnell ändern. Wir müssen hier weg, dachte auch sie. Aber wie?
Da war Danina mit zwei Sätzen neben ihr, und Samiras schwang sich so selbstverständlich auf den muskulösen Rücken, als hätte sie es schon tausend Mal getan. Ihre Hände umklammerten den sehnigen Hals, und die Pantherin jagte mit ihrer Last wie ein Schemen an den vor ihr zurückweichenden Höllenkreaturen vorüber. Samiras stöhnte unter einem neuerlichen Ansturm der grauenhaften Stimmen. Halb bewusstlos vor Qual lag sie auf Daninas Rücken. Sie schloss die Augen und setzte den Rest ihres Willens dafür ein, nicht herunterzufallen.
Mit weiten Sprüngen jagte die Pantherin aus der Gefahrenzone heraus, und je weiter sie sich entfernten, desto schwächer wurden die Stimmen hinter Samiras´ Stirn, bis sie endlich gänzlich verstummten.
Ohne ihr Tempo zu verringern, lief Danina noch etwa eine Meile, bis sie zwischen einer Anzahl bizarr geformter Felsen stehen blieb. Samiras stieg von ihrem Rücken und wankte zu einem Felsen hinüber. Sie lehnte sich dagegen, aber ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich lieber hinsetzte. Sie blickte Danina an, die unverletzt, mit dem Lederbeutel im Maul, ihren Blick erwiderte.
Der Lederbeutel! Die Pantherin hatte ihn die ganze Zeit lang getragen, wohl wissend, dass er für sie lebenswichtig war. Und sie? Sie hatte ihn glatt vergessen!
Sie senkte beschämt den Kopf und musterte ihre verschrammten Hände. Doch da waren keine Schrammen! Keine Verletzungen! Aber sie hatte den Schnitt gespürt und war trotzdem unverletzt. Wie konnte das sein? Natürlich! Und endlich begriff sie, dass sie der „Straße der Zukunft“ entkommen war. Nur sie, denn Danina war gegen diese Art von Magie gefeit. Deshalb hatte sie auch nichts von ihrer Not spüren können.
Danina kam näher und ließ den Lederbeutel vor ihre Füße fallen. Ich bin hungrig hieß das und das war sie nicht allein, denn in der verschlossenen Umhangtasche meldete sich nun auch Mawi.
Samiras stillte den Hunger ihrer beiden Gefährten und nahm für sich selbst nur einen Apfel. Doch als sie hinein beißen wollte, erwachte die Frucht zu plötzlichem Leben.
„Iiigitt!“, kreischte sie beim Anblick der Maden und ließ den Apfel fallen. Ein besonders fettes Exemplar erklomm unternehmungslustig ihre Hand, glitschte über ihren Zeigefinger und fiel ihr in den Schoß. Samiras sprang erschrocken auf und ... die Maden waren verschwunden. Rund und appetitlich lag die Frucht vor ihr auf dem Boden. Ein neuerliches Trugbild hatte sie genarrt und sie erkannte, dass allein der „Stein der Wahrheit“ sie vor Sinnestäuschungen würde bewahren können. Doch wo sollte sie nach ihm suchen? Vielleicht hier? Hatte Danina sie deshalb hierher gebracht?
Nachdenklich glitt ihr Blick über die Felsen vor sich. Und plötzlich fiel ihr etwas auf. Sie stand auf und trat an die Felswand heran.
Mit dem Finger zeichnete sie eine etwas hervorstehende Form nach, die mit ein wenig Fantasie einem Schlangenkopf mit einer Krone glich. Und plötzlich, sie berührte die mittlere Spitze der Krone, glitt ein Teil des Felsens lautlos zur Seite und gab eine dunkle Öffnung frei. Samiras versuchte in der samtenen Schwärze etwas zu erkennen. Hatte sie wirklich den Zugang zum „Stein der Wahrheit“ entdeckt? Zögernd trat sie näher.
UND ETWAS GESCHAH!
Die Schwärze des Durchgangs veränderte sich. Flimmerndes Silber fing ihren Blick ein, hielt ihn fest und lenkte ihn auf eine unvermittelt vor ihr auftauchende, kürbisgroße kristalline Form. Und plötzlich erkannte sie mit sonderbarer Klarheit hinter dem Schwarz eine nach unten führende Steintreppe, einen Gang, schummrige Räume und in einem dieser Räume auf einem Sockel liegend den begehrten Stein.
„Wir müssen ihn holen“, flüsterte sie. Der Nachhall ihrer Worte schwebte noch in der Luft, da verschwand die kristalline Erscheinung und mit ihr die samtene Schwärze. Der Blick auf die nach unten führende Treppe war frei. Vorsichtig stieg sie hinter Danina die jahrtausendealten Steinstufen hinab.
Doch es ging nicht annähernd so tief hinunter wie sie vermutet hatte. Wenig später erreichten sie das Ende der Treppe und blieben stehen. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sah.
„Wir brauchen Licht“, flüsterte Samiras. „Eine Fackel wäre nicht schlecht.“
Danina knurrte und sah sie auffordernd an.
„Was ist denn?“ Und dann fiel es ihr ein. Natürlich! Die Leuchtkiesel, die ihr die Zauberin Xzatra mitgegeben hatte. Sie öffnete die silberne Dose und nahm einen heraus. Sofort wurde es hell, sodass sie die schweren Holztüren in den hohen Wänden des langen Ganges erkennen konnte; und hinter einer dieser Türen wartete der „Stein der Wahrheit“ auf sie. Aber hinter welcher? Entschlossen öffnete sie die erste Tür.
Nichts. Der Raum dahinter war vollkommen leer.
Die zweite Tür. Und wieder nichts. Auch der dritte und vierte Raum waren leer. Doch bei der fünften Tür stieß Samiras auf Widerstand. Nur mit Mühe ließ sie sich einen Spalt breit öffnen. Sie zwängte sich hindurch. Hinter der Tür blieb sie stehen. Es war stockdunkel, und da sie dummerweise den Leuchtkiesel draußen im Gang hatte liegen lassen, musste sie noch einen nehmen.
Es wurde zwar hell, doch lange nicht so hell wie draußen auf dem Gang. Anscheinend absorbierten die Wände einen Teil des Lichts. Doch gab es hier auch nicht viel zu sehen. Sie stand in einem vollkommen leeren Raum, den eine etwa mannshohe Mauer unterteilte, durch die ein kaum türbreiter Durchgang in die andere Hälfte des Raumes führte. Allerdings würde sie dort den Stein nicht finden, denn der Sockel in ihrer Vision war weitaus höher als diese Mauer gewesen.
Also wieder nichts. Und trotzdem konnte sie den Raum nicht verlassen, denn ein schier übermächtiger Drang trieb sie weiter. Sie musste unbedingt wissen, was sich hinter dem Durchgang verbarg. Wie in Trance bewegte sie sich auf die Öffnung zu und ging hindurch.
Eine sachte Bewegung an ihren Beinen riss sie aus ihrem Dämmerzustand. Wo war sie? Und was waren das für schleifende und schabende Geräusche? Sie blickte zu Boden.
Boden?!
Von einem Boden war nichts zu sehen unter den sich windenden, krümmenden und ringelnden Schlangenleibern der unterschiedlichsten Größen, Muster und Farben. Es mussten Hunderte sein!
Samiras schrie entsetzt auf und warf sich herum. Nur weg hier, war ihr erster Gedanke, den die Panik ihr eingab. Doch nach drei Schritten war ihre Flucht bereits zu Ende, denn eine riesige Kobra versperrte ihr den Weg. Samiras blieb stocksteif stehen. Die starren Augen der Königskobra fingen ihren Blick ein und hielten ihn fest.
Und im selben Moment fielen Angst und Anspannung von ihr ab wie ein zu groß geratener Mantel, und ihre Sensibilität verinnerlichte die von Güte und Wärme erfüllte Aura, die sie umgab. Die weiche Stimme der Schlange drängte sich in ihre Gedanken und sie entspannte sich.
„Seit Anbeginn der Zeit wird der „Stein der Wahrheit“ von uns Schlangen beschützt, damit er nicht in unbefugte Hände fällt. Doch keine Angst, Samiras. Du hast nichts zu befürchten“, wisperte es hinter Samiras´ Stirn.
„Wer bist du? Und woher weißt du wie ich heiße?“, flüsterte Samiras.
„Ich bin Ashra, mein liebes Kind. Wir Schlangen kennen und lieben dich, denn du gehörst zu unserer Vergangenheit, zu unserer Zukunft und zu den alten Sagen unseres Volkes. Eines Tages, wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns wieder begegnen und du wirst alles erfahren.“
„Du sprichst nicht wirklich. Wieso verstehe ich dich?“
Können Schlangen lächeln? Ashra jedenfalls konnte es. „Natürlich verstehst du mich. Wir Schlangen, und nicht nur wir, verständigen uns telepathisch. Auch du beherrschst diese Gabe neben deinen vielen anderen, noch in dir schlummernden Fähigkeiten.“
„Du meinst, andere Lebewesen werden meine und ich ihre Gedanken verstehen?“, fragte Samiras ungläubig.
„Ja, das und vieles mehr. Doch nun lass uns keine Zeit mehr verlieren. Sollte es dir gelingen, zu dem „Stein der Wahrheit“ vorzudringen, darfst du ihn so lange an dich nehmen, bis er sich dir offenbart. Danach musst du ihn jedoch zurückgeben. Lege ihn am Ende der Straße unter die schwarze Scheibe, die du zwischen zwei nadelförmig aufragenden Felsspitzen finden wirst. Und nun geh, mein Kind, das Schlangenvolk wünscht dir viel Glück“, sagte Ashra sanft.
„Und hüte dich vor Teufat, denn dein Erlebnis auf der „Straße der Zukunft“ war nicht nur Vision. Der Magier hatte seine Hände im Spiel. Er wollte dich töten. Doch nun geh.“ Ashra glitt beiseite und gab den Weg frei.
Samiras durchquerte den Raum und trat hinaus in den Gang. Gemeinsam mit Danina setzte sie die Suche fort. Hinter der neunten Tür endlich fanden sie den Stein. Doch das raumhohe Gitter hinter dem er lag, war eine böse Überraschung.
„Und was nun?“, fragte Samiras. „Hast du vielleicht eine Idee wie ich auf die andere Seite des Gitters komme?“
Danina schlug mit ihren Pranken gegen das Gitter. Da entstand in dem dichten Metallgeflecht ein melonengroßes Loch.
„Sehr schön, meine Gute, aber leider noch nicht groß genug für mich. Mach weiter.“
Danina schüttelte den Kopf und legte sich hin, was bedeutete, dass es nicht möglich war. So einfach ging es also nicht. Aber so dicht vor dem Ziel würde sie bestimmt nicht aufgeben. Aber was konnte sie tun? Da wischte eine winzige, raue Zunge über ihre Hand und bevor sie begriff, was Mawi vorhatte, hangelte er sich an ihrem Umhang hinunter, sprang zu Boden, krabbelte flink am Gitter hoch, sprang mit einem Satz durch das Loch und verschwand hinter dem Granitsockel.
Kurz darauf tauchte sein kleines Gesicht mit den winzigen Ohren über dem Rand des Sockels auf. Er drückte gegen den apfelgroßen Stein, dieser rollte vom Sockel herunter und fiel vor die Öffnung. Das Mauswiesel kletterte mit verblüffender Geschwindigkeit wieder hinab und flitzte zu dem Loch. Bevor Samiras es sich versah, saß Mawi bereits wieder in seiner Schlaftasche.
Jetzt war es kinderleicht. Ein Griff, und der Stein lag in ihrer Hand. Und plötzlich hatte sie es eilig, wieder ans Tageslicht zu kommen. Kurz darauf schloss sich der Felsen so fugenlos hinter ihr und Danina, als hätte es niemals einen Zugang ins Innere gegeben.
Die Pantherin legte sich hin und Samiras setzte sich neben sie. Nachdenklich musterte sie den unscheinbaren Stein in ihrer Hand. Wie kann ich ihm sein Geheimnis entlocken? dachte sie und strich mit dem Finger sachte über die glatte Oberfläche.
Da erwachte der Stein zu magischem Leben. Er fing den Blick ihrer smaragdgrünen Augen ein, wurde größer und größer, bis er ihr Blickfeld völlig ausfüllte. Pulsierende Leuchtfäden irrten über den Stein, vereinigten sich und machten Bilder sichtbar, die sich auf der glatten Fläche bewegten.
Ein See, eingeschlossen zwischen hohen Gebirgswänden. Eine schmale Holzbrücke, die zu einem Durchgang in der gegenüberliegenden Felswand führt. Modriges Wasser peitscht gegen den Steg und aus der Mitte des Sees wölbt sich etwas riesiges, unsagbar Böses empor.
Ein neues Bild!
Ein Untier, mindestens hundertfünfzig Fuß lang, starrt sie mordlüstern an. Eine lebende Waffe das ganze Geschöpf, angefangen beim stachelbewehrten Schwanz bis hin zum wagongroßen Maul.
Ein drittes Bild!
Ein schneeweißes Einhorn, den edlen Kopf sichernd erhoben. Ein herrlicher Wald mit uralten Bäumen in deren dicht belaubten Kronen Vögel singen und Eichhörnchen übermütig von Ast zu Ast springen. Zu dem ersten Einhorn gesellen sich zwei weitere hinzu, ein weibliches Tier mit seinem Jungen. Plötzlich schwirrt ein Pfeil durch die Luft und trifft das Junge. Wie vom Blitz getroffen bricht es zusammen.
Sollte das wirklich die Zukunft sein? Hoffentlich nicht, dachte Samiras und ahnte doch, dass sich ihre Hoffnung nicht erfüllen würde. Der „Stein der Wahrheit“ zeigte die Zukunft und deshalb würde die Gefahr im See ebenso zur Realität werden wie die Begegnung mit der Bestie und den Einhörnern. Sie schaute auf den Stein. Das Leuchten wurde schwächer, das Pulsieren verging. Da erwachte der Stein ein letztes Mal:
Zwei Schlangen, majestätisch schön. Die eine mit einer Krone aus Perlen und Smaragden, Rubinen und Diamanten geschmückt, die andere ... „Ashra!“, flüsterte Samiras. Das Bild gewinnt an Tiefe. Der Hintergrund wird klar. Und da steht Danina mit einem weinroten Samtbeutel im Maul. Sie verbeugt sich vor der Kobra mit der Krone auf dem schmalen Kopf, dann geht sie davon.
Samiras drehte den Stein in ihrer Hand. Jetzt war er kalt und glatt, die pulsierende Wärme zusammen mit seiner Magie verschwunden. Er hatte sich ihr offenbart und nun war es an der Zeit, ihn unter die schwarze Scheibe zu legen und den Schlangen zurückzugeben.