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ОглавлениеÄltere Damen an Bushaltestellen
Susy Schmid
Mein Gehstock heisst Krücki und macht mich zehn Jahre älter. Seit ich vor einiger Zeit auf dem Eis ausrutschte und mir mein rechtes Knie ruinierte, fühle ich mich mit meinem soliden Stock aus Aluminium und blauem Plastik einfach sicherer. Natürlich hinken und schlurfen unzählige Leute durch die Stadt, die eine Gehhilfe wesentlich nötiger hätten als ich, die aber aus Eitelkeit darauf verzichten. Ich bekenne mich zu Krücki.
Und seit wir jeweils gemeinsam an der Bushaltestelle warten, Krücki und ich, haben die älteren Damen angefangen, mit mir zu sprechen.
Schweizerinnen und Schweizer gelten ja als eher reserviert, daher fand ich es schon immer interessant, wie unbefangen und selbstverständlich bei uns Frauen ab etwa 60 eine Unterhaltung miteinander beginnen. Und obwohl ich erst 49 bin, seit zwei, drei Jahren, macht mich Krücki zum Ehrenmitglied dieser Schwesternschaft. Ich muss nur einigermassen freundlich dreinschauen, mein Smartphone in der Tasche lassen und ein Schwatz mit der Lady, die schon auf dem Bänkchen beim Gemeindehaus Windisch auf den Bus wartet, ist beinahe garantiert.
Heute ist es Käthi Frischknecht, die da sitzt. An diesem kühlen Donnerstagmittag im Frühsommer ist sie noch ein wenig sonntäglicher gekleidet als sonst: eleganter, schwarzer Mantel mit Brosche am Aufschlag, Seidenfoulard, schicke, schwarze Schuhe mit mittelhohem Absatz. All das registriere ich, während ich auf dem Trottoir auf die Haltestelle zugehe. Bei Käthi angekommen, fühle ich mich trotzdem veranlasst, zu sagen: «Ui, Käthi, du siehst aber gar nicht gut aus!»
Sie schaut aus roten Augen zu mir auf und schüttelt den Kopf. Sie greift nach meinem Arm, ich helfe ihr beim Aufstehen. Zwischen den Bäumen beim Amphitheater kommt der Bus in Sicht.
«Ich muss ins Kantonsspital», sagt Käthi, der jetzt das helle Wasser aus den Augen rinnt. «Zu meiner Tochter, Jasmin. Vielleicht … vielleicht stirbt sie.»
«Jesses Gott! Was ist denn passiert?»
Als wir im Bus nebeneinandersitzen, erzählt mir Käthi, ihre Tochter, die in Villnachern lebe, sei bewusstlos auf dem Boden ihres Badezimmers aufgefunden und mit der Ambulanz ins Spital gebracht worden. Sie habe eine Schädelfraktur und mehrere gebrochene Rippen, von denen eine die Lunge schwer verletzt habe.
«Sicher war sie am Putzen. Ich habe ihr immer gesagt, sie solle nicht auf den Badewannenrand stägern! Und das Mäxli hat sie gefunden.»
«Dein Enkel?»
«Meine Enkelin. Maximiliane Rubina. Ihr Vater ist Deutscher, der Name war seine Idee.»
«Kommt er auch ins Spital?»
«Nein. Er und Jasmin sind schon lange geschieden.»
Am Bahnhof eilt Käthi davon, um ihren Zug zu erwischen. Ich schaue ihr nach. Sie tut mir so leid.
Ich erledige meine Besorgungen. Auf dem Heimweg treffe ich Irmi Kunz, eine andere Haltestellenbekanntschaft. Ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit Käthi.
«Sie hat geweint?», fragt Irmi erstaunt. «Dabei hatten die beiden ständig Streit. Jasmin ist auch nicht Käthis leibliche Tochter. Sie stammt aus der ersten Ehe von Käthis Mann. Das war der, der damals beim Baden in der Reuss ertrunken ist. Er und Käthi waren erst ein paar Jahre verheiratet.»
Wie immer ist Frau Kunz, pensionierte Lokalreporterin, bestens informiert.
Am nächsten Morgen steht die muntere Dame mit dem Bündner Akzent, die am Fliederweg wohnt, an der Haltestelle. Bevor ich «Allegra» sagen kann, streckt sie mir schon ihre Zeitung entgegen.
«Haben Sie gesehen? Frau Frischknecht! Mit Bild!»
Das nationale Revolverblatt handelt den Fall auf einer ganzen Seite ausführlich ab. Demnach ist Jasmin nicht beim Putzen, sondern während eines ausgedehnten Schaumbads, aufs Brutalste zusammengeschlagen worden. Und zwar mit einem fast lebensgrossen, schwarzen Panther aus Porzellan, der seit Jahrzehnten in der Diele gestanden hatte. Sie liegt im Koma. An einem Kellerfenster hat die Polizei Einbruchsspuren entdeckt.
Käthi, die man interviewt und fotografiert hat, weiss nur Gutes über ihre Stieftochter zu sagen. Natürlich habe der Tod von Jasmins Vater sie beide enorm zusammengeschweisst.
«Hat diese Jasmin denn keinen Job?», fragt die Bündnerin. «Am Donnerstagmorgen habe ich jedenfalls keine Zeit für stundenlange Schaumbäder! Und ich bin pensioniert!»
Ich will sie auf das Recht jeder Frau auf ein bisschen Me-Time hinweisen, einzuziehen notfalls auch am Donnerstagmorgen, da fährt neben uns der Bus heran.
Am Samstagvormittag ist immer viel Betrieb an der Haltestelle. Zeit für den Wochenendeinkauf.
Irmi Kunz hat ihr Wägeli dabei, ein stabiles Modell aus Rattangeflecht. Ich wünsche ihr einen guten Morgen. Gemeinsam begrüssen wir die Bündnerin und dann kommt noch Lydia dazu, eine weitere Quartierbewohnerin, die ich von einem Strassenfest her kenne.
Das Gesprächsthema läge eigentlich auf der Hand, aber wir sind alles wohlerzogene Damen und tasten uns über das heutige Wetter, das gestrige Wetter und das mutmassliche Wetter in Villnachern zur Tatzeit langsam an den Gegenstand heran. Der Bus hat samstags oft erheblich Verspätung.
Lydia, die Psychologie studiert hat, erzählt von einer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Barometerstand und Aggressivität im Strassenverkehr. Über ihre Schulter sehe ich Käthi Frischknecht aus einer Quartierstrasse kommen und auf uns zuhalten. Ich mache eine warnende Handbewegung. Lydia versteht und beginnt, vom neuen Auto ihres Schwiegersohns zu schwärmen.
Ich trete zwei Schritt zur Seite, öffne den Kreis, damit sich Käthi zu uns stellen und mitreden kann.
Sie schaut mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde, hebt das Kinn, schreitet an uns vorbei und setzt sich auf die leere Bank.
Ich gehe zu ihr hinüber. Die anderen Frauen ziehen mit und arrangieren sich neu, rechts und links von mir.
«Guten Morgen, Käthi. Wie geht es deiner Tochter?», frage ich.
Ihr Gesicht verzieht sich zu einer tragischen Maske und sie zupft ein Papiernastuch aus dem Ärmel.
«Du musst jetzt nicht weinen, Käthi», sagt Lydia, und sie klingt nicht tröstend, eher resigniert. «Ich weiss, dass du das jederzeit kannst», fährt sie fort, «wie auf Knopfdruck. Eine Freundin von mir war jahrelang mit dir im Dramatischen Verein.»
Käthi ist so baff, dass sie ihr Taschentuch folgsam wieder zurückschiebt.
«Ich habe auch ein bisschen Mühe», schaltet sich jetzt die Bündnerin ein, «Ihnen Ihre Bestürztheit abzunehmen, Frau Frischknecht. Als wir das letzte Mal zusammen auf den Bus gewartet haben, konnten Sie gar nicht mehr aufhören, über Jasmin zu wettern. Haben Sie nicht gesagt, Sie wären nicht überrascht, wenn ihr einmal jemand so richtig die Knöpfe eintun würde?»
Käthi bemüht sich sichtlich um Haltung und es gelingt ihr sogar, einen Ton rechtschaffener Entrüstung anzuschlagen, als sie beginnt: «Aber ich hätte doch nie im Leben …»
«… Jasmin etwas angetan?» unterbricht sie Irmi. «Das glaube ich dir sogar. Du bist weniger der handgreifliche Typ. Aber vielleicht hast du jemand anderen engagiert?»
«Was? Ich soll meiner Tochter einen Killer geschickt haben? »
Aus irgendeinem Grund schauen nun alle mich an. Ich spüre einen gewissen Gruppendruck und räuspere mich. «Einen Killer nicht gerade. Aber einen Einbrecher. Ein Killer hätte eine Waffe mitgebracht. Der Einbrecher benutzte zum Dreinschlagen das, was gerade zur Hand war. Den Panther.»
«Ich habe übrigens gehört», übernimmt Irmi Kunz wieder, «sie hätten an einer Pantherscherbe DNA-Spuren gefunden. »
Käthi macht eine Bewegung, als wolle sie aufstehen. Ihr Kopf zuckt nach rechts und nach links. Rechts stehen Irmi und ihr Wägelchen. Links die Bündnerin und Lydia. Geradeaus stehe ich, mit Krücki.
Käthi sinkt auf ihre Bank zurück.
Lydia sagt: «Ich habe mich auch gefragt, ob das Ganze nur per Zufall am Donnerstag passiert ist. An Fronleichnam. Bei uns, im Bezirk Brugg, haben alle Läden geöffnet. Aber ennet der Reuss, im Bezirk Baden, ist Fronleichnam ein Feiertag, alles ist geschlossen, viele Leute machen sogar ein Brüggli und nehmen am Freitag frei, wie am Auffahrtswochenende. »
«Jasmin arbeitet in Baden», ergänzt Irmi. «Sie hatte also frei. Ihre Tochter Mäxli hingegen musste in Villnachern zur Schule. Zeit für ein schönes Schaumbad, sagte sich Jasmin.»
«Während der Killer – Entschuldigung, der Einbrecher – und seine Auftraggeberin wahrscheinlich in einem Bezirk wohnen, wo Fronleichnam ein gewöhnlicher Werktag ist. Sie dachten, Jasmin sei an der Arbeit», sage ich, ganz begeistert von meiner eigenen Logik.
Dann nehme ich zwei Dinge gleichzeitig wahr: Ich höre den Bus vor dem mintgrün gestrichenen Haus um die Kurve seufzen und sehe, wie Käthi in Ohnmacht fällt und von der Bank zu Boden rutscht.
So herzlos, dass wir nun allesamt in den Bus gestiegen wären und Käthi hätten liegenlassen, sind wir dann doch nicht.
Irmi hebt sorgfältig Käthis Kopf an und Lydia schiebt Käthis Handtasche darunter, während die Bündnerin auf dem Asphalt kniet und die Hand an Käthis Hals legt, um ihr den Puls zu fühlen. Ich habe mein Telefon gezückt und wähle 144. Der Buschauffeur ist ausgestiegen und fragt, ob er helfen könne.
«Danke, ich glaube, wir haben das im Griff», antwortet die Bündnerin. «Ich bin Ärztin.»
«Die Ambulanz ist unterwegs», melde ich.
«Ja, dann», sagt der Busfahrer und steigt wieder ein.
Der Krankenwagen kommt fast sofort. Käthi wird kurz untersucht, in ein Leintuch geschlagen, auf eine Bahre geschnallt, eingeladen und abtransportiert.
Nach einer kurzen Diskussion einigen wir uns darauf, den nächsten Bus in die Stadt zu nehmen und gemeinsam bei Lydias Nichte vorbeizuschauen, die auf dem Polizeiposten arbeitet.
Es dauert ein paar Wochen, bis wir einander wieder zu viert an der Haltestelle treffen. Erst lächeln wir uns nur verlegen an, aber dann beginnen wir darüber zu reden, woher und wie gut Käthi Frischknecht wohl den Schlägertypen kennt, den man zur gleichen Zeit wie sie festgenommen hat. Und dass Jasmin, obwohl nicht blutsverwandt mit Käthi, ebenfalls ein beträchtliches Mass an krimineller Energie bewiesen und ihre Stiefmutter jahrelang erpresst hat. «Mit der handschriftlichen und signierten Erklärung eines Zeugen», weiss Irmi, «der damals von der anderen Seite des Flusses her beobachtet hat, wie Käthis Mann wirklich ums Leben gekommen ist. Der Zuschauer hat auch Fotos gemacht.»
Wir sitzen zu viert, eng aneinandergedrängt, auf dem Bänkchen und sagen: «Ja, ja.»
Wir sagen: «Soihäfeli – Soiteckeli.»
Die Bündnerin sagt: «Ist das nicht der alte Herr Wernli, da drüben?»
Lydia fragt: «Der mit dem jungen Mädchen am Arm?» Ich frage: «Ist seine Frau nicht erst vor zwei, drei Monaten gestorben?»
Irmi lächelt. «Den habe ich auch schon an der Bushaltestelle gesehen.»
Susy Schmid, 1964 in Gebenstorf im Aargau geboren, veröffentlichte 1999 «Die Bergwanderung und andere Grausamkeiten » (Cosmos Verlag, Muri bei Bern). Zuvor hatte sie ein «Schreckmümpfeli» für Schweizer Radio DRS und garstige Geschichten für verschiedene Zeitschriften verfasst. Im Kriminalroman «Himmelskönigin» (Cosmos 2003, Ullstein 2005) wurde Evi Gygax vorgestellt, die seither in regelmässigen Abständen «Leichen quer über ihrem Lebensweg» vorfindet, so in «Das Wüste lebt» (Cosmos 2007) und «Oktoberblau» (Cosmos 2011). Susy Schmid ist Privatlehrerin für Englisch und lebt in Wettingen.