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ОглавлениеWer nicht lesen will …
Regine Frei
Mit einem Knall schlug Kommissar Fuchs die Aktenmappe zu und seufzte tief. Es war bereits zehn Uhr abends und er kam in diesem Fall keinen Schritt weiter. Vor drei Tagen war der Besitzer eines Blumenladens beim Berner Bahnhof mit einem Messer im Rücken aufgefunden worden und noch immer fehlte jede Spur vom Täter. Fuchs beschloss, die Arbeit ruhen zu lassen und knipste die Schreibtischlampe aus.
«Genau das mache ich jetzt auch», murmelte der Verleger Lukas Brügger.
Auch in der Realität war es kurz vor zehn und er fühlte sich so erschöpft wie Kommissar Fuchs in ‹Tod eines Blumenhändlers›. Also wanderte die Mappe zurück auf den kleinen Stapel von Manuskripten, die er möglichst bald lesen wollte.
Brügger hatte den Verlag Bärn-Books vor knapp zwei Jahren gegründet und in seinem kleinen Büro am Nydeggstalden bis jetzt fünf Bücher publiziert. Im ersten Jahr ‹Eine kurze Geschichte der Stadt Bern›, den handlichen Bildband ‹Berner Brunnen› und ‹Berner Gespenstergeschichten›. Letzten Frühling kam ‹Früecher›, die Erinnerungen einer beliebten Primarlehrerin auf den Markt, im Sommer folgte die Anthologie ‹Mein Bern›. Dabei handelte es sich um die besten Geschichten eines Schreibwettbewerbs, den die Kulturförderung der Stadt ausgeschrieben und somit auch die Druckkosten übernommen hatte. Sein neuestes Projekt war ‹Aaregeschichten›, ebenfalls eine Anthologie.
Alle Bücher von Bärn-Books verkauften sich gut und wurden, zur Freude des Verlegers, in der Lokalpresse besprochen. Aber leider hatte der Erfolg auch eine richtige Manuskript-Lawine ausgelöst. Wenn früher hin und wieder ein Autor mit seinem Werk an Brügger gelangt war, so brachte ihm der Paketbote jetzt jede Woche mindestens eines ins Haus. Nur wenige Autoren waren so vernünftig, lediglich digital eine Zusammenfassung und eine Leseprobe einzureichen, wie es auf der Webseite des Verlags verlangt wurde.
Brügger liess den Blick über das überfüllte Regal schweifen, das eine ganze Wand seines Büros einnahm. Erst letzte Woche hatte er seinen Schreibtisch verschoben, damit er die Manuskripte im Rücken hatte und nur jene sah, welche es auf den Tisch und somit in die engere Wahl geschafft hatten.
Früher war hier nur ein hohes, schmales Gestell gestanden, auf dem sich neben einem Wasserkocher und Teebeuteln einige Nachschlagewerke und Manuskripte befanden. Vor ein paar Monaten hatte er die Regalwand kurzfristig mit Ziegelsteinen und Brettern aus seinem Keller erweitert und das neue Regal am alten mit Schnüren festgezurrt. Das Ganze sah aus wie ein Pfadi-Projekt, wackelte auf dem alten Holzboden leicht, tat jedoch seinen Dienst, bis er sich etwas Vernünftiges würde anschaffen können. Irgendwann.
Spontan nahm der Verleger eine schmale Mappe von einem der Stapel. Lyrik! Warum war das hier überhaupt gelandet? Er verstand nichts davon und hätte sofort ablehnen sollen. Kopfschüttelnd warf Brügger die Gedichte auf den Schreibtisch. Gleich morgen musste er mit den Absagen und der anschliessenden Entsorgung der Manuskripte ernst machen. Einen Standardbrief hatte er schon entworfen.
»Da wir bei Bärn-Books nur Titel veröffentlichen, die einen engen Zusammenhang mit der Stadt haben, kommt Ihr Werk für uns nicht in Frage. Wir wünschen Ihnen alles Gute auf der Suche nach einem passenden Verlag.»
Das ‹wir› war ihm wichtig. Es suggerierte, dass mehrere Menschen den Entscheid gefällt hatten und würde die Ablehnung hoffentlich akzeptabler machen.
Ja, er brauchte Unterstützung. Eine Sekretärin, die mit der Druckerei verhandelte, die Post erledigte und ungeduldige Autorinnen wie Hanna Meister am Telefon vertröstete. Die Frau rief ihn alle paar Wochen an, um ihm ihren Roman ans Herz zu legen. Wie sollte er eine Auswahl treffen, wenn er dauernd abgelenkt war und ihm kaum Zeit zum Lesen blieb? Der Gedanke, dass in seinem Büro ein unentdeckter Bestseller schlummerte, war unerträglich.
Zögernd griff er wieder zum ‹Tod eines Blumenhändlers›. Der Regionalkrimi, der im Bern der 1950er Jahre spielte, klang vielversprechend und Krimis lagen im Trend. Auch dieser Autor wartete schon so lange auf eine Rückmeldung, dass es ihm peinlich war, wenn er dem jungen Mann auf der Strasse begegnete. Sollte er das Manuskript mitnehmen und wenigstens einige Seiten im Bett lesen? Er schlug die Mappe in der Mitte auf.
»Ja, den Blumen-Housi habe ich gut gekannt.» Marianne, die hübsche Serviertochter im Bahnhofsbuffet wischte sich eine Träne aus den Augen. «Immer hatte er ein Lächeln und einen lustigen Spruch auf den Lippen. Aber seit ein paar Wochen war er anders. »
Der Fahnder runzelte die Stirn. «Wie, anders? Das müssen Sie mir schon näher erklären.»
Brügger seufzte. Es war aussichtslos. In zwei Wochen sollte ‹Aaregeschichten› erscheinen. Die Vorbereitungen für die Buchpremiere liefen auf Hochtouren und er befand sich in einem Zustand dauernder Erschöpfung. So sehr ihn dieser Krimi lockte, er musste noch einige Wochen warten.
Bevor er sich auf den Heimweg machte, trat er ans Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. Draussen schlenderte eine Gruppe plaudernder Menschen vorbei. Wahrscheinlich war das Stück im Theater Matte zu Ende und das Publikum auf dem Heimweg. Brügger schloss die Fensterläden, zog seine Jacke an, warf sich den alten Lederrucksack über die Schulter und trat ins Treppenhaus. Der Schlüssel steckte schon im Schloss, als er eine Hand im Genick spürte. «Zurück ins Büro!», zischte eine Stimme und etwas Hartes bohrte sich in seinen Rücken.
***
«Rätselhafter Tod eines Verlegers» titelten die Lokalzeitungen am Donnerstagmorgen und in den Cafés der Altstadt war der Tod von Lukas Brügger Gesprächsthema Nummer eins.
In den letzten Jahren hatte sich der stille, freundliche Mann als Verleger einen Namen gemacht und viele Leute kannten ihn wenigstens vom Sehen.
Auch für Christian Fischer, Fahnder bei der Berner Kantonspolizei, war Brügger kein Fremder gewesen. Sie hatten im Gymnasium Neufeld die gleiche Klasse besucht und später bei zufälligen Begegnungen in der Stadt immer ein paar Worte gewechselt. Während er sich für die Polizeischule entschieden hatte, war Lukas nach dem Germanistikstudium Lehrer geworden und hatte sich vor zwei Jahren seinen Traum vom eigenen Verlag erfüllt.
Jetzt stand Fischer im Verlagsbüro am Nydeggstalden und liess den Raum auf sich wirken. Der alte Schreibtisch befand sich in der Mitte des Zimmers, mit Blick in Richtung Tür. Dahinter wurde die Wand von einem hohen Regal ausgefüllt. Es stand etwa einen Meter vom Schreibtisch entfernt … Jedenfalls hatte es dort gestanden, bis ein Teil davon, aus ungeklärten Gründen, umgestürzt war und Brügger unter sich begraben hatte.
Gefunden hatte den Verleger seine Putzhilfe, als sie, wie jeden Mittwochmorgen, zum Staubsaugen und Reinigen der kleinen Toilette erschienen war. Die junge Frau war entsetzt zurückgeschreckt beim Anblick der Papierberge, unter denen nur Teile von Brüggers Körper hervorlugten.
Als die Sanitäter den toten Körper bargen, war sofort klar, dass es sich um einen Fall für die Polizei handelte. Im Mund des Opfers steckte ein Knebel und beide Beine sowie der rechte Arm waren mit Klebeband am Stuhl fixiert. Einzig die linke Hand hatte der Täter nur lose mit einer Schnur am Stuhl angebunden. Brügger hatte sie auf den Schreibtisch legen, das Telefon jedoch nicht erreichen können.
Nachdem die Kollegen vom Kriminaltechnischen Dienst den Tatort freigegeben hatten, war Fischer hergekommen, um nochmals in Ruhe alles zu inspizieren. Der Tote und das Regalbrett, welches ihm das Genick gebrochen hatte, waren weggebracht worden, aber die Manuskripte lagen noch so da, wie man sie vorgefunden hatte. War es doch ein Unfall gewesen? Aber wer hatte Lukas gefesselt und vor allem warum?
Beim Gestell handelte es sich um ein seltsames Sammelsurium von Brettern, Ziegelsteinen und Stützen – ja sogar Schnüre waren verwendet worden.
«Kein Wunder ist das Ding umgefallen», hatte Kollege Glauser vom KTD geknurrt. «Wäre er nicht gefesselt gewesen, hätte keiner Verdacht geschöpft, denn das Möbel war instabil und der Holzboden ist uneben. Fahrlässig war das!»
Fischer setzte sich an den Schreibtisch und versuchte sich vorzustellen, was sich am Dienstagabend hier abgespielt hatte. Wusste Brügger, wer ihn bedrängte oder war der Täter maskiert gewesen? Wozu die freie Hand? Sollte der Verleger einen Erpresserbrief schreiben? «Bin entführt worden. Zahl eine Million oder ich muss sterben.»
Unsinn! Brügger war alleinstehend und bestimmt nicht reich. Für eine Entführung gab es keinen Grund. Wo also lag das Motiv?
Letztes Jahr beim Klassentreffen im Restaurant Beaulieu, hatte Lukas ihm von den vielen Manuskripten erzählt. «Früher habe ich gerne gelesen. Aber jetzt muss ich mich fast dazu zwingen», hatte er geklagt. «Es ist absurd.»
Zum Lesen zwingen. Fischer runzelte die Stirn. War das der Grund für die freie Hand? Hatte man Brügger zum Lesen zwingen wollen und die Hand zum Blättern frei gelassen? Absurd, ja – aber naheliegend.
Nur wenige Manuskripte befanden sich in Reichweite. Eine dünne Sichtmappe mit Gedichten von Mario Buono, ‹Späte Liebe› von Hanna Meister, ‹Nach der Dunkelheit› von Martin Küpfer und ‹Tod eines Blumenhändlers› von Max Läubli.
Laut dem Stempel auf der Mappe war dieses Werk bereits letztes Jahr beim Verlag eingegangen.
«Na, dann wollen wir mal», murmelte Fischer und grinste zufrieden. «Endlich darf ich mir Zeit zum Lesen nehmen.»
***
Am Freitagnachmittag, kurz nach zwei, klingelte Christian Fischer in Begleitung seines Kollegen an einer Tür in der Länggasse. Ein übernächtigt wirkender Mann um die Dreissig in Jeans und Sweatshirt öffnete ihnen mit fragendem Blick die Tür. Fischer zückte seinen Ausweis.
«Herr Max Läubli? Fischer, von der Kantonspolizei und das ist mein Kollege Gygax. Dürfen wir hereinkommen? Wir möchten mit Ihnen reden.»
Läubli nickte wortlos und schlurfte ihnen voran in ein ungelüftetes Wohnzimmer. Er zeigte auf das abgewetzte Sofa und liess sich in einen Sessel sinken.
«Herr Läubli», eröffnete Fischer das Gespräch. «Ich habe gestern ihr Manuskript ‹Tod eines Blumenhändlers› gelesen. Gratuliere. Die Polizeiarbeit ist zwar nicht immer realistisch dargestellt, aber es ist eine spannende Geschichte.»
Plötzlich kam Leben in den Mann. Er setzte sich gerade auf. «Sie haben es wirklich gelesen und es hat Ihnen gefallen?» Fischer bestätigte es mit einem Nicken und Läubli strahlte ihn an. «Meinen Sie, es ist gut genug, um es zu veröffentlichen? »
Fischer lächelte traurig. «Sicher ist es das. Ich denke, auch Lukas Brügger wäre zu diesem Schluss gekommen und hätte Ihnen einen Vertrag angeboten. Ein Berner Krimi mit viel Lokalkolorit aus den 50ern würde sich bestimmt gut verkaufen. Aber jetzt sollten Sie uns erzählen, wie es zu diesem Unglück kommen konnte.»
Läubli sank wieder in sich zusammen. Angst, Erleichterung und Entschlossenheit wechselten sich in seinem Gesicht in rascher Folge ab.
«Ja, das werde ich. Spätestens morgen wäre ich zu Ihnen auf den Posten gekommen. Seit es passiert ist, habe ich kaum mehr geschlafen.» Er atmete tief ein. «Sehen Sie, ich wollte ihm nichts Böses. Er sollte nur endlich das Manuskript lesen. Seit mehr als einem Jahr liegt es auf seinem Schreibtisch. Immer, wenn ich nachgefragt habe, behauptete er, er wolle es als Nächstes lesen. Aber da waren andere Projekte, die Vorrang hatten. Alles andere war wichtiger als mein Buch! Schliesslich hat er das Telefon gar nicht mehr abgenommen und die Strassenseite gewechselt, wenn wir uns in der Stadt zufällig begegneten.»
Der Mann sprach immer lauter und fing an zu gestikulieren.
«Da hatte ich die verrückte Idee, ihn zum Lesen zu zwingen. Vermummt habe ich ihn im Treppenhaus abgefangen und an seinen Schreibtisch gefesselt, damit er liest. Ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte nur seine Aufmerksamkeit.»
«Waren Sie bewaffnet?»
«Nein. Ich besitze keine Waffe. Aber einen Schraubenzieher hatte ich dabei, den ich ihm in den Rücken gebohrt habe. Er sollte denken, es sei eine Pistole.»
«Warum stürzte das Regal um?», wollte Fischer wissen.
Läubli rang verzweifelt die Hände.
«Er schlief ein! Nach zwei Stunden klappte er das Manuskript zu und sein Kopf sank auf die Tischplatte. Er war einfach eingeschlafen. Über meinem Buch! Können Sie sich vorstellen, was ich empfunden habe? Ich war so wahnsinnig wütend!»
«Und da haben Sie das Regal auf ihn geworfen?»
«Natürlich nicht! Ich stand hinter ihm, ans Regal gelehnt. Als mir klar wurde, dass er eingeschlafen war, trat ich vor Wut mehrmals dagegen und es kippte; ganz langsam, aber unaufhaltbar! Ich konnte nur noch zur Seite springen, um mich selbst zu retten. Es war ein fürchterlicher Lärm und ich glaube, ich schrie. Als es vorbei war, lag Brügger bewegungslos neben dem Schreibtisch, umgeben von Manuskripten, Brettern und Ziegelsteinen. Eines der Regalbretter hatte ihn am Kopf getroffen und der Stuhl war umgefallen. Ich konnte keinen Puls mehr finden und bin in Panik davongerannt. Erst später dachte ich an das Manuskript, aber ich hatte Angst, zurückzukommen. Vielleicht hatten ja die Nachbarn den Lärm gehört und die Polizei war schon da.» Er stöhnte verzweifelt auf. «Ich versichere Ihnen, es war ein Unfall!»
Fischer nickte. «Ja, das dachte ich mir. Aber nun müssen Sie uns begleiten, Herr Läubli. Wir werden ein Protokoll aufnehmen. Haben Sie einen Anwalt, den Sie benachrichtigen können?»
Läubli stand langsam auf. «Wie im Krimi», murmelte er. «Aber sagen Sie, wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen? Es lagen doch unzählige Manuskripte im Büro.»
«Allerdings. Aber die meisten auf dem Boden. Nur vier befanden sich in Reichweite von Brügger. Der Lyriker ist hochbetagt und lebt im Tessin. Der Autor des Science-Fiction-Romans macht laut seinem Arbeitgeber zurzeit Ferien in Brasilien und Hanna Meister ist auf einen Rollstuhl angewiesen. »
«So blieb nur noch ich übrig», nickte Läubli. «Ich hätte das Manuskript mitnehmen sollen. In einem Krimi wäre dem Täter dieser Fehler nicht unterlaufen.»
«Vielleicht doch», meinte Fischer. «Sonst würde der Fall ja nicht gelöst. Kommen Sie, gehen wir.»
Im Gang blieb Läubli abrupt stehen. «Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Fischer? Sie sagten vorhin, die Polizeiarbeit sei in meiner Geschichte nicht immer realistisch dargestellt. Würden Sie mir bei Gelegenheit zeigen, um welche Textstellen es sich handelt? Wir könnten dann gemeinsam daran arbeiten. Was meinen Sie?»
Regine Frei wurde 1965 in Visp geboren. Die Buchhändlerin lebt und arbeitet seit 1987 in Bern. Sie ist verheiratet und Mutter eines Sohnes. Ihren Erstling «Gerechtigkeit für Veronika» veröffentlichte sie 2005. Seither sind sechs weitere Berner Kriminalromane erschienen.