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ОглавлениеDer alte Schorsch
Markus Michel
Das Jagdgewehr ist auf seinen Hinterkopf gerichtet.
Der alte Schorsch hat nicht die leiseste Ahnung. Seinen Kopf schmückt noch immer eine kräftige Mähne, wenn auch die Haare mittlerweile vollständig weiss sind. Dafür ist die Unterhose, deren Rand über dem Hosenbund herausschaut, umso weniger weiss. Und auch die Hose und das Hemd starren vor Dreck.
Die Person mit dem Jagdgewehr hat den Alten immer noch im Visier, doch der Lauf zittert leicht.
«Das ist der Lauf der Dinge, das ist der Lauf der Welt!», brummte jeweils der alte Schorsch, wenn ihm nach ein paar Wochen wieder mal schien, dass seine Kleider nun wirklich nicht mehr ganz frisch und sauber seien. So sehr er sich philosophisch gab, schon allein der Gedanke grauste ihn, dass er bald einmal die Kleider wechseln müsste.
Der Lauf des Jagdgewehrs zittert immer stärker.
Der alte Schorsch spuckt in hohem Bogen einer Gans mitten an den Hals und freut sich riesig, dass er sie getroffen hat. Die arme Gans hat noch nie in ihrem Leben den Weg des Alten kreuzen können, ohne von dessen Spucke getroffen zu werden. Der alte Schorsch prahlt damit in der ganzen Gegend. Er geht noch zwei Schritte. Und dann kracht ein Schuss. Schorsch sackt zu Boden.
Kommissar Merz radelt keuchend und schwitzend das geteerte Strässchen hinauf. Und er verwünscht das Schwarzenburgerland mit all seinen Hügeln, verwünscht sich selber. Eigentlich hätte er es ja ahnen können. Aber auf der Strassenkarte sah das recht harmlos aus. Endlich hat er es geschafft! Er steigt ab, um ein wenig zu verschnaufen.
Jetzt muss er nur noch ein kleines Stück dem Kamm des Hügels entlang zum Wald fahren und auf der andern Seite hinunter, und schon wäre er in Schönfingen.
Dort ist heute früh ein alter Mann erschossen worden, seine Frau hat ihn tot aufgefunden. Das alte Ehepaar lebt zusammen mit seinen zwei erwachsenen Söhnen, beide noch ledig. Während der Mordtat haben sie angeblich draussen auf dem Feld gearbeitet.
Der Kommissar erhielt die Nachricht während seiner Radtour kurz nach der Rückfahrt von Guggisberg. Gescheiter, man würde das cheibe Handy zu Hause lassen. Sonst ist man immer der Lööli. Aber eben! Jetzt ist es zu spät.
Merz faltete seine Strassenkarte auseinander. Schönfingen lag gar nicht so weit von seiner Route entfernt. Also beschloss er, gleich mit dem Rad hinzufahren, anstatt erst in Bern den Dienstwagen zu holen.
Kommissar Merz schaut sich auf dem Hof um. Ein einziger Morast! Das heruntergekommene Wohnhaus und die verlotterten Schuppen scheinen darin zu versinken. In unzähligen Nischen und Löchern in den Wänden hocken Tauben und Hühner, wuchern Brennnesseln und Unkraut. Verdreckte Kaninchen und ein verängstigtes, über und über mit Kot verschmiertes Lamm hoppeln im Schlamm herum. Plötzlich streckt eine magere Kuh den Kopf durch das Loch in der Wand eines Schuppens und glotzt den Kommissar an.
Er tritt näher. Die Kuh zieht den Kopf zurück. Sie steht allein im Stall.
Merz ruft laut, um sich bemerkbar zu machen. Nach einer Weile kommt eine alte Frau um die Ecke gebogen.
Ja, sie sei die Frau des Erschossenen. Der Kommissar wird von ihr in die Küche des Wohnhauses geführt.
«Feinde? Nein, Feinde hat er keine gehabt. Nie. Oh, er war ein jähzorniger Mensch, mein Gott! Blind hat er um sich geschlagen, wie blind. Er hat sich schnell gestritten, wegen dem allerkleinsten Furz. Eigentlich hat er sich mit allen hier in der Gegend gestritten. Aber Feinde hat er keine gehabt.»
Auf dem Tisch liegen Brotkrümmel und kleine Knochen. Die alte Frau bemerkt den Blick des Kommissars und wischt sie mit dem Ärmel auf den Boden. Merz bittet sie, das Zimmer im ersten Stock sehen zu dürfen.
«Wieso?!»
«Nun, es ist anzunehmen, dass der tödliche Schuss von dort aus abgefeuert wurde.»
«Es ist das Zimmer von meinen zwei Söhnen. Die haben damit nichts zu tun. Die sind draussen auf dem Feld gewesen. Das habe ich doch bereits den Polizisten gesagt. Sucht lieber den Mörder, als hier rumzuschnüffeln!»
«Es könnte ja auch jemand anderes am Fenster gestanden und geschossen haben.»
«Wer?!»
«Das wollen wir herausfinden.»
Sie führt ihn leise vor sich hin schimpfend nach oben. Im Zimmer stehen zwei Betten und eine wackelige Kommode. Tisch und Stühle fehlen.
«Ich würde gerne mit den beiden Brüdern sprechen», sagt der Kommissar, nachdem er sich umgeschaut hat.
«Die sind nicht da.»
«Können Sie sie nicht holen?»
«Ich weiss nicht, wo sie sind.»
«Schön. Ich komme nochmals heute Abend gegen acht. Wenn sie dann nicht hier sind, lasse ich sie suchen und mit Handschellen abführen.»
«Wir haben nichts getan! Sucht lieber den Mörder meines armen Mannes!»
Hinten und vorne einen Plattfuss! Jemand muss ganz schön nachgeholfen haben. Fluchend will Merz das Flickzeug hervorholen, doch das kleine Lederetui, das hinter dem Sattel hängt, ist leer. Er schiebt das Rad durch das Dorf. Nirgends ein Mensch zu sehen. Sie hätten kein Flickzeug, hat ihm die Frau des Ermordeten kurz angebunden gesagt.
Der Kommissar biegt, das Velo schiebend, in die Strasse nach Oberschönfingen ein. Im Wald nimmt er einen Weg, der seitlich abzweigt, eine Abkürzung, wie ihm scheint.
Der Lauf des Gewehrs ist auf die Schläfe des Kommissars gerichtet. Der Schütze steht hinter einem Busch. Merz ist stehen geblieben, um kurz zu verschnaufen.
«Was suchen Sie auf meinem Grund und Boden?!», schreit plötzlich jemand. Ein Mann mit einem Holzbein, das Gewehr im Anschlag, hinkt auf ihn zu. Der Kommissar stellt sich vor, doch der Mann mit dem Gewehr will erst den Ausweis sehen, schimpft dann, auch die Schroter hätten kein Recht, einfach ohne Grund seinen Grund und Boden zu betreten. Schliesslich anerbietet er sich trotzdem, den Kommissar zum Gasthof zur Sonne zu führen, nicht weit von hier, wenn man den Weg kenne. Die hätten bestimmt Flickzeug für diesen Göppel.
«Das rechte Bein hab ich im Dienste für das Vaterland verloren», erzählt er unterwegs. «Im Militärdienst. Jawohl. Schlimme Sache, das. Trotzdem erhalte ich nur eine magere Invalidenrente. Während die da unten in Bern …» Er redet ununterbrochen. «Schlimme Sache, das, schlimme Sache mit dem alten Schorsch. Einfach so erschossen. Aber der alte Schorsch ist auch ein Lumpenhund gewesen. Und was für einer! Tief verschuldet. Bis über beide Ohren. Überall hat er Geld geborgt. Und nicht nur das. Ich kann zwar nichts beweisen. Will auch gar nichts gesagt haben. Aber ich weiss, was ich weiss. Der alte Schorsch hat Erpresserbriefe geschrieben. Und zwar an eine Persönlichkeit hier in der Gegend, der es lieber ist, dass nichts davon bekannt wird. Der alte Schorsch hat es faustdick hinter den Ohren gehabt. Der hat noch ganz andere Sachen getrieben. Aber ich will nichts gesagt haben. Allemal besser, man hockt aufs Maul. Lohnen tut man es unsereins ja doch nie. Nur eine magere Invalidenrente.»
Während sie im Gasthof zur Sonne ein Bier trinken, flickt Fredi, der Sohn des Wirtes, draussen das Fahrrad. Merz ist froh, als ihm gemeldet wird, das Velo sei wieder fahrtüchtig. Er bezahlt und geht hinaus. Von Fredi erfährt er, der alte Hinkegockel, wie dieser den Mann mit dem Holzbein nennt, sei mal im Suff gestürzt und unter einen Traktor gekommen. Im Spital hätten sie ihm das Bein amputieren müssen. Und jetzt erzähle er landauf landab, er hätte das Bein im Dienste des Vaterlandes verloren.
Aus einem halb geöffneten Fenster hört man eine Frauenstimme singen: «Mir Senne heis luschtig …»
«Meine Schwoscht. Immer wenn sie auf dem Sch… dem Abee hockt, kräht sie.»
Merz will sich auf seinen Stahlesel schwingen, da sagt Fredi, der alte Hinkegockel habe ein Verhältnis mit der Frau des Ermordeten, die ganze Welt wisse es.
Jaja, mir Senne hei's luschtig, geht dem Kommissar durch den Kopf.
«Er ist gesehen worden. Kurz bevor der alte Schorsch erschossen worden ist.»
«Wo gesehen worden?»
«Na eben. Dort.»
«Hm!»
«Der Leibundgut kann Ihnen vielleicht besser Auskunft geben.»
«Wer ist das?»
«Der Gemeindepräsident von Schönfingen. Er müsste um fünf in der Gemeindeverwaltung anzutreffen sein. Direkt neben dem Schulhaus.»
Der Kommissar schaut auf die Uhr. Halb fünf.
«Und was führt Sie zu mir, Herr Kommissar? Schiessen Sie los!»
«Schiessen?»
«Nun ja. Äh … Ja. Ich will die Karten offen auf den Tisch legen. Sie werden eh schon wissen, dass ich vom alten Schorsch erpresst worden bin. Deshalb kommen Sie ja zu mir. Nun, die … die Sache ist äusserst delikat, und ich muss Sie bitten, dass alles unter uns bleibt.
Also … Ich hab mal … also … wie soll ich mich ausdrücken … ich hab mal ein Verhältnis mit der Lehrerin unserer Schule gehabt. Verhältnis ist eigentlich schon zu viel gesagt, wir haben nur ein einziges … nur ein einziges Mal miteinander … Nun ja. Im Schulhaus. Der alte Schorsch hat uns zufälligerweise beobachtet. Seither werde ich von ihm erpresst. Wenn ich denke, dass ich mich im Gemeinderat immer wieder für ihn eingesetzt habe! Sie haben ihn aus unserem schönen Dorf forthaben wollen. Ihn und seine Familie. Sie haben ja selbst gesehen, wie es bei denen aussieht. Aber ich habe mich für sie eingesetzt. Und so dankt man es mir.»
Schon wieder einer, der sich über Undank beschwert, denkt der Kommissar.
«Ich bitte Sie, die Lehrerin damit nicht zu belästigen. Was würde es bringen, sie da hineinzuziehen? Ich habe ihr nichts von den Erpressungen erzählt. Sie werden doch nicht glauben, dass ich den alten Schorsch …»
Die ganze Angelegenheit kommt dem Kommissar recht seltsam vor. Dass der Gemeindepräsident mit der Lehrerin geschlafen hat, würde dessen Ansehen bei der Bevölkerung wohl kaum schaden, im Gegenteil. Und erst noch im Schulhaus! Das würde höchstens die Fantasie beflügeln.
Als der Kommissar sich auf sein Rad schwingen will, stellt er fest, dass dieses schon wieder einen Plattfuss hat. Da treibt es jemand nun wirklich zu bunt! Blosser Schabernack? Oder will man bewusst seine Untersuchung stören?
Eine Frau tritt aus dem Schulhaus. Bestimmt die Lehrerin. Lach du nur! Doch sie anerbietet sich, Flickzeug zu holen. Merz folgt ihr ins Schulhaus. Der Plattfuss ist diesmal höhere Fügung. Er kann nicht anders, er muss die Lehrerin wegen der Liebesgeschichte mit dem Gemeindepräsidenten ansprechen.
Sie schluckt leer.
«So eine Unverschämtheit! Ist alles gelogen! Nie im Leben habe ich mit ihm geschlafen! Wie käme ich dazu!»
Merz gibt sich recht verwundert. Er schaut die Lehrerin an, deren Wangen vor Wut rot angelaufen sind.
«Es stimmt zwar, dass der Gemeindepräsident mit jemandem … aber nicht mit mir, nein, mit meiner fünfzehnjährigen Tochter. Wir haben es vorgezogen, auf eine Anzeige zu verzichten. Wem hätte dies schon was gebracht.»
«Ich würde gerne mit Ihrer Tochter sprechen.»
«Wozu? – Sie ist nicht mehr hier. Hat eine Stelle als Aupair in Paris. Seit sechs Monaten. Der Leibundgut hat ihr das vermittelt.»
«Aha.»
Die Lehrerin hat plötzlich kein Flickzeug mehr. Es sei unauffindbar.
Die Sache sieht jetzt völlig anders aus. Jedenfalls hat der Gemeindepräsident ganz schön viel zu verlieren. Und da die Lehrerin auf eine Anzeige und einen Skandal verzichtet hat, hat Leibundgut einzig und allein vom alten Schorsch Gefahr gedroht.
Leibundgut tritt aus der Gemeindeverwaltung und winkt den Kommissar zu sich heran. Merz geht einfach weiter. Der Gemeindepräsident läuft ihm hintennach.
«Sie haben mit ihr gesprochen!», sagt er erbost. «Schön, dann wissen Sie jetzt … Aber es ist nicht so, wie Sie meinen. » Der Gemeindepräsident hält Merz am Arm zurück. «Zugegeben, es ist eine völlig unüberlegte Tat gewesen. Das Mädchen ist öfters zu mir herübergekommen, hat gefragt, ob es helfen dürfe. Ich hab ihm meistens irgend eine kleine Arbeit gegeben, die es voller Stolz erledigt hat.
Es ist für sein Alter schon sehr, sehr … Bereits eine richtige Frau. Ich weiss nicht, der Teufel muss mich geritten haben. Es hat sich auch nicht gewehrt. Im Gegenteil. Ja. Und so ist es dann passiert.»
Ein junger Mann kommt die Strasse herunter.
«Das ist Kurt, einer der Stiefsöhne vom alten Schorsch».
Merz fordert den Burschen auf, ihn nach Hause zu begleiten, dort könnten sie ungestörter miteinander sprechen. Sie sind noch nicht weit gegangen, biegt ein zweiter junger Mann aus einem Seitenweg. Er sieht Kurt sehr ähnlich.
«Mein Bruder, der Rolf», sagt dieser. «Wo hast du gesteckt, du kleiner Idiot!»
Rolf ballt die Fäuste. «Sag das nicht! Sag das nie mehr! Nie mehr! Hörst du! Er hat das auch immer gesagt, der Alte! Ich bin kein Idiot! Hat das auch gesagt, bevor ich ihn …»
«Bevor was?», fragt der Kommissar.
«Nichts», antwortet Kurt und stellt sich vor seinen Bruder.
Rolf schiebt ihn beiseite. «Er ist immer so böse zu uns gewesen, auch zur Mutter, vor allem zur Mutter. Als wir Kinder waren, hat der Stiefvater uns laufend für nichts und wieder nichts mit einem Seil verprügelt. Blutige Striemen am ganzen Körper haben wir gehabt. Und die Mutter hat er mit der Faust traktiert. Besoffen ist er gewesen. Immer wieder besoffen.»
«Wieso bist du nicht schon längst abgehauen», sagt Kurt. «Zu Nadine in den Cevennen. Dein Schatz hat dir ja geschrieben, du sollst kommen.»
«Ich hab die Mutter und dich nicht alleine mit diesem brutalen Lumpenhund lassen wollen. Heute Morgen … da … da hab ich das Jagdgewehr genommen …»
«Sei doch still!»
«Und wie er unten über den Hof geht … Aber ich hab ihn nicht erschiessen wollen. Nur erschrecken. Nur erschrecken. – Dem Gemeindepräsidenten jedenfalls kommt das alles nicht ungelegen. Er will uns schon seit langem loswerden. »
«Er sagt das Gegenteil», entgegnet Merz.
«Sagt er. – Seit langem hat er seine Pläne mit unserem Grundstück.»
«Mutter und ich bleiben.» Kurt schaut seinen Bruder auffordernd an.
Und plötzlich rennt Rolf los. Querfeldein. Der Kommissar rührt sich nicht.
«Und was jetzt?», fragt Kurt.
«Man wird ihn wohl ausschreiben müssen», antwortet der Kommissar. Und denkt für sich, aber das eile nicht. Mit ein bisschen Glück würde es dem Jungen vielleicht gelingen, sich bis zu seinem Schatz durchzuschlagen und dort unterzutauchen. Sollen sie doch zusammen Ziegen hüten. Er, Merz, hätte jedenfalls nichts von einer Nadine in den Cevennen gehört. Der Volksmund hat schon recht, dass oft manch andere ins Gefängnis gehörten. Aber das darf ein Schroter nicht laut sagen.
Der Kommissar bietet Kurt eine Zigarette an.
Markus Michel, geboren 1950, Publikationen: u.a. «Pfirsich im Kopf», Aufzeichnungen und Gedichte, 2005, «Festtage – und andere Katastrophen», Erzählungen, 2016, «Endstation Alpenparadies», Roman 2019, «Die im Gletscher singen», Roman, 2021. Zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele. www.markus-michel.ch