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Eine ganz gewöhnliche Geschichte

Barbara Traber

Die Vier fuhr heran, hielt an, die Türen öffneten sich, Passagiere stiegen aus, andere ein, im letzten Moment auch Bogdan. Das Tram fuhr Richtung Central. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Limmat.

Zürich ist keine richtige Metropole, stellte er einmal mehr fest. Er verglich sie mit Warschau, und in seinem Kopf stieg eine Melodie auf: Chopin, nicht die Songs und Evergreens, die er jeden Abend spielen musste, oberflächliches Geklimper, passend zum Klirren der Eiswürfel in Whiskygläsern. Er spielte, spielte perfekt, hatte sich ein breites Repertoire zugelegt, konnte fast jeden musikalischen Wunsch der Gäste in der Bar erfüllen, aber das Herz war nicht dabei, und insgeheim verachtete er sein Publikum.

Als Junge hatte er von einer Karriere als Pianist geträumt, doch das Glück und die Nerven hatten ihn im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Beim ersten internationalen Klavier-Wettbewerb hatte er beim Vorspielen versagt; seine Finger waren plötzlich wie gelähmt gewesen.

Bogdan versuchte, die schmerzhaften Erinnerungen, die ihn immer wieder überfielen, zu verdrängen. Er blieb bis zur Haltestelle Central bei der Tür stehen. Dann kämpfte er sich, die Schultern eingezogen, als müsste er sich vor einer unsichtbaren Gefahr schützen, durch die Menge der Wartenden über den Platz und verschwand in Richtung Dunkelheit.

***

Aus ihrem Kind müsse eine Primaballerina werden, hatte sich Sophie zum Ziel gesetzt. Vera war in ihren Augen hochbegabt für den klassischen Tanz und besass die Voraussetzungen dafür: gutes Rhythmusgefühl, lange Beine, schlanker, biegsamer Körper, hübsches Gesicht, selbst das «En-dehors» brachte sie hin … Die Mutter, auf dem Land aufgewachsen, hatte nicht die Gelegenheit gehabt, Ballettunterricht zu nehmen, und ihre Tochter sollte das nun nachholen. Von klein an kam nur die beste Ballettschule in Frage samt Ostertanztagen, Sommertanzwochen, Privatstunden, gesunde Ernährung. Zur Genugtuung der Mutter machte Vera rasch Fortschritte. Bis sie eines Tages im Training zusammenbrach und unter Schmerzen klagte. Der Orthopäde, der die Jugendliche untersuchte, machte ein ernstes Gesicht, sprach von Abnutzung des Gelenkknorpels des Oberschenkelknochens, einer so genannten Epiphysenlösung, vermutlich durch eine Wachstumsstörung oder durch Überbeanspruchung hervorgerufen. Er müsse Vera leider abraten, weiterhin derart intensiv zu trainieren, das könnte zu schweren Gelenkschäden führen. Oder wolle sie etwa im Rollstuhl landen? Teilnahme am Prix de Lausanne? Auf keinen Fall! Er hatte an die Vernunft der Eltern appelliert, die für die noch Minderjährige verantwortlich seien.

Für Sophie war dies eine persönliche Katastrophe! Sie hatte einen krankhaften Ehrgeiz für ihre Tochter entwickelt, und eine Welt brach für sie zusammen. Vera hingegen hatte sich nach der anfänglichen Enttäuschung, nicht am Tanzwettbewerb in Lausanne mitmachen zu dürfen, gut in die neue Situation geschickt. Insgeheim war sie erleichtert, vom Erwartungsdruck seitens der Mutter befreit.

Niemand ahnte, dass Sophie seither über der Frage brütete: Wer war schuld, dass ihr Töchterchen nicht Balletttänzerin werden konnte? Sie hatte den Orthopäden mit der Forderung konfrontiert: «Die Lehrerin hat keine Rücksicht auf Veras Wachstum genommen. Wir sollten gegen sie vorgehen, damit Ähnliches nicht mehr geschieht! Zumindest eine Verwarnung wäre angebracht.» Er war ausgewichen, solche körperlichen Veränderungen in der Pubertät seien schwer voraussehbar, das Mädchen habe vermutlich die Schmerzen lange unterdrückt. «Seien Sie froh, dass wir Vera früh genug von einer professionellen Tanzausbildung haben abraten können.»

Sophie sah das anders. Madame Elena hatte ihrer Meinung nach mit dem Körper ihrer Tochter Raubbau betrieben, obwohl Vera das bestritt. Man brauche die ehemalige Startänzerin nur anzuschauen, meinte die Mutter. Nichts als Drill und eiserne Disziplin, und immer noch trug sie das nun grau-weisse Haar zu einem Chignon hochgesteckt, und ihre Stimme tönte herrisch, wenn sie ihre Korrekturen in den Saal schrie. Sophie begann die Ballettlehrerin zu hassen und passte auf eine Gelegenheit, ihr mitten ins Gesicht zu schleudern: «Sie haben die Träume und Zukunft meiner Tochter zerstört, das verzeihe ich Ihnen nie! Sie werden es büssen!» Tag und Nacht grübelte sie darüber nach, wie sie sich an ihr rächen könnte. Sophie wusste zu wenig über die Polin. In zwei, drei Kritiken wurden ihre «bravouröse Technik und starke Bühnenpräsenz» erwähnt. Ausbildung in Warschau und St. Petersburg. Engagements in Warschau, Paris, London und Zürich als Erste Solotänzerin … Sie musste mehr herausfinden, vielleicht eine Detektei damit beauftragen.

***

Vor Monaten hatte Bogdan es endlich gewagt, hinter der Oper auf sie zu warten und ihr zu folgen. Er konnte das Bild der Frau, die Mitte sechzig sein musste, nicht mit jenem, das ihm aus der frühen Kindheit geblieben war, zusammenbringen. Weiche Arme, blondes Haar, ein blumiger Duft, eine sanfte Stimme, die ihm Koseworte zugeflüstert und Lieder vorgesungen hatte. Mama! Von einem Tag zum andern hatte sie Kind und Mann und Warschau verlassen, hatte ein Engagement in Paris angenommen. Nur für eine Saison! Bogdan hatte nichts von diesem Plan und von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mitbekommen. Seine Mutter war eines Tages wie vom Erdboden verschluckt, und niemand erklärte ihm, wann sie zurück sein werde. Etwas Unheimliches tat sich im Leben des sensiblen Jungen auf, ein tiefes Loch wie ein Krater, in den er hineinzustürzen drohte. Wochenlang hatte Bogdan jeden Abend nach Mama gerufen und bis zur Erschöpfung geweint. Die Befürchtung, sie könnte nie mehr zurückkommen, überschattete seine Kindheit.

Später hatte er versucht, seine Mutter aus dem Gedächtnis zu streichen; er gab ihr an allem die Schuld: an seiner Verlorenheit und Gehemmtheit, an der Krankheit des verbitterten Vaters, der früh starb, an seiner missglückten Pianistenlaufbahn, an seinen Ängsten, die wie Pech an ihm klebten, ja an seinem ganzen unglücklichen Leben. Er war wie besessen von der Idee, von seiner Mutter Rechenschaft zu verlangen. Die Suche nach ihr hatte ihn nach Zürich geführt, aber dort brauchte er monatelang seine ganze Kraft, Deutsch zu lernen und sich mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten, bis ihm eine Stelle als Barpianist angeboten wurde.

Warum nannte sie sich Elena Rzewuska und nicht Wisawa Dabrowska? Führte sie ein Doppelleben? Bogdan wusste fast nichts über sie. Sein Vater hatte nie mehr von ihr gesprochen und alles vernichtet, was ihn an seine Frau erinnerte. Und jetzt sass sie zwei Meter vor ihm im Tram, eine ihm fremd erscheinende Person, klischee-polnisch, dachte er zynisch, blond, blauäugig, hellhäutig, eine Frau, die seine Mutter sein musste und ihn vor vierzig Jahren als Hindernis für ihre Karriere empfunden hatte: Er war unerwünscht! Wie oft stieg ein starker Schmerz in ihm auf. Er rang nach Atem und konnte den Blick nicht von der schmalen Gestalt wenden. «Mama, hilf mir!», schrie etwas in ihm, aber kein Ton kam aus seinem Mund. Er wartete, dass sie endlich ausstiege. Die Fahrt schien quälende Stunden, Jahre, Jahrzehnte zu dauern.

Rämistrasse – Universitätsstrasse – Winterthurerstrasse. Eine unheimliche Spannung baute sich in ihm auf, und alte, verdrängte Ängste würgten ihn. Endlich drückte sie den Halteknopf, stand auf, und er folgte ihr, überquerte hinter ihr den Fussgängerstreifen. Röslistrasse – hier wohnte sie also, in einem Mehrfamilienhaus. Sie nahm die Post aus dem Briefkasten, schloss die Haustür auf und verschwand im Eingang. Bogdan stand halb hinter einem Baum versteckt. Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, und einen Moment wurde er von Panik erfasst. Sollte er läuten, sie überfallen mit dem Satz: «Ich bin dein Sohn.» Wie würde sie reagieren?

Er stand da, machte die Faust, und aus Selbstmitleid, Hass und Furcht vor einer Begegnung mit der eigenen Mutter wurde ihm übel. Er beugte sich vornüber und kotzte das Mittagessen ins Gras, einen ekelerregenden bräunlichen Brei, wischte den Mund mit einem Taschentuch, fluchte auf Polnisch und sah sich um. Niemand. Dann ging er, ein geschlagener Hund, zurück zur Tramhaltestelle.

***

Es muss das Alter sein, vermutete sie. Der Arzt hatte sie gewarnt, sie müsse auf ihr Herz achten. In letzter Zeit fühlte sie sich in der Stadt oft unsicher, so, als würde ihr jemand folgen, sie verfolgen wie in einem Albtraum, und sie spürte ein Stechen in der Herzgegend. Es gelang ihr jeweils, dank ihrer Körperbeherrschung tief zu atmen und den Krampf zu lösen. Für den Notfall trug sie stets ein Döschen mit Nitroglycerin-Pillen auf sich.

Sie setzte Teewasser auf, setzte sich an den Küchentisch und schaute die Post durch. Prospekte und eine Karte einer Schülerin, die am Theater in Chemnitz ein Engagement bekommen hatte und ihr für die Hilfe bei der Vorbereitung auf die Audition dankte. Nicht hundert, aber eine kleine Freude; es gab ab und zu junge Mädchen, die später erkannten, dass sie ihnen Disziplin und eine gute Technik beigebracht hatte. Ihre Erfahrungen als Tänzerin weitergeben: das hielt sie noch am Leben, obwohl … Nur auf der Bühne hatte sie kurz die Sehnsucht nach dem Sohn und der Heimat vergessen können. Wie jung und naiv sie damals gewesen war, unglücklich in der aus Not geschlossenen Ehe mit dem fünfzehn Jahre älteren Korrepetitor, der sie verstiess, als sie für ein kurzes Engagement nach Paris flüchtete. Sie hatte gekämpft gegen all die Widerstände, die ihr beinahe alle Kraft zum Tanzen geraubt hatten, dem Einzigen, was ihr blieb – für kurze Zeit des Erfolgs. Was blieb: Alter und Einsamkeit, Schmerzen in den Gliedern, Herzprobleme.

Der Teekessel summte, und während sie das heisse Wasser in die Kanne füllte und wartete, dass der Kräutertee zog, rezitierte sie halblaut einige Verszeilen der grossen Szymborska, die denselben Vornamen trug wie sie, den sie aber auf Anraten des Künstleragenten, der sie in den Westen vermittelte, geopfert hatte – wie alles andere auch.

«Nur so ist der Tod. Wer / eine Rose in der Hand hält, leidet mehr, / und grösseres Entsetzen empfand …»1

***

«Glissade, Changement, Changement … Arme halten, gerade blicken … Soutenu … Nein, Arme in die 5. Position, Judith!» Die Stimme der Ballettlehrerin übertönte die Musik. Die Mädchen in hellrosa Trikots, Strumpfhosen und Schläppchen konzentrierten sich auf die Schritte und Positionen. Renate Kunz merkte, dass Lea sich hinausgeschlichen hatte.

Sekunden später riss das Mädchen die Tür auf und schrie wie am Spiess.

«Was ist passiert, Lea?»

Die Kleine stammelte etwas Unverständliches und zeigte Richtung Garderobe. «Alle dableiben!», befahl die Lehrerin und schlug die Tür hinter sich zu. Es musste etwas Schlimmes geschehen sein, und sie wollte vermeiden, dass die Schülerinnen das mitbekamen.

Ein Körper der Länge nach auf dem Boden in der Garderobe neben einer Rose: Elena! Füsse und Beine auswärts gedreht. Erste Position, ging es Renate Kunz durch den Kopf. War ihre Kollegin verletzt? Ohnmächtig? Die Arme mit leicht geschlossenen Händen lagen überkreuzt – aber das … Nein, das durfte sie nicht denken! So stellte man im Ballett pantomimisch den Tod dar! Sie kniete nieder, versuchte Elenas Puls zu greifen, dann rannte sie ins Büro, um der Sanitätspolizei zu telefonieren.

***

Jürg Häberli schloss das Fenster seines Büros. Der Lärm am Bahnhofquai war wieder einmal unerträglich. Das Dossier, das er durchgesehen hatte, war bereits auf dem Stoss ERLEDIGTES gelandet, aber der slawische Name machte ihn stutzig. War da nicht vor Kurzem eine Meldung reingekommen …? Wohnungseinbruch Röslistrasse? Er erledigte zwei Telefonanrufe, und tatsächlich, die Namen stimmten überein. Rzewuska. Er verglich die Polizeirapporte. Tödlicher Selbstunfall (Sturz) infolge Herzversagens von Elena Rzewuska, Ballettlehrerin, geb. 20. Juli 1956 in Krakau … Und fast zur selben Zeit: Einbruch in ihre Wohnung. Wer hatte Anzeige erstattet? Die Tote war ja nicht mehr dazu imstande gewesen – ausser sie hätte eine schnelle Wiedergeburt erlebt, dachte er und versuchte über seinen eigenen Witz zu lachen. In seinem Kopf begann es zu rotieren. Angehörige der Toten? Keine (stand in den Akten). Wie lange lebte sie schon in Zürich? Wer hatte sie gefunden? War sie in ärztlicher Behandlung gewesen? Überdosis Medikamente? Seltsam, dass trotz Einbruch in ihrer Wohnung nichts fehlte, nur in ihren Papieren sei gewühlt worden, hatte Kollege Petermann berichtet.

Es liess ihm keine Ruhe, er musste den Tatort besichtigen. Tatort? Für eine Tat lagen keine Anzeichen vor, jedenfalls bisher nicht. Aber es gab Unstimmigkeiten, die Häberli störten, und der Fall könnte, das spürte er intuitiv, in Arbeit ausarten.

Häberli gelangte wenig später an der offenen Tür des Sekretariats vorbei – niemand sass dort – direkt in die Garderobe der Ballettschule der Oper. Folglich konnten hier jederzeit fremde Personen eindringen, überlegte er. Wenn die Polin von einem plötzlichen Unwohlsein erfasst worden wäre, hätte sie sich auf einen Stuhl gesetzt und wäre vornübergefallen. Es sei ein Schock gewesen, ihre Kollegin so vorzufinden, ja, auf dem Rücken liegend, und nein, sie habe von Elenas Herzproblemen nichts gewusst, gab Renate Kunz zu Protokoll. Monika, eine ihrer Schülerinnen, habe beobachtet, dass am Tag des Unglücks ein blonder Unbekannter mittleren Alters vor der Schule gestanden habe, als warte er auf jemanden. Und noch etwas: Monika sei an jenem Tag viel zu früh da gewesen, habe vor dem Training noch Schulaufgaben machen wollen – und da sei eine Frau eilig aus der Garderobe gekommen, wahrscheinlich eine Mutter, die etwas abgeholt habe.

Häberli konnte nicht viel anfangen mit diesen Informationen. Es gab öfters mysteriöse, als Unfälle getarnte Fälle von Mord oder Totschlag, die nie geklärt werden konnten. Vieles konnte eine Herzkrise auslösen. Oder hatte jemand nachgeholfen? Eine Spurensicherung war ohnehin nicht mehr möglich. Er beschloss, den Fall nicht weiterzuverfolgen.

***

Wenige Wochen später wurde eine Leiche aus der Limmat gefischt. Männlich, blond, mittelgross, mit feinen Gesichtszügen und auffallend schlanken Fingern. Eindeutig Selbstmord durch Ertrinken. Der Tote konnte vorerst nicht identifiziert werden. Erst als das Foto in der Presse veröffentlicht wurde, meldete sich der Geschäftsführer einer bekannten Zürcher Bar. Vermutlich handle es sich um seinen Barpianisten Bogdan Dabrowski. Wegen eines plötzlichen Todesfalls in der engsten Familie sei dieser Hals über Kopf nach Polen zurückgereist.

Barbara Traber, geboren 1943 in Thun. Handelsdiplom, Auslandsaufenthalte in London, Lagos, Paris. Lebt in Worb/ CH. Freie Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin, Redaktorin, Lektorin. Zahlreiche Publikationen: Lyrik, Romane, Erzählungen, auch in Mundart, Krimis, Sachbücher. Zuletzt: Auf den Brücken der Freundschaft. Ein Leben zwischen Literatur und Musik (Waldgut, Frauenfeld 2019).

1Wisawa Szymborska: Ich bedenke die Welt in: Hundert Freuden, Gedichte, S. 190, übertragen von Karl Dedecius, suhrkamp taschenbuch 2589, 1996.

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