Читать книгу Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer - Страница 49

Teil I: Begegnung mit dem blinden Fleck

Оглавление

Was sehen wir, wenn wir menschliche Handlung beobachten? Wir sehen Sprechen, Lachen, Weinen, Streiten, Spielen, Tanzen, Beten. Was wir nicht sehen, ist der Entstehungsort dieser Handlungen. Wo entstehen unsere Handlungen? Von welchem Ort, im Innern oder aus unserem Umkreis, rühren sie her? Um diese Frage zu beantworten, hilft es uns, die kreative Tätigkeit eines Künstlers genauer zu betrachten. Das lässt sich aus drei Blinkwinkeln heraus tun:

•Als Erstes können wir auf das Resultat der künstlerischen Arbeit schauen, das Ding, das fertige Bild etwa.

•Zweitens können wir beim Malen zuschauen: Wir können den farbigen Pinselstrichen folgen, die gerade im Begriff sind, das Kunstwerk zu erschaffen.

•Oder wir können, drittens, beobachten, wie der Künstler vor der leeren Leinwand steht. Es ist diese dritte Perspektive, die die Leitfrage dieses Buches ist: Was passiert vor der leeren Leinwand? Was veranlasst den Künstler zum ersten Pinselstrich?

Dieses Buch hier ist für Menschen mit Führungsaufgaben geschrieben, also für Leserinnen und Leser, die mit Individuen oder Gruppen Innovationen oder Veränderungsprozesse initiieren, mithin in diesem Sinne künstlerisch tätig sind. Alle Führungspersonen und Innovatoren, sei es in Unternehmen, lokalen Projekten, gemeinnützigen Organisationen oder im Staatsdienst, tun etwas, was Künstler auch tun: Sie schaffen etwas Neues und bringen es in die Welt. Die offene Frage aber lautet: Woher kommen ihre Handlungen? Wir können beobachten, was Führungspersonen machen. Wir können auch beobachten, wie sie es tun, welche Strategien und Prozesse sie anwenden. Was wir nicht sehen, ist der innere Ort, die Quelle, aus der heraus sie handeln, wenn sie – zum Beispiel – auf höchstmöglichem Niveau agieren oder umgekehrt ohne Einsatz und Engagement handeln.

Das führt uns zum »blinden Fleck«. Dieser blinde Fleck betrifft einen Aspekt unseres Sehens oder Wahrnehmens, den wir normalerweise nicht genauer betrachten. Es ist der innere Ort oder die innere Quelle, aus der heraus der Einzelne oder ein soziales System handelt. Dieser blinde Fleck ist tagtäglich in allen Systemen gegenwärtig, aber er ist verdeckt, und seine Wahrnehmung und unser Umgang mit diesem blinden Fleck sind wesentlich für Veränderungs- und Innovationsprozesse.

Francisco J. Varela, verstorbener Professor für kognitive Wissenschaft und Epistemologie in Paris, sagte mir, der blinde Fleck der heutigen Wissenschaft sei Erfahrung. Dieser blinde Fleck tritt in vielfältiger Weise auf, was ein zentrales Thema unseres weiteren »Feldgangs« und unserer »gemeinsamen Lernreise« sein wird.

Die folgenden sieben Kapitel beschreiben sieben Sichtweisen in Bezug auf die verschiedenen Ausgestaltungen dieses blinden Flecks und erkunden, wie er als Merkmal unserer Zeit in Gesellschaft, Wissenschaft und im systemischen Denken sichtbar wird. Blinde Flecke treten bei Individuen, Gruppen, Institutionen, Gesellschaften und Systemen auf. In unseren Theorien und Vorstellungen treten sie in der Form tiefer epistemologischer und ontologischer Grundannahmen in Erscheinung.

Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir verschiedene Bereiche dieses blinden Flecks zu erforschen. Wir beginnen mit der Perspektive des Selbst, dann der des Teams (Kapitel 3), der Organisation (Kapitel 4), der Gesellschaft (Kapitel 5) und abschließend in den Sozialwissenschaften und zuletzt der Philosophie (Kapitel 6).

Theorie U - Von der Zukunft her führen

Подняться наверх