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Interviewprojekt: Was ist der Ausgangspunkt unserer kollektiven Handlung?

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Als ich Michael Jung 1994 zum ersten Mal traf, war er Direktor des Büros von McKinsey & Company in Wien und fing gerade an, eine weltweite Forschungsinitiative im Bereich Führung und Organisation zu leiten. Wir trafen uns in München und führten ein faszinierendes Gespräch über die grundlegenden Probleme profunder Innovation und Veränderung. Am Ende des Gesprächs fragte mich Michael Jung, ob ich Interesse hätte, ein globales Interviewprojekt mit den Wissenschaftlern und Praktikern im Bereich Führung, Organisation und Strategie durchzuführen.

»Sämtliche Interviews werden ins Internet gestellt. Du kannst sie für deine Forschung am MIT verwenden, und ich kann sie für meine Arbeit bei McKinsey gebrauchen. Außerdem kann sie sich jeder, der etwas darüber erfahren möchte, von einer Website herunterladen. Wir hoffen, dass die Menschen sie als Anregung für ihre eigene Kreativität und ihr eigenes Denken nutzen werden.«27

War ich interessiert an dieser Aufgabe? Also, erstens klang es für mich wie das absolute Traumprojekt, und zweitens war ich fast pleite, weil ich meine Forschung durch Kredite und Stipendien finanziert hatte und man mir am MIT anfangs nur eine unbezahlte Stelle als Gastdozent angeboten hatte. Folglich war ich sehr interessiert. Nach meiner Rückkehr nach Boston bat ich mehrere Leute um ihren Input und ihre Hilfe, und innerhalb weniger Tage hatten wir eine Liste von Interviewpartnern zusammengestellt, darunter Akademiker, Unternehmer, Erfinder, Wissenschaftler, Pädagogen, Künstler und andere.

Eines der ersten Interviews führte ich mit Peter Senge, der damals der Direktor des MIT Organizational Learning Center war. Senges Buch The Fifth Discipline (1992; dt. 1996: Die fünfte Disziplin) war einer der Hauptgründe, warum ich am Center arbeitete. Ich begann das Interview so, wie ich das oft tat, nämlich indem ich fragte: »Welche Frage liegt deiner Arbeit zugrunde?«28

Senge sagte, sein Hauptinteresse gelte der Evolution des Bewusstseins menschlicher Systeme. Er erzählte mir dann von seiner kürzlich stattgefundenen Begegnung mit Karl-Henrik Robèrt, dem schwedischen Arzt und Gründer der Umweltorganisation The Natural Step.

»Etwas in seiner Geschichte berührte mich sehr«, sagte Senge. »Und ich erkannte, dass es hier eine direkte Parallele zu meiner eigenen Erfahrung gibt. Robèrt hatte fast sein ganzes professionelles Leben lang über Krebs geforscht und mit Hunderten von Familien, die sich mit dem Krebs eines Elternteils, eines Kindes oder eines Ehepartners auseinandersetzen mussten, gesprochen. Was er dabei festgestellt hat, war, dass die Betroffenen unglaubliche Kraftreserven hatten. Robèrt beschrieb das so: ›Du erzählst den Leuten furchtbar schwierige Dinge, beispielsweise dass dein dreijähriges Kind Krebs hat, und es ist unglaublich zu sehen, welche Kräfte die Menschen haben, welche Fähigkeiten, sich der Wahrheit zu stellen und als Familie zusammenzuhalten.‹«

Senge sprach dann von der Kraft, die entsteht, wenn man der Realität ins Auge sieht, und wie er diese Kraft in seinem Kurs »Leadership and Mastery« erlebt, wenn er mit Teilnehmenden an ihrem individuellen Entwicklungspotenzial arbeitet. Anschließend beschrieb er seine Kernfrage:

»Wie kann man Menschen helfen, dass sie gemeinsam ihre realen Reserven erschließen können, die für tief greifende Veränderungsprozesse vorhanden sind, für Veränderungsprozesse, die scheinbar unmöglich sind? Viele Leute halten die Menschen im Grunde für egozentrisch und materialistisch, und deswegen ist die Gesellschaft so, wie sie ist. So seien die Dinge nun mal. Aber das, wie die Dinge nun mal sind, ist natürlich nur ein mentales Modell. Und je nach Situation und Kontext konfrontieren Menschen sich damit und erfahren echte Großzügigkeit. Wie kann diese Energie kollektiv freigesetzt werden?«

Während ich Peter zuhörte, bemerkte ich, dass die Zeit sich verlangsamte. Auch mein Zuhören veränderte sich, wurde genauer, tiefer.

»Vor einem Jahr hatte ich ein interessantes Gespräch mit Meister Nan, einem chinesischen Zenmeister, der in Hongkong lebt«, sagte Peter. »In China wird er als Gelehrter geschätzt, der Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus integriert. Ich fragte ihn: ›Glauben Sie, dass das industrielle Zeitalter solche Umweltprobleme schaffen wird, dass wir uns zerstören werden?‹ Meister Nan machte eine Pause und schüttelte seinen Kopf. Er sagte: ›Es gibt nur ein Problem auf der Welt. Und das ist die Reintegration von Materie und Geist.‹ Das ist genau, was er zu mir sagte, die Reintegration von Materie und Geist

Diese Worte riefen eine tiefe Frage in mir wach: Was bedeutet die Trennung zwischen Materie und Geist in sozialen Systemen, für unsere soziale Welt als Ganzes, für den sozialen Körper, der wir kollektiv sind? Diese Frage verband sich mit Erinnerungen an die Arbeit meiner Eltern. Das sichtbare Ergebnis der Landwirtschaft, die Ernte, hängt von der unsichtbaren Qualität des Feldes ab. Ich fragte mich: Was wäre, wenn die Qualität der sichtbaren sozialen Interaktionen eine Funktion dieses unsichtbaren Feldes wäre, das im blinden Fleck unserer Wahrnehmung liegt? Die Qualität dieses unsichtbaren Feldes – unser blinder Fleck – bestimmt die Effektivität unserer sichtbaren sozialen Handlungen. Wenn Meister Nan die Reintegration von Materie und Geist als Hauptproblem benennt, bedeutet das, dass wir, wenn wir die Qualität unserer Handlungen als Gruppe oder Team erhöhen wollen, unsere Aufmerksamkeit auf die unsichtbare Dimension lenken müssen: auf den Ort, von dem aus wir handeln.

Theorie U - Von der Zukunft her führen

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