Читать книгу Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer - Страница 55
Drei Gesten auf der linken Seite des U
ОглавлениеVarela beschrieb diesen Prozess mit den drei Gesten als etwas, was jeder kennt:
»Aber ebenso wie ein Läufer trainieren muss, um ein Marathonläufer zu werden, braucht ein Verstehen und ein Meistern dieses Prozesses Zeit und Coaching.«
Wir fuhren fort, diese drei Gesten zu besprechen. Varela erklärte:
»Mit Innehalten meine ich das Beenden von Gewohnheitsmustern. In der buddhistischen Meditation platzierst du deinen Hintern auf ein Kissen und bleibst auf einer Ebene oberhalb deiner gewöhnlichen Beschäftigung. Du schaust aus einer eher überblickenden Perspektive.«
Wir diskutierten weiter und überlegten, wie viele Menschen, die sitzend meditieren, behaupten, dass nichts passiere. Warum?
»Sinn und Zweck der ganzen Sache ist, dass du es nach dem Innehalten erträgst, dass nichts passiert. Innehalten ist eine eigenartige Sache. Dabei zu bleiben, dranzubleiben ist wirklich der entscheidende Punkt, um den es geht.«
Dann erläuterte er seine zweite und dritte Geste: umwenden und loslassen. Beim Umwenden (»redirection«) geht es darum, die Aufmerksamkeit von einem »Äußeren« zu einem »Inneren« umzulenken, sodass die Aufmerksamkeit hin zum Ursprungsort der inneren Prozesse geleitet wird und nicht zum Objekt hin. Die dritte Geste, das Loslassen, muss mit Feingefühl erfolgen, betonte Varela. Im Buch On Becoming Aware (Depraz, Varela a. Vermersch 2003) wird die dritte Geste mit »unsere Erfahrung akzeptieren« umschrieben.
Als ich aus Varelas Büro trat, wusste ich, dass ich beschenkt worden war. Häufig hatte ich bei der Moderation von Prozessen mit Teams oder in Workshops gesehen, dass Wendepunkte notwendig waren, wollte man zu einem tieferen Punkt der Kreativität kommen. In meiner Erfahrung ist dazu ein erster Schritt, mitgebrachte Urteile zu durchbrechen, damit die Teilnehmenden die Realität – und das schließt manchmal die einfachsten Zahlen und Fakten ein – überhaupt wahrnehmen können. Ein weiterer Schritt besteht darin, als Gruppe die Aufmerksamkeit von Einzelperspektiven weg und hin zum Ganzen zu wenden, damit das System aus einer Perspektive betrachtet werden kann, aus der die eigenen Handlungen als Teil des Ganzen wahrgenommen werden können. Dann fangen die Menschen an, sich selbst als Teil des Problems zu sehen; sie fangen an zu erkennen, wie sie gemeinsam ein Muster erschaffen, das anfangs allein durch äußere Kräfte verursacht schien.
Wenn ein Prozess gut läuft, dann ist ein Punkt erreicht, an dem gemeinsam zu einem tieferen Ort der Stille gegangen werden kann. An diesem Punkt kann das Alte losgelassen werden, es kann nach der zukünftigen Möglichkeit gefragt und eine Verbindung zur höheren Intention hergestellt werden. Als ich meine Arbeitserfahrungen mit den Erkenntnissen aus den Gesprächen mit Brian Arthur und Francisco Varela zusammenbrachte, konnte ich diese Umbruchpunkte in das »U« einzeichnen (Abb. 2.4).
Abb. 2.4: Der Öffnungsprozess des U
Aber ich hatte noch Fragen. Wenn der Weg auf der linken Seite des »U« Varelas Kernprozess des Aufmerksamwerdens veranschaulicht, was erwartet uns dann auf der rechten Seite des »U«? Es schien mir so, als ob alle Aufmerksamkeit nur auf den »Öffnungsprozess«, auf die linke Seite des U, aber wenig oder gar keine Aufmerksamkeit auf das Drama des gemeinsamen Handelns gerichtet ist, das auf der rechten Seite beschrieben ist. Diese rechte Seite beschreibt eine ganz andere Dimension eines kollektiven kreativen Prozesses, die etwas mit der Absicht zu tun hat, das Neue oder die zukünftige Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Wie kommt das Neue in die Welt?