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Theorie U: Die Anfänge

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Der blinde Fleck wirft die Frage nach dem Ursprungsort unserer Aufmerksamkeit auf. Während eines Interviews mit Bill O’Brien, dem ehemaligen CEO der Hanover Insurance Group, habe ich zum ersten Mal diesen blinden Fleck in Organisationen wahrgenommen. Bill erzählte mir, seine größte Einsicht, nachdem er als CEO jahrelang Veränderungsprozesse initiiert und durchgeführt hatte, sei gewesen, dass »der Erfolg einer Intervention von der inneren Haltung desjenigen abhängt, der die Intervention durchführt«. In diesem Gespräch wurde mir klar, dass es nicht nur darauf ankommt, was Führungspersonen machen und wie sie es tun, sondern mit welcher Intention sie handeln. Das heißt, der innere Ort, von dem aus sie handeln – der Quell- oder Ursprungsort von Handlung, die Qualität unserer Aufmerksamkeit – beeinflusst das Ergebnis unserer Handlung. Die gleiche Person kann mit der gleichen Aktion ein völlig anderes Ergebnis bewirken, je nachdem von welchem inneren Ort aus sie handelt.

Über das Was und das Wie von Handlung, d. h. über Führungsprozesse, wissen wir viel. Aber was wissen wir über den inneren Ausgangspunkt von Führung oder Handlung? Mir war nicht klar, ob es nur einen Ausgangspunkt von Handlung gibt oder vielleicht mehrere. Der Ausgangspunkt von Handlung ist ein blinder Fleck. In meinen Interviews mit Führungskräften und auch mit Kreativen habe ich immer wieder gehört, wie wichtig dieser Quellpunkt oder blinde Fleck ist. Es ist dieser blinde Fleck, der den Unterschied macht zwischen einer Meisterleistung und einem durchschnittlichen Ergebnis. Vor 2300 Jahren beschrieb Aristoteles den Unterschied zwischen dem »Was-Wissen« (episteme) und dem praktischen und technischen »Wie-Wissen« (phronesis, techne) auf der einen Seite sowie dem inneren Wissen erster Prinzipien und Quellorte der Aufmerksamkeit (nous) und der Weisheit (sophia) auf der anderen Seite (Aristoteles 1972).

1994, in meinem ersten Jahr am MIT, sah ich eine Live-Videopräsentation zum Thema organisationales Lernen. Nach einer Frage aus dem Publikum ging Rick Ross, der Mitautor von The Fifth Discipline Fieldbook (1994, dt. 1996: Das Fieldbook zur fünften Disziplin), zur Tafel und notierte die folgenden drei Wörter (Abb. 2.1):

Abb. 2.1: Ebenen organisationaler Veränderung

Als ich dieses einfache Bild sah, wurde mir klar, dass organisationale Veränderungen auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Plötzlich sah ich diese Ebenen. Neben den drei Ebenen aus der Präsentation gab es noch subtilere Veränderungsebenen. In meinem Kopf fügten sich zwei weitere Ebenen hinzu – oberhalb von »Struktur« und unterhalb von »Denken«. Außerdem wurde mir noch eine horizontale Dimension deutlich, der Weg von der Wahrnehmung zur Handlung. Damit entstand die U-förmige Skizze, wie sie in Abb. 2.2 wiedergegeben ist.

Den tiefsten Punkt in diesem U nannte ich »Presencing«. Die Überlegungen dazu werde ich im Teil III dieses Buches ausführlicher darstellen. Hier reicht es aus, Presencing zu beschreiben als »von der Quelle her« oder »von der höchsten zukünftigen Möglichkeit her handeln und wahrnehmen«. Das ist der Zustand, den jeder von uns erleben kann, wenn wir nicht nur unser Denken, sondern auch unser Herz und unseren Willen – unseren Impuls zum Handeln – öffnen, um mit den neuen Realitäten, die überall um uns herum entstehen, umzugehen.

Ich begann, dieses Konzept meiner Arbeit in Unternehmen und Organisationen vorzustellen, und merkte, dass es für viele Praktiker hilfreich war, um die eigenen Erfahrungen klarer zu sehen und zu reflektieren. Durch die Arbeit mit der U-Skizze erkannten sie die Bedeutung der zwei entscheidenden Dimensionen:

•Die horizontale Achse trennt Wahrnehmung und Handlung voneinander und beschreibt den Weg von der Wahrnehmung oder dem Erspüren (Sensing) über den Entschluss zum In-die-Tat-Umsetzen.

•Die vertikale Achse beschreibt die verschiedenen Ebenen von Veränderung: von der oberflächlichsten Antwort, der »Re-Aktion«, bis zum umfassenden »Re-Generieren«.24

Abb. 2.2: Fünf Ebenen von Veränderung

Die meisten Lern- und Veränderungsprozesse basieren auf dem Kolb-Lernzyklus, der den folgenden Lernprozess beschreibt: 1) Beobachtung, 2) Reflexion, 3) Handlung. Diese Abfolge macht die Erfahrungen der Vergangenheit zum Ausgangspunkt von Lernprozessen (Kolb 1984). Chris Argyris, Professor in Harvard, und Don Schön, bis zu seinem Tod Professor am MIT, haben in ihrer Arbeit über Lernprozesse (1995) die Unterscheidung zwischen Single-loop- und Double-loop-Lernen eingeführt:

•Single-loop-Lernen heißt, dass Erfahrungen der Vergangenheit der Ausgangspunkt für Lernen sind: die Differenz zwischen intendierten und realisierten Ergebnissen einer Handlung. In der Sprache der Abbildung findet diese Form von Lernen auf den Ebenen des Reagierens und Restrukturierens statt.

•Double-loop-Lernen heißt, dass nicht nur von den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt wird, sondern dass auch der Prozess und die Annahmen des Handelnden reflektiert werden. Ein Beispiel für Double-loop-Lernen ist das, was in Abb. 2.2 als Reframing bezeichnet wird. Grundlegende Annahmen, auf denen das Handeln basiert, werden in den Lernprozess mit einbezogen.

In der Abbildung des U-Prozesses wird die unterste Ebene mit Regenerating bezeichnet. Regenerating geht über das Double-loop-Lernen hinaus. Diese Ebene umfasst eine andere Zeitdimension, indem sie auf die Ankunft einer in der Zukunft liegenden Möglichkeit Bezug nimmt. Diese Form von Lernen, die über die Vergangenheitserfahrung hinausgeht, bezeichne ich in diesem Buch als »Presencing« oder als den »U-Prozess«.

Das Konzept des U ist natürlich nicht aus dem Nichts entstanden. Die Theorie U entstand aus meiner Arbeit als Aktionsforscher bei zahlreichen Veränderungsprojekten in unterschiedlichen Kontexten und Bewegungen und auf der Grundlage meiner früheren Forschung (vgl. Scharmer 1991, 1996).

Wichtige Denkanstöße zum Thema soziale Entwicklung und Veränderung lieferte das Global Studies Program, eine Lernreise, die das Ziel hatte, die Dynamik von Krieg und Frieden zu erforschen (1989–1990). Sie führte mich nach Indien, wo ich Ghandis Konzepte der gewaltfreien Konfliktlösung studierte, sowie nach China, Vietnam und Japan, wo ich die Entwicklungsideen im Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus näher kennenlernte. Ich hatte auch das Glück, mit einzigartigen akademischen Lehrern arbeiten zu dürfen, Ekkehard Kappler und Johan Galtung, die mich unterwiesen, welche Rolle kritisches Denken und die Wissenschaft für soziale Transformation und Veränderung spielen. Weitere Quellen, die mein Denken beeinflusst haben, sind unter anderem das Werk des Avantgardekünstlers Joseph Beuys, die Schriften von Henry David Thoreau, Martin Buber, Friedrich Nietzsche, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Jürgen Habermas sowie einige von den alten Meistern wie Hegel, Fichte, Aristoteles und Plato.

Maßgebend für mich war auch die Auseinandersetzung mit dem Werk Rudolf Steiners. Dessen Synthese von Wissenschaft, Bewusstsein und sozialer Innovation hat meine Arbeit nachhaltig inspiriert (vgl. Steiner 1894), und seine in Goethes phänomenologischer Wissenschaftssicht gründende Methodologie hat die Theorie U entscheidend geprägt.

Am einfachsten lässt sich die Theorie U in der Landschaft intellektueller Traditionen verorten, indem man sie als angewandte Phänomenologie betrachtet – eine achtsame phänomenologische Praxis zur Erforschung des sozialen Feldes. In diesem Zusammenhang war die Arbeit von Friedrich Glasl eine weitere wichtige Inspirationsquelle für mich. Angeregt durch die Arbeit Rudolf Steiners entwickelte Glasl ein mit der Theorie U verwandtes Konzept, das Unternehmen und Organisationen als miteinander zusammenhängende Subsysteme auffasst (Glasl 1997, 1999).

Die wichtigsten Erkenntnisse, die ich aus Steiners Grundwerk, Die Philosophie der Freiheit (1894), gewann, sind dieselben, die sich nach Abschluss meines ersten MIT-Forschungsprojekts mit Edgar Schein einstellten. In diesem Forschungsprojekt untersuchten wir die verschiedenen Veränderungstheorien, mit denen Wissenschaftler an der MIT Sloan School of Management arbeiteten. In unserer Auswertungssitzung betrachtete Ed Schein die Ergebnisse unserer Untersuchung, eine recht komplexe Verflechtung von Konzepten und Referenzrahmen, und sagte:

»Vielleicht sollten wir zurück zu den Daten gehen und noch mal ganz von vorne anfangen. Vielleicht müssen wir unsere eigenen Erfahrungen mit Veränderungsprozessen ernster nehmen und zum Ausgangspunkt unserer Forschungsarbeit machen.«

Ich verstand das so, dass wir – um mit Steiner zu sprechen – unsere eigene Erfahrung und unseren eigenen Denkprozess klarer, transparenter und rigoroser untersuchen müssen. Mit anderen Worten: Vertraue deinem Wahrnehmungsapparat, vertraue deinen Beobachtungen, vertraue deiner eigenen Wahrnehmung, und mache sie zum Ausgangspunkt der Untersuchung –verfolge diese Beobachtungsreihe dann aber bis zur Quelle, genauso wie Husserl und Varela dies in ihrer Beschäftigung mit der phänomenologischen Methode empfehlen. Die phänomenologische Methode beginnt mit den individuellen Wahrnehmungen. Die Theorie U baut auf dieser Methode auf und stellt die Frage nach den Strukturen und Quellen der kollektiven Aufmerksamkeit in Teams, Organisationen und größeren Systemen.

Theorie U - Von der Zukunft her führen

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