Читать книгу Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer - Страница 50
1Im Angesicht des Feuers
ОглавлениеAls ich an diesem Morgen unseren Hof verließ, einen 350 Jahre alten Bauernhof 40 Kilometer nördlich von Hamburg, ahnte ich nicht, dass dies das letzte Mal ist, dass ich das Haus meiner Kindheit sehe. Zunächst war es ein ganz normaler Schultag bis etwa gegen 13 Uhr, als meine Lehrerin mich aus der Klasse holte. »Du solltest jetzt nach Hause gehen, Otto.« Ich bemerkte, dass ihre Augen etwas rot waren. Sie sagte mir nicht, warum ich schnell nach Hause gehen musste. Am Bahnhof angekommen, versuchte ich zu Hause anzurufen. Es war kein Klingelton zu hören. Die Leitung war offensichtlich tot. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Mir wurde dann allerdings klar, dass es wahrscheinlich nichts Gutes verhieß. Nach der üblichen einstündigen Bahnfahrt nach Hause rannte ich zum Bahnhofsausgang und sprang in ein Taxi. Irgendwas sagte mir, dass ich keine Zeit hatte, auf meinen Bus zu warten. Noch lange bevor wir den Hof erreicht hatten, bemerkte ich, wie sich riesige graue und schwarze Rauchwolken hoch in die Luft türmten. Mein Herz pochte, als das Taxi sich der Hofeinfahrt näherte. Ich sah Hunderte unserer Nachbarn, daneben Feuerwehrleute aus der Umgebung und Polizisten sowie viele Menschen, die ich bis dato nie gesehen hatte. Ich sprang aus dem Taxi und rannte die letzten 800 Meter unsere Kastanienallee hinunter durch die Menge hindurch.
Als ich im Innenhof ankam, traute ich meinen Augen nicht. Die Welt, in der ich mein ganzes Leben bisher verbracht hatte, existierte nicht mehr. Verschwunden. Komplett in Rauch aufgegangen.
Vom Haus war nichts – gar nichts – mehr übrig, außer den tobenden Flammen. Als die Realität des Feuers vor meinen Augen langsam begann, in mich einzusinken, fühlte ich mich so, als hätte mir jemand mit einem Mal den Boden unter meinen Füßen weggerissen. Der Ort meiner Geburt, meiner Kindheit und Jugend war weg. Ich stand regungslos da. Und während mein Blick immer tiefer in die Flammen drang, merkte ich, dass die Zeit sich verlangsamte. Mir war, als ob sie stillzustehen begann. Mir wurde schlagartig klar, wie sehr ich mich, ohne es vorher zu bemerken, über die ganze materielle Welt definiert hatte, die jetzt vor meinen Augen in Flammen stand. Alles, von dem ich dachte, dass ich es war, hatte sich schlagartig in nichts aufgelöst. Alles? Nein, vielleicht nicht alles, denn ich fühlte, dass ein winziges Element von mir noch existierte. Jemand war noch da, der dies jetzt alles beobachtete. Wer?
In diesem Moment, als die Zeit stillzustehen schien, fühlte ich, wie ich nach oben gezogen wurde und anfing, das Geschehen von diesem Ort etwas oberhalb meines Körpers zu erspüren. Ich fühlte mich angezogen von einem intensiven Möglichkeitsraum, von einem zukünftigen Potenzial, das ich durch mein Leben in die Realität bringen könnte. In diesem Moment der Stille erlebte ich eine mir bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannte Klarheit und gesteigerte Anwesenheit meiner Aufmerksamkeit, meines Selbst. Mir wurde klar, dass das alte Selbst, dessen Identität mit dem materiellen Besitz aus der Vergangenheit in Flammen aufgegangen war, nicht mein wirkliches Selbst war. Mein wirkliches Selbst war plötzlich viel erlebbarer und gegenwärtiger als je zuvor. Ich fühlte mich nicht mehr beschwert von den materiellen Besitztümern, die das Feuer gerade verzehrt hatte. Ohne sie war ich viel leichter und offen dafür, dem anderen Teil meines Selbst zu begegnen, dem Teil, der mich in die Zukunft zog, in eine Zukunft, die mich erwartete, die mich brauchte, damit sie durch mich in die Welt kommen konnte.
Am nächsten Tag kam mein 87-jähriger Großvater zu einem letzten Besuch auf den Hof. Er hatte in diesem Haus sein ganzes Leben gelebt, seit 1890. Aufgrund von medizinischen Behandlungen war er eine Woche vor dem Feuer außer Haus gewesen, und als er einen Tag nach dem Feuer auf dem Hof ankam, raffte er all seine Kräfte zusammen, stieg aus dem Auto und ging schnurstracks auf meinen Vater zu, der mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Er ging zu meinem Vater, nahm seine Hand und sagte: »Kopf hoch, mein Junge, blick nach vorn!« Sie wechselten noch einige Worte. Dann drehte er sich um, ging zum wartenden Auto zurück und wurde zurückgefahren. Wenige Tage später verstarb er sanft.
Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass meine Erfahrung angesichts des Feuers der Anfang eines Weges war. Meines Weges. Dieser Weg fing an mit der Erkenntnis, dass ich nicht nur ein Selbst besitze, sondern zwei: Das eine Selbst reflektiert unseren vergangenen Weg; das andere, unser werdendes Selbst, erleben wir als ein Sich-hinein-Lehnen in unseren zukünftigen Weg, in einen Möglichkeitsraum, der auf uns wartet, um in die Welt zu kommen. Was an jenem Tag angesichts des Feuers geschah, lässt sich vielleicht so verstehen, dass diese zwei Formen des Selbst anfingen, sich gegenseitig wahrzunehmen. Heute, vierzig Jahre später und viele Tausende Kilometer entfernt, in Boston, Massachusetts (USA), scheinen zwei Fragen aktueller denn je: »Wer ist mein wirkliches Selbst?« und: »Wie verhält es sich zum anderen Zeitstrom, der mich von der entstehenden Zukunft her in sich hineinzuziehen schien?«
Der Weg von Theorie U ist im Grunde eine Erforschung der Frage, wie wir diese tieferen Quellen von Zeit, Sein und Selbst auf eine Weise erschließen können, die verlässlich, praktisch und kollektiv ist – und die funktioniert, ohne dass Haus und Hof deiner Familie jeden Morgen in Flammen aufgehen. Diese Fragen haben mich schließlich dazu bewogen, Deutschland zu verlassen, 1994 in die USA zu gehen und dort meine Forschung am Organizational Learning Center des MIT (Massachusetts Institute of Technology) weiterzuführen.