Читать книгу Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - Страница 10
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Maggie hat immer irgendein Ding am Laufen. Ständig startet sie ein neues Projekt – mal pflastert sie die Wände mit inspirierenden Zitaten zu, dann macht sie eine Ausbildung zur Geburtshelferin oder startet eine Rohkostdiät (die echt der größte Horror war). Und irgendwie gelingt es ihr immer, uns andere mit hineinzuziehen.
Aber gegen das Spiegelritual habe ich nichts einzuwenden. Davor drücken kann ich mich sowieso nicht, da wir drei uns ein Badezimmer teilen. Unser Spiegelritual ist ein weiterer Versuch von Maggie, zu helfen. So wie ihre im Haus verteilten Post-its mit positiven Bestärkungen oder die ruhige Ecke mit Sitzsäcken und Entspannungsmusik, die sie mir in meinem Zimmer eingerichtet hat.
Ich weiß ihre Mühe zu schätzen. Nur leider bringt die Aufmerksamkeit, die andere Menschen mir schenken, mein Sorgenkarussell so richtig in Fahrt.
Ich kann nicht anders, als sie zu hinterfragen. Bin ich eine zu große Belastung? Bin ich nervig? Störe ich?
Die anderen sind schon unten und helfen Mom bei den Vorbereitungen. Sie sind also zu beschäftigt, um nach mir zu sehen – damit hab ich das Badezimmer für mich allein. Genau das ist es, was ich im Augenblick brauche.
Dass ich gestern nichts vom Wettbewerb gehört habe, heißt offensichtlich: Ich hab verloren. Ich bin Ablehnungen gewohnt – Bewerbungen an verschiedene Zeitschriften zu schicken, bringt diese Erfahrung mit sich – aber weh tut es trotzdem.
Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht und stelle mich meinem Spiegelbild. Ich hab Augenringe und an den Mundwinkeln ein paar verkrustete Pickel, aber ansonsten kann ich mich sehen lassen. Die Regel ist, dass wir jeden Morgen etwas Positives zu unserem Spiegelbild sagen.
Es hat eine Weile gedauert, aber ja, ich mag mein Gesicht. Ich habe dunkelbraune Haut und volle Lippen und das, was Beyoncé eine »Negro Nose« nennen würde. Mein Gesicht sieht echt süß aus, vor allem mag ich meine Wangen. Mom kneift mir immer noch manchmal hinein, als wäre ich ein Kleinkind. Und ich hab was aus meinen Haaren gemacht. Ich hab zwar keinen Afro, aber es gibt eine hübsche Menge kleiner Löckchen da oben. Ich lächle.
Ernsthaft, ich brauche dieses Ritual nicht. Ich finde mich nicht hässlich. Aber Maggie meint, es geht nicht um die äußere Schönheit. Was zählt, ist der innere Frieden oder das Selbstbewusstsein oder so was in der Art. Also öffne ich meinen Mund und sage: »Du bist klug und liebenswert und talentiert.« Es klingt, als wäre es ein Satz von Barney, dem Dino aus der Zeichentrickserie.
Mein Gesicht zu mögen, ist einfach. Was mir zu schaffen macht, ist der Rest meines Körpers. Ich ziehe mein Tanktop, in dem ich letzte Nacht geschlafen habe, hoch und schaue auf meinen hervorquellenden Bauch. Ich glaube, es ist einfach eine Angewohnheit, ihn in diesen Augenblicken einzuziehen. Jedes Mal, wenn ich ihn loslasse, fühle ich mich befreit – und bin enttäuscht.
Mit meiner Therapeutin Laura arbeite ich an meinem Framing, so nenne ich es, weil es mich an einen eingerahmten Fernsehbildschirm erinnert. Es geht darum, sich selbst und die eigene Situation in einem anderen Licht zu sehen.
Also versuche ich, mein Gesicht nicht zu verziehen, wenn ich meinen Bauch sehe. Ja, er sollte vielleicht nicht ganz so dick sein, aber er ist völlig in Ordnung, denn jeder Körper ist anders. Wenn ich alleine bin, habe ich kein Problem mit meinem Bauch. Ich versuche, an Winnie Puuh zu denken und daran, wie sehr er von allen geliebt wird und wie ihn sein kurzes Crop Top quasi zur Mode-Ikone gemacht hat. Dieser Gedanke zaubert mir ein echtes Lächeln ins Gesicht. Ich reibe mit den Händen über meinen Bauch und schwenke ihn vor dem Spiegel auf und ab. Es ist nichts falsch an einem Bauch. Bäuche sind knuffig und sie beherbergen wichtige innere Organe.
»Tun die weh?«
Rasch schaue ich auf und begegne im Spiegel dem Blick von Alice. Sie ist größer als ich, was in Anbetracht meiner knapp 1,64 m Körpergröße auch keine Kunst ist. Ihr Seidenschal ist noch um ihren Kopf gebunden und ihr Schlafshirt schlottert um ihre schlanke Taille. Ich muss eine große Portion meiner Eifersucht in mir zurückdrängen.
»Tut was weh?« Ich räuspere mich und bewege meine Arme.
»Die Dehnungsstreifen.« Pfeilschnell streift ihr Blick meinen Bauch, noch ehe ich das Tanktop wieder runterziehen kann. »Maggie hatte diese Streifen während ihrer Schwangerschaft, obwohl sie sich ständig mit Sheabutter eingecremt hat.«
»Ich erinnere mich.« Ich muss den Kopf schütteln, als ich daran denke. Ich war dreizehn und damit alt genug für eine Kein-Sex-vor-der-Ehe-Predigt meiner Eltern. »Und nein, sie tun nicht weh.«
Es scheint nicht so, als wollte Alice mich runtermachen, aber so ganz sicher bin ich mir bei meiner Schwester nie.
Und selbst wenn sie es nicht so gemeint hat, meine Stimmung ist umgeschlagen. Es ist nicht nur meine eigene Stimme, die mir eintrichtert, es sei etwas falsch an meinem Körper. Normale Menschen sollten keine Dehnungsstreifen haben, es sei denn, sie sind schwanger. Ich weiß nicht mal, wie ich diese tiefen Rillen an den Rändern meines Bauches bekommen habe. Sie sind dunkler als der Rest meiner Haut.
»Na ja, zumindest musst du dir dann später keinen Kopf drum machen«, bemerkt Alice, zieht sich den Seidenschal von den Haaren und streicht sich mit den Fingern durch die Zöpfe. »Macht Maggie eigentlich auch noch ihre Spiegelzeit?«
»Äh, ja?« Ich versuche, nicht die Augen zu verdrehen. »Du bist grad mal seit zwei Monaten weg. Seitdem hat sich nicht viel verändert.«
»Hmm.« Ihre Lider senken sich, während sie ihr Spiegelbild prüfend betrachtet. »Heute mag ich meine Augen. Sie sehen haselnussbraun aus.«
»Deine Augen sind dunkelbraun.«
»Ich habe gesagt, sie sehen haselnussbraun aus«, entgegnet Alice und schüttelt ihren Kopf. Meine Augenfarbe kann aussehen, wie immer ich will.«
Keine Ahnung, ob sie das ernst meint oder nicht. Alice macht aus allem einen Witz.
Ich ziehe mich für Thanksgiving an (mein heißgeliebtes orangerotes Blumenkleid) und mache mich auf den Weg nach unten.
Mom scheucht Dad, Maggie und sogar Cash mit einem Holzlöffel durch die Küche. Ich mache einen Satz zurück, aber schon wirbelt die Löffelspitze in meine Richtung. Mist. Sie hat mich gesehen.
»Warum bist du schon fertig angezogen?« Sie kneift missbilligend die Augen zusammen. »Ich brauche hier noch deine Hilfe.«
»Aber es ist schon spät.« Ich werfe einen Blick auf die tickende Küchenuhr. Es ist elf. »In einer Stunde ist hier volles Haus. Du kennst doch Tante Denise.«
Dad schnaubt. Moms Blick schießt in seine Richtung und er wendet sich wieder dem Truthahn zu. Denise und ihr neuer Ehemann, ein Typ, dessen Namen ich mir noch nicht merken wollte, kreuzen sogar noch früher als erwartet auf. Sie klingeln gleich dreimal hintereinander. Mom wirft mir einen ihrer vielsagenden Blicke zu. Maggie deckt gerade den Tisch. Cash hilft ihr, meine Eltern sind noch mit Kochen beschäftigt, und wann Alice sich bequemt, wieder nach unten zu kommen, weiß der Himmel. Was bedeutet: Ich bin diejenige, die jetzt für das Unterhaltungsprogramm zuständig ist. Die Anwesenheit der beiden bringt meine Ängste aufs Parkett, selbst wenn ich weiß, dass es keinen rationalen Grund dafür gibt.
»Josie.« Tante Denise zieht mich an ihre Brust. »Oh, schau dich nur an. Wie groß du bist!«
Ich zucke zusammen. Dass Tante Denise so dünn ist wie mein kleiner Finger, hilft nicht wirklich. Sie macht einen Schritt zurück und taxiert meinen Körper. Ihr Blick gleitet von oben nach unten wie ein Scanner. Ich fixiere den Fleck auf ihrer Brust, der heller ist als der Rest ihrer Haut. Vielleicht ist es ein Muttermal.
»Wie läuft’s mit der College-Bewerbung?«
»Gut.« Ich zucke mit den Achseln. »Ich hab mich frühzeitig bei Spelman beworben und jetzt warte ich auf ihre Antwort.«
»Uuuuh.« Denise tätschelt meine Wange. »Steigst in die Fußstapfen deiner Schwester Alice, was?«
»Also eigentlich wollte ich schon vor ihr auf dieses College«, werfe ich schnaubend ein. »Sie ist in meine Fußstapfen getreten.«
»Genau.« Tante Denise lächelt über mich, als wäre ich ein Kindergartenkind. »Natürlich, meine Süße.«
Mit ihrem Ehemann im Schlepptau wuselt sie an mir vorbei. Ich linse in die Küche, wo sie Moms und Dads Aufmerksamkeit schon auf sich gezogen hat. Das gibt mir ein paar Augenblicke Zeit, um mich zurückzuziehen. Ehe sich die anderen fragen, wo ich stecke, sprinte ich die Treppen hoch. Jetzt wo Alice zu Hause ist, teilen wir uns wieder das Zimmer. Ihr Gepäck liegt noch immer so dicht vor der Tür, dass ich den Bauch einziehen muss, um mich ins Zimmer zu schieben. Ich kicke einen ihrer Koffer aus dem Weg, was eigentlich auch die Tür hätte erledigen können.
Ich ziehe das Handy vom Ladekabel. Mom hasst es, wenn unsere Handys während des Familienessens auf dem Tisch liegen, aber selbst an Thanksgiving kommt es selten vor, dass wir wirklich alle zusammen sind. Früher oder später sitzen wir eh in kleinen Grüppchen im Haus verteilt. Und solange ich alle begrüße, wird Mom mein Handy nicht bemerken.
Ich lese einen Artikel über die Entstehung von Boys in the Hood. Während ich über die Zeilen fliege, halte ich die Zimmertür geschlossen, selbst als ich höre, wie unten die Haustür aufgeht und das Lachen und Reden der anderen zu mir hochdringt. Beinahe hätten die Geräusche den Ton der eingehenden E-Mails übertönt.
Es sind die üblichen Verdächtigen – Spammails mit dem Betreff Stalke deinen Ex-Mann, College-Werbung … Aber.
Aber.
Dazwischen ist eine von der Zeitschrift Deep Focus. Ich öffne sie und gebe alles, um nicht laut loszukreischen.
Liebe Josephine,
herzlichen Glückwunsch. Sie wurden zur Gewinnerin der Deep Focus-Talentsuche gewählt. Als Jury über die diesjährigen Beiträge entschied ein Team aus 15 Journalist*innen und Redakteur*innen. Unsere Ankündigung kommt verspätet, weil unsere Jurymitglieder sich nur schwer auf eine der 400 Finalist*innen einigen konnten, aber zu guter Letzt fiel die Wahl auf Sie.
Sie können stolz auf sich sein.
O.
Mein.
Gott.
Ich stoße einen Schrei aus.
Von unten ertönt ein lautes Rumsen. Mein Blick schnellt zurück auf das Handy.
Wie Sie sicher wissen, ist der Hauptpreis die Teilnahme an der Pressetour für den neuen Film Incident on 57th Street, in dem unter anderem der Academy-Award-Kandidat Art Springfield, Grace Gibbs und der Schauspiel-Newcomer Marius Canet mitwirken.
Da Deep Focus mit Spotlight Pictures kooperiert, erhalten Sie den direkten Zugang zu Cast und Crew. Der Schwerpunkt wird auf dem Verfassen eines Porträts über Marius liegen, der für seine Performance hymnische Kritiken geerntet hat.
Für den Zeitraum von zwei Wochen werden Sie die Presse-events unserer Redaktionen in Los Angeles, Austin, Chicago, Atlanta und New York begleiten. Sämtliche Reise- und Unterkunftskosten trägt Deep Focus. Darüber hinaus erhalten Sie ein Preisgeld von 500 Dollar in bar.
Es freut mich wirklich sehr, Sie als Teil des Deep Focus Teams begrüßen zu dürfen. Ich verantworte die Leitung Ihres Aufgabenbereiches, was bedeutet, dass ich die Interviews und Events organisiere sowie Ihre Reisen im Rahmen der Pressetour. Außerdem werde ich als Erste Ihren Abschlussartikel prüfen, bevor wir ihn dann beim Redaktionsteam einreichen. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, kontaktieren Sie mich jederzeit gerne.
Im Anhang der E-Mail finden Sie darüber hinaus einen Vertrag. Bitte prüfen Sie den Vertrag gründlich und unterzeichnen Sie ihn zusammen mit einem Elternteil. Anschließend schicken Sie ihn mir am besten so bald wie möglich zurück, da wir mit der Planung erst fortfahren können, wenn wir den unterschriebenen Vertrag vorliegen haben.
Per Post lassen wir Ihnen außerdem einen offiziellen Deep Focus-Presseausweis zukommen, den Sie während Ihrer Tour tragen müssen. Sobald der Vertrag unterzeichnet ist, lassen wir Sie nach Los Angeles einfliegen, wo nächstes Wochenende ein Screening mit anschließender Pressekonferenz stattfinden wird. Wenn Sie mit allem einverstanden sind, versorge ich Sie schon bald mit detaillierten Informationen. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
Mit herzlichen Grüßen
Laureen Jacobson, Publicity Managerin bei Deep Focus
Meine Hände zittern.
Ich. Ich habe den Wettbewerb gewonnen. Ich.
Als sie mich in der ersten E-Mail darüber informierten, dass ich in der Endrunde war, schrieben sie, dass sie aus den 2000 Einsendungen 400 ausgesucht hatten. Und aus vierhundert Menschen wählten sie mich. Es ist unfassbar. Es fühlt sich komplett surreal an. Die Pressefrau meiner Lieblingszeitschrift hat mir gerade eine E-Mail geschickt. Ich werde einen Text für Deep Focus schreiben. Ich, ich, ich.
Ich kann mir nicht mal ausmalen, in wie vieler Hinsicht sich das hier auf meine Karriere auswirken könnte. Seit über vierzig Jahren ist Deep Focus das schlagende Herz populärer Kultur. Alle, die irgendwie berühmt sind, waren schon mal auf dem Titelblatt. Dazu zählen unter vielen anderen:
•klassische Musikstars wie die Beatles, Michael Jackson und David Bowie
•jüngere Musikstars wie Adele, Kendrick Lamar und Lorde
•die Queen (Beyoncé)
•Filmstars wie Heath Ledger, Denzel Washington, Cate Blanchett, Natalie Portman, Keira Kneightly, Andrew Garfield, Issa Rae …
Allein bei dem Gedanken wird mir schwindelig.
Schon immer habe ich die Porträts über all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Regisseurinnen und Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler verschlungen, auch wenn ich sicher bin, dass die meisten eine inszenierte Lebensgeschichte erzählen. Aber jetzt erhalte ich endlich die Chance, selbst zu erleben, wie so was läuft. Wie in aller Welt soll man so etwas überhaupt in seinen Lebenslauf integrieren? In einem speziellen Kästchen mit Leuchtbuchstaben und Glitzerstaub?
Der Wettbewerb könnte mir natürlich auch helfen, mehr freie Jobs als Journalistin zu bekommen. Das hier könnte zu größeren Aufträgen führen. Denn das hier – meine Damen und Herren – ist Deep Focus! Hiernach kann ich eigentlich tun und lassen, was ich will.
Ich halte mir die Hand vor den Mund. In mein hysterisches Gekicher mischt sich ein weiterer Schrei und lässt mich wie ein nervöses Pferd klingen. Was mir nicht das Geringste ausmacht. Klar, ich habe meinen Eltern noch nicht erzählt, dass der Hauptgewinn beinhaltet, mit einer Gruppe von Schauspielerinnen, Schauspielern, einem Regisseur und anderen Filmleuten durch fünf verschiedene Großstädte zu reisen. Klar, ich leide unter einer Angststörung und hasse es, von vielen Menschen umgeben zu sein, die ich nicht kenne.
Aber, mein Gott, die Pluspunkte wiegen so viel mehr als die Nachteile. Das hier ist meine Chance, endlich einmal etwas Aufregendes zu erleben. Das hier ist meine Chance, das, was ich liebe, auf einer höheren Ebene zu tun. Das hier ist meine Chance, als Journalistin ernst genommen zu werden.
Ich öffne zwei verschiedene Tabs, gebe den Namen des Schauspielers in den einen und den Titel des Films in den anderen ein. Ich öffne eine weitere E-Mail, um Ms. Jacobson zu antworten. Aber was soll ich bloß schreiben?
»Josephine?«
Moms Stimme tönt zu mir herauf. »Komm sofort runter!«
Oh, alles klar. Immer schön der Reihe nach: Als Erstes muss ich Mom und Dad um Erlaubnis bitten.