Читать книгу Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - Страница 7
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Ich habe ein und denselben Satz fünfmal umgeschrieben. Egal, wie ich die Worte drehe und wende – druckreif klingen sie nicht.
Offensichtlich können Filme von Schwarzen nur dann mit guten Kritiken rechnen, wenn es Problemfilme sind, die unser Leiden dramatisch zur Schau stellen. Wo sind unsere glücklichen Filme? Es gibt sie – aber Oscars gewinnen sie nicht.
Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tastatur meines Laptops. Was natürlich nichts ändert. Nach wie vor sitze ich im Wohnzimmer auf der Couch, im Fernseher läuft eine Episode der Real Housewives. Mein Word-Dokument starrt mich schweigend an und der Cursor blinkt, als wollte er mich herausfordern, den verfluchten Satz zum sechsten Mal umzuformulieren. Wie soll ich einen kritischen Kommentar wie diesen abrunden? Schlussendlich ist mir klar, dass die meisten Menschen, die das hier lesen, weiß sind und sich nicht mit dem Thema Rassismus beschäftigen wollen, aber bitte kündigen Sie ihr Zeitungsabo trotzdem nicht.
Ich verkleinere die Dokumentansicht, um mein Postfach zu checken. Keine neuen E-Mails. Noch immer dieselben Nachrichten im Posteingang: eine E-Mail von Target, eine vom Spelman College, die mir den Eingang meiner Bewerbung bestätigt, ein paar Nachrichten von Instagram. Nichts vom Wettbewerb. Kein Mensch schreibt mir, ob ich gewonnen oder verloren habe.
Puh! Ich reibe mir die Stirn und starre auf die Deep Focus Titelseiten, die über unserem Fernseher hängen. Die Porträts der Obamas, von Serena Williams und Jimi Hendrix. Sie zählen zu den großartigsten Titelseiten meiner absoluten Lieblingszeitschrift. Normalerweise inspirieren sie mich. Aber in diesem Augenblick reiben sie mir etwas zu demonstrativ unter die Nase, dass ich dem Ergebnis des Talentwettbewerbs entgegenfiebere. Falls ich gewinne, krieg ich die Chance, eine Titelstory für diese Zeitschrift zu schreiben. Ich könnte eine Titelstory für Deep Focus schreiben!
Ich nehme einen tiefen, zittrigen Atemzug. Das ist fast zu viel für meinen Kopf.
Worauf ich mich konzentrieren sollte, ist dieser Kommentar, den Monique von mir erwartet. Ich hoffe, sie mag ihn. Sie mochte meinen letzten und auch den davor. Das sollte mir ein besseres Gefühl geben. Aber meinem Sorgenkarussell ist es komplett egal, wie ich mich fühlen sollte. Laut meinen Schwestern mache ich mir über alles Sorgen, sogar über unnötige, insbesondere aber über die wirklich wichtigen Dinge.
Wieder schiele ich auf den Posteingang. Noch immer nichts Neues. Heute ist der letzte Tag. Wer gewonnen hat, wird bis zum Abend informiert. Aber mein Postfach bleibt still. Warum brauchen die so lang? Was, wenn sie meine Textproben nicht mochten oder meinen Schreibstil zu unreif fanden oder davon abgeschreckt waren, wie viel ich über Rassismus schreibe?
»Na, da schau her. Unsere Josie hat sich seit meiner Abfahrt nicht vom Fleck gerührt.«
Mein Kopf schnellt hoch. Dad kommt durch die Tür geschlurft, mit der linken Hand zieht er einen lilafarbenen Koffer hinter sich her, mit der rechten hält er seinen Rucksack am Riemen. Keine Ahnung, wozu Alice das ganze Zeug braucht. Ihr College ist grad mal eine Autostunde entfernt. Wenn sie wollte, könnte sie jedes Wochenende nach Hause kommen.
Dad trägt noch immer seine Buchhalterkleidung. Das weiße Shirt und die schwarze Krawatte umwehen eine Aura aus Zahlen und Rechnungen. Dads Blick fällt auf den stumm geschalteten Fernseher. Blonde Frauen in Glitzerkleidern liefern sich ein wildes Wortgefecht an einem gigantischen Esstisch.
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich lass das nur als Hintergrundkulisse laufen«, sage ich.
Alice erscheint und verdreht zur Begrüßung die Augen. Sie sieht noch genauso aus wie beim Abschied im August; von den zerschlissenen Jeans über die lila gefärbten Spitzen der Box Braids bis hin zu ihrem Markenzeichen: dem gelangweilten Gesichtsausdruck.
Scheinbar haben auch die ersten paar Monate am College nicht das Geringste geändert.
»Und? Woran schreibst du gerade?«, fragt sie und schleudert ihren Rucksack in die Ecke. »An einer weiteren Inhaltsangabe der Real Housewives?«
»Halt die Klappe.« Meine Schwester weiß ganz genau, dass ich diese Zusammenfassungen nur geschrieben habe, um einen Fuß in die Tür zu kriegen. »Das hier ist ein ernsthafter Artikel.«
»Hast du beim letzten Mal auch gesagt.«
Mit finsterer Miene öffne ich meine E-Mails, schicke das Dokument ab und klappe meinen Laptop zu. Mein Text ist startklar. Wenn Monique etwas daran auszusetzen hat, wird sie mir ihre Anmerkungen schicken, so wie immer. Zumindest ist der Text besser als eine Zusammenfassung der Real Housewives.
»Lasst gut sein, Mädels«, sagt Dad. »Wo ist Maggie?«
»Bei der Arbeit«, entgegne ich. »Und die Bücherei hat Thanksgiving vorverlegt und feiert das jetzt mit Spielen oder so, deshalb hat Mom Cash mitgenommen. Wahrscheinlich muss sie bis zum Ende bleiben und alles aufräumen.«
»Die beuten sie ganz schön aus.« Dad schüttelt den Kopf, aber seiner Stimme fehlt der Biss. »Schon immer.«
Ich stehe vom Sofa auf. Kaum habe ich meine Arme nach Dad ausgestreckt, da hat er mich schon umschlungen. Die besten Umarmungen kommen immer von ihm.
Schließlich löse ich mich, um Alice zu umarmen, aber sie zuckt schnaubend zurück. Keine Ahnung, warum ich es überhaupt noch versuche.
Als Dad und Alice ihr Gepäck hochgebracht haben, ist auch der Rest der Familie zu Hause eingetrudelt. Meine älteste Schwester trägt noch ihre Arbeitskleidung, Khakis und Schürze. »Hier kommt Maggie, die Angestellte des Monats«, verkünde ich und halte mein Handy hoch. »Schießen wir doch gleich mal ein Glückwunschfoto.«
Mit aufgerissenen Augen stürzt Maggie auf mich zu. »Josie, verdammt –«
»Mama«, ruft Cash und windet sich. »Nicht fluchen!«
»Hast ja recht, Baby.« Maggie schaut zu ihrem Sohn herunter. »Keine Flüche.«
Als Cash in die Küche tapert, streckt sie mir die Zunge raus. Ich pruste los.
Heute ist unser erstes Familiendinner seit Alices Abschiedsabend vor dem College. Es ist nicht so, dass wir uns aus dem Weg gehen, unsere Terminkalender finden einfach keinen gemeinsamen Nenner. Dad kommt spät von der Arbeit, Maggie macht ständig Überstunden und Alice ist im College. Bleiben Mom, Cash und ich und für gewöhnlich essen wir abends vor dem Fernseher. Es scheint Cash fast ein wenig zu erschrecken, dass er plötzlich am Esstisch sitzt.
Als sich auch die anderen auf ihren Stühlen niedergelassen haben, trommle ich mir mit den Fingern gegen den Oberschenkel und bekämpfe den Drang, zurück an den Computer zu gehen, um nachzuschauen, ob ich endlich eine Antwort vom Wettbewerb bekommen hab. Und um zu checken, ob Monique schon auf meine E-Mail reagiert hat.
Laut Maggie bin ich überall und ständig auf der Suche nach Dingen, die mein Sorgenkarussell am Laufen halten. Und ich schätze, ich hab auch jetzt wieder was gefunden. Die Deadline zur Abgabe ist nicht vor nächster Woche und eigentlich bin ich sicher, dass mit meinem Text alles in Ordnung ist. Aber wenn mich eine Sache umtreibt, dann tendiert diese Sorge dazu, auch in alle anderen Bereiche meines Lebens hineinzubluten. Als würde es nicht reichen, dass ich ängstlich auf die Rückmeldung vom Wettbewerb warte, zerbreche ich mir pausenlos den Kopf über alles, was mit dem Text für Monique schiefgelaufen sein könnte – der Artikel könnte gelöscht worden sein oder sich in Luft aufgelöst haben, Monique könnte ihn schrecklich finden und nie wieder mit mir arbeiten wollen, meine Worte könnten wie die einer anderen klingen und mich als Plagiatorin dastehen lassen, Monique könnte mir vorwerfen, rassistisch zu sein (obwohl sie selbst Schwarz ist) und sich fragen, was in aller Welt ich wohl als Nächstes verzapfen werde …
So geht es endlos weiter – und hört erst auf, wenn ich mit dem Schreiben anfange. Keine Ahnung, was es ist. Irgendetwas am Schreibprozess bringt mein Gehirn dazu, für einen kleinen Moment abzuschalten.
»Wie läuft’s bei Spelman, Alice?«
Moms Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Mom kleidet sich immer wie eine hippe Bibliothekarin – Sketchers-Turnschuhe und ein T-Shirt mit der Aufschrift Alle Coolen Kids Lesen. Der Bügel der pinken Lesebrille klemmt im Knopfloch ihrer Strickjacke.
»Super.« Alice greift sich noch ein Stück Pizza aus der geöffneten Schachtel. Die selbst gekochte Mahlzeit kommt erst morgen auf den Tisch, wenn sich die gesamte Familie zum Thanksgiving-Essen versammelt. Allein der Gedanke daran lässt mich schaudern.
»Ich bin im College jetzt übrigens einer Schwesternschaft beigetreten«, erklärt Alice, »und das hilft mir echt total, mich mehr als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.«
»Du? Eine Schwesternschaft?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Das ist ja wohl ein Witz, oder?«
»Hey, komm schon«, wirft Maggie ein. »Sie kann doch mal was Neues ausprobieren.«
Ein selbstzufriedenes Lächeln erhellt Alices Gesicht. Ich mag es lieber, wenn ich Maggie für mich habe.
»Du wirst sicher auch alles Mögliche austesten, wenn du nächsten Herbst nach Spelman kommst«, fährt Maggie fort. »Wer weiß? Vielleicht trittst du auch einer Schwesternschaft bei.«
Alice schnaubt. Ich blitze sie an.
»Genau«, sage ich. »Vielleicht. Das werden wir dann ja sehen, schätze ich.«
»Bei Spelman ist jede Menge los.« Alice verdreht die Augen.
»Du wirst schon was finden, was ich nicht als Erste probiert habe.«
Ich kralle mich an meiner Tasse fest. Säßen Mom und Dad nicht am Tisch, würde ich über Alice herfallen und sie höchstwahrscheinlich postwendend über mich. Aber jetzt muss ich mich am Riemen reißen und mich zivilisiert verhalten, auch wenn nichts von alldem hier meine Schuld ist.
Schon seit der Mittelstufe will ich aufs Spelman College. Mom hat da studiert, Grandma, sogar Tante Denise. Das war schon immer mein Ding gewesen, aber letztes Jahr bewarb sich plötzlich Alice, einfach so, komplett aus dem Nichts heraus – und wurde angenommen. Natürlich hab ich mich trotzdem frühzeitig, im allerersten Zulassungsverfahren, beworben – genau wie es von Anfang an mein Plan war. Aber jetzt werde ich den Campus mit meiner Schwester teilen müssen, wenn sie mich annehmen.
Und das war definitiv nicht Teil meines Wunschszenarios.
»Tante Josie?«, Cash streckt seine kleinen Hände nach mir aus. »Was ist eine Schwesternschaft?«
»So was wie ein Club«, nimmt Dad mir das Wort aus dem Mund. »Aber für Studentinnen.«
»Vergiss nicht, dein Gemüse zu essen, Josephine.« Mom schaufelt mir eine Portion Salat auf den Teller. »Besser ein bisschen mehr Salat als ein weiteres Stück Pizza. Denk dran, dass Diabetes bei uns in der Familie liegt.«
Alice und Maggie wechseln Blicke. Ich starre krampfhaft auf meinen Teller, aber ich bezweifle, dass Mom es kapiert. Sie teilt ständig diese Kommentare aus, als würde ich nicht ohnehin schon jeden Bissen zweimal abwägen.
»Grandpa?« Cash wendet sich an Dad. »Erzählst du mir eine Geschichte?«
»Nach dem Essen, Kumpelchen.«
Ich stochere mit der Gabel in meinem Salat herum. Maggie rät mir immer, ich soll Mom sofort wissen lassen, was ihre Worte mit mir machen, bevor sie vergisst, was sie gesagt hat. Aber das geht jetzt nicht. Cash sitzt direkt neben mir. Außerdem würden wir dann sowieso nur streiten, weil sie behaupten würde, dass sie sich lediglich um meine Gesundheit sorgt. Wie soll ich darauf reagieren, ohne zickig zu klingen?
Statt eine Antwort zu geben, stehe ich auf und fange an, den Tisch abzuräumen, ehe irgendwer darum bitten kann. Ich will dieses Familiendinner hinter mich bringen, und zwar so schnell es geht.
»Josie, bleib bitte noch«, ruft Dad mich zurück. »Deine Mutter und ich möchten gerne mit dir sprechen. Allein.«
Maggie hebt Cash vom Stuhl und räumt das Feld. Alice sprintet die Treppen hoch. Verräterinnen.
Dass Mom und Dad ein solches Gespräch ankündigen, ist nicht normal. Normalerweise reden sie einfach drauflos. Meine Schwestern schicken sie nur dann aus dem Zimmer, wenn sich die Gespräche um meine Ängste drehen. Sehnsüchtig starre ich Cash hinterher. Ihn zu babysitten, wäre mir gerade echt tausendmal lieber, als ein vertrauliches Gespräch mit Mom und Dad zu führen.
Ich zermartere mir das Hirn, um herauszufinden, worüber die beiden mit mir sprechen wollen. Ich bin nicht schwanger. Ich trinke keinen Alkohol, ich nehme keine Drogen. Ich gehe einfach nur zur Schule, schreibe nebenbei ein paar Artikel für Zeitschriften und jobbe in Coras Hühnerstall, einem schäbigen kleinen Restaurant in unserer Nähe. Tatsächlich hab ich nicht mal viele Freundinnen oder Freunde. Klar, es gibt diese sogenannten Schulfreundschaften, die Leute, mit denen man sich im Klassenraum unterhält, die Mittagspause verbringt oder sich im Sportunterricht zusammentut. Aber jetzt ist fast Dezember. Wir sind also beinahe in unserem Abschlussmonat, bei dem praktisch niemand von uns mehr physisch in der Schule erscheinen muss.
Jordan und Sadie, die Mädels, mit denen ich meine Mittagspause verbringe, hab ich seit gestern nicht mehr zu Gesicht bekommen, und abgesehen von den letzten beiden Schultagen nächste Woche, bezweifle ich, dass wir uns in diesem Jahr noch mal treffen werden.
»Worum geht’s?«, frage ich mit dem Rücken zur Tür. Meine Hand unter dem T-Shirt krampft sich zur Faust. »Meine Bewerbung bei Spelman?«
Das meiste davon hab ich selbst gemacht, aber Mom und Dad mussten den Antrag für die finanzielle Förderung ausfüllen und die Anmeldegebühren zahlen. O mein Gott. Haben wir Geldsorgen? Was, wenn meine Eltern das College nicht zahlen können? Dass ich meinen Beitrag leisten muss, war mir natürlich von Anfang an klar – für die Privatschule kriegen meine Eltern einen Rabatt, weil Tante Denise die Schulverwaltung leitet, aber mit drei Töchtern und Berufen der Mittelschicht bezweifle ich, dass sie das College stemmen können. Was, wenn es so schlimm um uns steht, dass mein Honorar für die journalistischen Texte und mein Gehalt von Coras Hühnerstall nicht ausreichen? Wir haben finanzielle Unterstützung beantragt, aber wenn auch die nicht genügen sollte, was dann?
Ich will tief Luft holen, doch in meiner Brust herrscht Atemnot.
»Nein, darum geht’s nicht.« Mom greift nach meiner Hand und zieht mich zurück zum Tisch. Ich bin noch immer wütend wegen der Sache mit der Pizza, aber Moms weiche Hände und ihr liebevolles Lächeln machen es mir echt schwer, lange sauer auf sie zu sein.
»Wir haben uns nur um dich gesorgt, Josephine, das ist alles.«
»Gesorgt, um mich?« Meine Augenbrauen schießen hoch. Mein Blick gleitet zu Dad. Es kommt mir vor, als hätte er seit Beginn dieser Unterredung kein einziges Mal geblinzelt. »Warum denn das?«
»Na ja«, setzt Dad an. »Du verhältst dich einfach so gar nicht wie ein Teenager.«
»O.« Ich klatsche mir mit beiden Händen gegen die Oberschenkel. »Kommt das jetzt wieder?«
Seit ich auf die Highschool gehe, steht dieses Thema quasi einmal pro Monat an. Ich schätze, ich war in ihren Augen einfach noch nie normal. Schüchtern war ich schon immer, aber meine Eltern behaupteten, das wüchse sich aus, bis ich anfing, mich für ganze Unterrichtsstunden auf dem Schulklo einzuschließen. Dieser Zug ist längst abgefahren.
»Tja, also.« Mom wirft einen Seitenblick auf Dad. »Seit dieser schweren Zeit, die du in der Mittelstufe durchgemacht hast –«
»Mir geht’s gut«, versichere ich ihr und sinke auf den nächstbesten Stuhl. »Echt. Versprochen. Das ist doch Jahre her!«
Die Falten auf Dads Stirn kräuseln sich.
»Ernsthaft«, schiebe ich nach. »Ich war einfach nur beschäftigt mit dem Projekt für mein Abschlussjahr und allem.«
Nach meiner schweren Zeit in der Mittelstufe haben meine Eltern für mich einen Schulwechsel organisiert. Maggie hatte damals schon ihren Abschluss und Alice wollte ihre Freundinnen nicht verlassen, also war ich die Einzige, die auf die Oak Grove ging, eine Privatschule voll von Kindern reicher Eltern. Es klingt schräg und künstlerisch zugleich; ich genieße tatsächlich das Privileg, mich von einer professionellen Journalistin unterrichten zu lassen. Wir haben sogar einen echten Newsroom, den wir für unsere redaktionelle Arbeit nutzen können. Und ein weiterer Pluspunkt, auf den sich garantiert alle in der zwölften Klasse freuen: Wir kriegen quasi den gesamten Dezember frei. Theoretisch, um das große Abschlussprojekt anzugehen; wir können uns ehrenamtlich engagieren, ein Projekt umsetzen oder ein Arbeitsfeld ausprobieren, das uns interessiert. Alle finden es super, nur meine Eltern waren nicht wirklich begeistert von der Vorstellung, dass ich bis Neujahr zu Hause bleibe.
Mein Blick jagt zwischen den beiden hin und her. Dad sieht aus, als litte er unter Verstopfung.
»Das ist es nicht«, presst er hervor. »Du hast das alles großartig gemeistert, Josie! Und darum geht es uns auch gar nicht.«
»Es ist einfach schwierig, sich keine Sorgen um dich zu machen«, sagt Mom, als hätten sie dieses Gespräch einstudiert. »Maggie war ein bisschen wild, aber sie war Teil einer Gruppe und Alice ist aufgeblüht. Ich weiß, dass du hart an deinem Projekt gearbeitet hast, aber –«
»Du hast keine Freundinnen«, beendet Dad ihren Satz. »Und keine Freunde. Dabei ist es für ein Mädchen in deinem Alter doch völlig normal, dass –«
»Hallo? Ich habe sehr wohl –«
Mom wirft mir diesen vielsagenden Blick zu, in dem ich ihre Worte lesen kann: Achte auf deinen Tonfall, bevor ich dich bereuen lasse, deinen Mund geöffnet zu haben. Also halte ich die Klappe. Aber was wollen sie denn von mir hören? Nur weil ich keine AGs leite wie Alice oder einen Haufen Freundinnen habe, wie Maggie, heißt das doch nicht, dass mit mir was nicht stimmt!
Klar, ich hab vielleicht keine beste Schulfreundin oder einen besten Schulfreund, aber wer hat das schon? Und, jetzt mal ernsthaft, wie viele von uns werden nach unserem Schulabschluss im Mai noch irgendetwas miteinander zu tun haben? Die meisten können einander nicht mal ausstehen. Das ist doch auch der Grund, warum in unserem Klassenchat alle subtwittern, lästern oder sich gegenseitig bekriegen.
Ich will mit Menschen zusammen sein, die füreinander da sind. Wenn das nicht geht, dann bleib ich lieber allein.
»Also«, bekräftige ich achselzuckend. »Wie schon gesagt: Ich war mit meinem Schreiben beschäftigt und mit dem Vorweihnachtstrubel bei Cora.«
Und da kommt auch schon gleich die Resonanz – Moms zusammengekniffener Mund gepaart mit einem Seitenblick, den Dad ihr zuwirft. Aber das lasse ich mir nicht vorwerfen. Schreiben ist das Einzige, was hilft.
»Wir sind stolz darauf, dass du schreibst«, versichert Dad und klopft mir leicht auf die Schulter. »Aber du kannst nicht alles auf eine Karte setzen. Du musst ein paar Freundschaften schließen.«
»Ich habe Freundinnen«, erkläre ich und richte mich auf. »Meine Twitter Community gehört dazu. Jordan und Sadie sind meine Freundinnen. Genau wie Monique.«
Jetzt kneift Dad die Lippen zusammen, während Mom seufzend ihren Kopf in den Nacken wirft.
»Ist Monique nicht deine Redakteurin?«, fragt Dad schließlich. »Dann zählt sie nämlich nicht.«
»Ebenso wenig wie virtuelle Kontakte«, schnappt Mom. »Diese Leute kennst du ja nicht mal.«
»Monique ist die Mentorin für mein Abschlussprojekt.« Ich lege den Kopf schief. »Wisst ihr nicht mehr? Ich musste es extra von unserem Schuldirektor O’Connor genehmigen lassen. Sie ist also eine reale Person und sie ist, na ja, irgendwie beeindruckt von mir. Sie hat nur deshalb angefangen, meine Texte anzunehmen, weil sie mir auf Twitter gefolgt ist. Auch online kann man wertvolle Beziehungen haben.«
»Das ist aber nicht das, was wir meinen«, sagt Mom. »Es ist nicht normal, dass du mit Erwachsenen befreundet bist. Du solltest deine Zeit mit Jugendlichen verbringen.«
Meine Eltern zu verstehen, ist einfach unmöglich. In der einen Minute reden sie vom College, in der nächsten erklären sie mir, ich würde nicht genug herumalbern. Was erwarten sie denn von mir? Klar, manchmal scrolle ich durch Instagram und werde eifersüchtig, wenn ich alle auf Partys oder auf dem Weg in die Innenstadt von Atlanta sehe. Aber wenn ich mich dauernd mit ihnen treffen würde, wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten müsste. Beim Lunch höre ich Jordan und Sadie ständig davon reden, was sie über Sport und Tanzevents denken oder darüber, wie viel irgendwer abnehmen muss. Sechzig Prozent dieser Zeit fühle ich mich komplett orientierungslos und trotzdem habe ich kein Interesse daran, mich zurechtzufinden.
»So einfach ist das alles nicht«, sage ich. »Ich verbringe sehr viel Zeit mit Leuten in meinem Alter. Viele von ihnen arbeiten bei Cora, wie ihr wisst, und viele sehe ich jeden Tag in der Schule. Josh Sandler zum Beispiel oder Liv Caroll. Erinnert ihr euch an sie?«
Unerwähnt lasse ich die Tatsache, dass Josh mir höllisch auf die Nerven geht und dass ich die meiste Zeit meiner Schicht damit verbringe, auf Livs superenges Kellnerinnen-Shirt zu starren, während sie die Gäste bedient, aber ich schätze mal, das geht meine Eltern auch nichts an.
»Aber du gehst nie aus«, entgegnet Dad. »Du gehst nicht auf Schulbälle oder in Clubs. Du bringst nie irgendwen mit nach Hause. Wir wollen dich nicht in die Enge treiben – aber vielleicht sollten wir dieses Thema wirklich mal bei Laura ansprechen.«
Jetzt ist es an mir, die Lippen zusammenzukneifen. Die Leute aus der Schule und aus unserem Viertel waren sehr oft Gesprächsthema zwischen meiner Therapeutin und mir. Ich kann es ganz bestimmt nicht brauchen, dass Mom und Dad einen Löwenanteil unserer Zeit mit Was-auch-immer-das-hier-sein-soll belagern. Es gibt wichtigere Dinge, die ich mit Laura besprechen muss.
Ich habe längst akzeptiert, dass ich wahrscheinlich keine engen Freundschaften in meiner Schulzeit schließen werde. Und ich bin einfach nur froh, dass ich dieses Kapitel bald abschließen kann. Aber das kann ich Mom und Dad unmöglich erklären, ohne sie nur noch mehr in Aufruhr zu versetzen. Ich will es nicht mal versuchen.
»Ich glaube, ich muss einen klaren Kopf kriegen.« Ich lege meine Hände auf den Tisch. »Kann ich eine Runde mit dem Auto drehen?«