Читать книгу Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - Страница 14
Оглавление@JosieTheJournalist: Schluss mit der Konvertierungstherapie, weil WTF: WIE KANN SO WAS PERFIDFES ÜBERHAUPT EXISTIEREN???
California ist flacher, als ich es mir vorgestellt habe.
Das ist das Einzige, was mir am Samstag durch den Kopf geht – nach unserer Landung, als wir in unser Hotel einchecken und als wir uns ein Uber zum Kino bestellen. Die Sonne brennt auf uns herab, die Palmen schaukeln sanft im Wind hin und her und alles wirkt flach. Sollte es Schäden im Asphalt geben, dann fühle ich sie nicht. Alles ist glatt.
Im Gegensatz zu mir scheint Alice kein Interesse daran zu haben, aus dem Fenster zu schauen. Sie verbringt die gesamte Fahrt damit, jedes einzelne Detail auf ihrer Handykamera festzuhalten: das Auto, die Landschaft, und sie macht sogar einen Schnappschuss von mir.
»Was?«, fragt sie. »Willst du das hier nicht in Erinnerung behalten, wenn es vorbei ist?«
»Es fängt gerade erst an«, sage ich. »Du darfst doch nicht jetzt schon über die Rückreise reden!«
Sie verdreht die Augen und richtet ihr Handy wieder zum Fenster.
Das Kino sieht genau so aus wie die, die im Fernsehen so gerne für die Eröffnungsszenen benutzt werden, bevor die Kamera zum roten Teppich und der glanzvollen Filmpremiere schwenkt. Alice bedankt sich bei unserem Fahrer, während ich aus dem Auto steige und wie gebannt auf das Kino starre. Bei Tageslicht wirkt es weniger glamourös als auf dem Bildschirm, aber gerade dadurch strahlt es einen ganz eigenen Reiz aus, wie ein Gesicht ohne Make-up.
»Also, das soll es sein?« Alice schaut zu dem Plakat mit dem Filmtitel hoch und kneift die Augen zusammen. »Hier steht aber nichts von irgendwelchen Incidents oder Streets.«
»Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie Pressevorführungen auf Kinoplakaten bewerben.«
»Alles klar.« Sie wirft mir einen Blick zu. »Du weißt also, was wir tun?«
Nein, will ich sagen. Ich habe keine Ahnung, was wir tun. Ich hab so was noch nie gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher, was uns hier erwartet.
»Ja«, sage ich und taste nach dem Presseausweis in meiner Tasche. »Komm.«
Ich war nie zuvor bei einer Pressevorführung. Zu meiner Überraschung scheint niemand sonst so überwältigt davon zu sein wie ich. In der Eingangshalle steht ein Tisch, an dem die Leute einer gelangweilten rothaarigen Frau ihre Presseausweise vor die Nase halten. Für eine Sekunde dreht sich mein Sorgenkarussell: Wird diese Frau mir Fragen aufdrängen? Wird sie wissen wollen, warum ich so jung bin, warum nur ich einen Presseausweis habe, wo doch Alice an meiner Seite ist? Wird sie fragen, für wen ich schreibe, oder wird sie versuchen, Small Talk zu halten? Aber als sie meinen Namen auf der Liste abhakt, blickt sie nicht mal richtig auf. Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Worum geht es in dem Film noch mal?«, fragt Alice und hält sich dicht an meiner Seite, als wir ins Kino gehen. »Wird er mich zum Heulen bringen?«
»Keine Ahnung«, entgegne ich achselzuckend. Es fühlt sich beinahe tröstlich an, sie so nah bei mir zu haben. In diesem Meer aus Fremden ist Alice die einzige Rettungsleine, die ich habe. »Könnte schon sein.«
Der Film handelt von einem schwulen Jungen, der in ein Konvertierungscamp geschickt wird, und von dem nachhaltigen Einfluss, den dieser Horrortrip bei ihm und seiner Familie auslöst.
Alice hat keine Erfahrung mit sogenannten Oscarködern. Und ich bin nicht sicher, ob es klug ist, meine Schwester im Vorfeld aufzuklären. Sie wird sich schon ihr eigenes Bild von dem Film machen.
Die meisten Leute im Saal sind weiß und mittleren Alters. Zumindest sind auch ein paar Frauen unter ihnen. Ehe ich die Chance habe, mich noch ein bisschen umzuschauen, zieht Alice mich zu den vorderen Reihen.
»Das ist viel zu nah an der Leinwand«, widerspreche ich, während sie bereits ihre Tasche abstellt. Ihr Handy hält sie fest im Griff. »Hier kann ich nichts sehen.«
»Natürlich kannst du. Das ist der Zweck eines Kinosaals.
Dass man von jedem Platz aus sehen kann.«
»Alice!«
»Josie!«, faucht sie zurück. Ihr Kopf schnellt hoch. Die Leute starren schon zu uns rüber. Meine Wangen brennen.
»Ich bleib jedenfalls hier sitzen. Wenn du nicht willst, dann geh halt nach hinten.«
»Meine Güte.« Ich lasse mich in meinen Sitz fallen. »Ich weiß nicht, warum du so eine Zicke sein musst.«
»Dieser Zicke kannst du verdanken, dass du überhaupt hier bist.«
Ich öffne den Mund, um zu kontern, aber dann wird es dunkel im Saal. Vielleicht starten sie den Film früher, damit wir die Klappe halten.
Die gewohnte Filmvorschau wird abgespielt: ein Trailer zu einem neuen Marvel-Film, ein Action-Abenteuer über Autos und schließlich ein paar Ausschnitte aus einem Dokumentarfilm über Roy Lennox, diesen Regisseur, der schon ungefähr eine Million Oscars eingesackt hat und laut Trailer seit über zwanzig Jahren Filme macht.
Dann beginnt endlich der Hauptfilm.
Schon nach zehn Minuten wird mir klar: Etwas über einen Film zu lesen oder ihn zu sehen, ist ein großer Unterschied. Ich habe die vorzeitigen Kritiken über Marius Canets Darstellung der Hauptfigur Peter gelesen, aber sie werden seiner Leistung nicht gerecht. Und ich bin nicht sicher, wie meine Worte ihm gerecht werden sollen. Seine Rolle hat nicht viel Text – im Laufe des Films verstummt Peter mehr und mehr: als seine Eltern ihn aus dem Haus verbannen, als er gezwungen wird, seinen Freund zurückzulassen, und als er schließlich zu einer Familie zurückkehrt, die ihm fremd geworden ist – aber genau diese Sprachlosigkeit macht den Film auf eine Art noch eindrucksvoller.
Ihm zuzusehen, tut so weh, dass es mich förmlich zerreißt, ganz langsam, von innen heraus. Die ungeweinten Tränen brennen in meiner Kehle.
Ich sehe, wie andere sich Notizen machen, nicken, aber niemanden scheint der Film so ergriffen zu haben wie mich. Nur Alices Augen sind ungewöhnlich hell.
Wie jung er ist. Das ist alles, was ich denken kann. Obwohl er Schwarz ist, wirkt sein Gesicht in manchen Szenen blasser – so durchscheinend, dass ich das Gefühl habe, bis in sein Innerstes blicken zu können. Und er macht dieses Ding, wenn er weint und die Haut um seine Augenränder rot wird. Sein Blick fängt an zu suchen, überall, er irrt über jeden Winkel der Leinwand, als wollte er die Menschen im Kinosaal finden und sie – uns – um einen Ausweg bitten. Ich glaube, ich habe noch nie einen Schauspieler in diesem Alter gesehen, der so ausdrucksvoll spielt und der Dinge ausspricht, ohne dabei den Mund zu öffnen. Jedenfalls nicht seit Quvenzhané Wallis in Beasts of the Southern Wild. Und selbst im Vergleich dazu ist der Film auf einem anderen Level. Reifer, irgendwie.
Ich hatte nicht viel Zeit, mir Gedanken über das Interview mit Marius Canet zu machen. Ich war zu beschäftigt mit Packen und damit, Moms Vorträge über mich ergehen zu lassen. Aber jetzt kreisen all meine Gedanken um das Interview. Als Newcomer hat sich Marius Canet in den Medien noch nicht wirklich etabliert. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, wie er sich verhalten wird. Gestern Abend habe ich mir vor dem Einschlafen ein Interview angesehen, aber da war die ganze Besetzung dabei: Art Springfield und Grace Gibbs, die Peters Eltern spielen, und die Belegschaft aus dem Camp. Und auch da verbrachte Marius mehr Zeit mit Zuhören als mit Sprechen.
Ehe ich mich’s versehe, brennen im Saal schon wieder die Lichter und Alice stupst mich an.
»Hey.« Sie zieht die Nase hoch. »Weinst du?«
»Nein.« Ich wische mir über die feuchten Wangen. »Du?«
»Nein.« Sie zieht wieder die Nase hoch. »Natürlich nicht.«
Schweigend verlassen wir das Kino. Erst als wir draußen sind und in den rosavioletten Abendhimmel starren, öffnet Alice wieder den Mund.
»Viel gesagt hat er ja nicht.«
»Stimmt«, erwidere ich und schiebe meine Hände in die Hosentaschen. »Aber er berührt einen so sehr, dass es auch ohne Worte schmerzt.«
O Gott, in einer Stunde muss ich auf der Pressekonferenz sein. Auf einer Pressekonferenz, bei der alle Filmleute, die an der Tour teilnehmen, aufs Podium kommen – während im Zuschauerraum die Leute von der Presse – wir – sitzen, um Fragen zu stellen. Wie bitte soll ich das anstellen? Wie kann ich Marius Canet vor allen anderen ausfragen? Ich kenne ihn nicht und trotzdem ist er mir plötzlich so nah. Jetzt wünschte ich mir beinahe, ich hätte an der Pressekonferenz vor der Filmvorführung teilgenommen. Klar, dann hätte mir zwar noch der Kontext gefehlt, aber zumindest wäre ich nicht so berührt gewesen. Alles wird schwerer, wenn so viele Emotionen im Spiel sind.
»Auf jeden Fall war es traurig«, Alice schüttelt den Kopf und trommelt mit den Fingerspitzen auf ihr Handy. »Aber hauptsächlich wegen seiner Eltern. Die haben echt geglaubt, sie tun das Richtige für ihren Sohn.«
»Konvertierungstherapie kann niemals richtig sein.«
»Natürlich nicht.« Alice verdreht die Augen. »Ich meinte nur, der Film bringt so gut heraus, dass – ach, was weiß ich. Du findest seine Eltern böse, stimmt’s? Aber das ist zu kurz gedacht. Peter – er liebt sie, obwohl sie ihn an einen Ort schicken, der ihn verdrehen soll. Das ist realistisch – so läuft’s doch im echten Leben.«
Kann schon sein. Aber wenn man Mitgefühl mit den Eltern haben soll, dann habe ich den Test nicht bestanden. Warum sollte ich Mitgefühl für sie empfinden? Ja, vielleicht dachten sie, im Recht zu sein, aber sie haben alles zerstört, weil sie unfähig waren, ihr eigenes Kind zu akzeptieren. Das ist der reinste Albtraum! Was, wenn meine Eltern beschließen würden, mich von zu Hause wegzuschicken, weil meine Ängste sich verschlimmerten? Ich wäre machtlos. Und danach wäre ich aufgeschmissen und vernichtet, genau wie Peter.
Ein Auto kommt angefahren und hält vor uns am Gehsteig. Alice geht darauf zu. »Auf jeden Fall«, sagt sie, »war es echt gut gespielt.«
Ich nicke und steige schweigend ein. Im Autoradio läuft langsame, ruhige Musik, aber sobald wir uns beide auf dem Rücksitz niedergelassen haben, wechselt der Fahrer zu einem schnellen Popsong. Als er den Wagen wieder auf die Straße lenkt, beugt Alice sich vor und fängt ein Gespräch mit ihm an. Ich lehne mich im Sitz zurück und schließe die Augen. Zumindest ist mir jetzt klar, dass dieser ganze Oscaralarm keine Übertreibung ist. Ich weiß nicht, wie Marius Canet es anstellt, aber sicher ist, dass er wirklich begnadet spielt. Es ist sein erster Film und vielleicht hat er einfach einen Glückstreffer gelandet, aber das glaube ich nicht. O Gott. Wie soll ich jemanden, der so unfassbar talentiert ist, überhaupt ansprechen, ohne durchzudrehen?
»Denk nicht zu viel drüber nach«, reißt Alice mich aus meinen Gedanken. Sie schielt noch immer auf ihr Handy, aber ich schätze mal, sie meint mich. »Es ist nur ein Film.«
Und genau das ist es eben nicht. Zumindest fühlt es sich nicht so an, als wäre es nur ein Film. Nicht für mich. Nicht mehr. Das Atmen fällt mir immer schwerer. Angestrengt ziehe ich die Luft durch die Nase, in kurzen, schnellen Zügen.
»Dieser Film war wirklich gut.« Ich ringe um einen tiefen Atemzug und versuche, mich zu beruhigen. Ich sage mir, dass ich das schon schaffen werde. »Aber man hat voll gemerkt, dass ein weißer Typ das Drehbuch geschrieben hat. Weil die Rolle von Marius … nicht wirklich für einen Schwarzen geschrieben war. Er hat keinen Schwarzen gespielt.«
»Wie bitte spielt man einen Schwarzen?«
»Du weißt schon, was ich meine«, sage ich, obwohl es wirklich irgendwie falsch klingt. »Ich meine, es gab keinen richtigen Kontext. Ja klar, Art Springfield ist weiß und er spielt den Vater, was implizieren soll, dass sich in Peters Rolle zwei Kulturen mischen. Aber trotzdem gab es Szenen, die man einer Schwarzen Person einfach nicht abnimmt. Zum Beispiel, als seine Mutter ihn ohne Grund der Polizei ausliefert.«
»Oh«, Alice lehnt ihren Kopf zurück. »Stimmt, du hast recht. Oder ganz am Anfang, als Peter seine Eltern angebrüllt hat. Kannst du dir vorstellen, Mom so anzuschreien?«
»Sie würde mich wahrscheinlich umbringen.«
»Wahrscheinlich?«, gibt Alice zurück. »Wir wissen, dass sie dich umbringen würde.«
Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. Sie grinst. Es ist das erste Lächeln, das wir seit Langem teilen. Ich werde es mit zur Pressekonferenz nehmen, als Glücksbringer.