Читать книгу Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - Страница 18

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Laut Programmablauf soll ich heute Marius interviewen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das durchstehen soll, ohne mich noch mehr zur Idiotin zu machen.

»Mach dir keinen Kopf«, sagt Alice, die am Straßenrand auf unser Uber wartet. »So schlimm wie gestern Abend wird es garantiert nicht.« Ich will irgendwas erwidern wie »Besten Dank auch«, aber ich kann nicht richtig atmen, also begnüge ich mich mit einem feindseligen Blick in ihre Richtung.

Nach meinem peinlichen Auftritt hab ich Mom und Dad am Telefon vorgelogen, alles liefe super. Danach war ich hin- und hergerissen, ob ich mir die Fragen für das Interview noch mal durchlesen sollte oder doch lieber verdrängen wollte, dass das erste Gespräch mit Marius heute stattfinden würde.

Jetzt taste ich in meiner Tasche nach meinem Notizheft. Seit ich dreizehn bin, habe ich nie etwas anderes benutzt als das klassische schwarze Moleskin. Sein vertrauter Anblick hat mich durch gute und schlechte Zeiten begleitet. Ich kann nur hoffen, dass es mir heute Glück bringt.

Als wir eine Viertelstunde später am Ziel ankommen, macht mir das Atmen noch immer Probleme. Ich hasse diesen Zustand. Sämtliche Bewältigungsstrategien, die mir meine Therapeutin, Vertrauenslehrerin oder die Sozialarbeiterin jemals eingetrichtert haben, lösen sich in Luft auf. Ich fühle mich wie ein verheddertes Knäuel aus komplizierten Knoten und habe keine Ahnung, wie ich mich wieder befreien kann.

Manchmal versuche ich, einen imaginären Blick auf mich selbst in der Zukunft zu werfen. Wer werde ich in ein paar Wochen oder Monaten sein, wenn dieser Augenblick hier weit zurückliegt? Wo werde ich in einem halben Jahr sein? Werde ich wissen, wer meine Zimmernachbarin auf dem Spelman College ist? Wird mir das Atmen leichterfallen?

Das Auto parkt in einer Einkaufsstraße. Alice zögert nicht, sie ist ausgestiegen, ehe ich nach meiner Tasche greifen kann. Ich zwinge mich, Luft zu holen, aber meine Atmung bleibt flach. Dann steige ich hinter Alice aus dem Auto.

Ich kann nicht anders, als alle negativen Punkte in meinem Kopf aufzusummieren: dass ich jetzt schon am Schwitzen bin mit meiner umgehängten Kuriertasche, dass ich aussehe, als ob ich von gestern wäre, und dass mein Bauch jetzt schon auffällt. Mom liegt mir ständig in den Ohren, dass meine T-Shirts zu klein für mich sind. Keine Ahnung, ob es an meinen Brüsten oder an meinem Bauch oder an beidem zusammen liegt. Jedenfalls schaut mein Bauch im Stehen oft hervor.

Ich ziehe meine Leggings hoch. Sie bleiben sowieso nicht an ihrem Platz, aber ich versuche es dennoch.

Alice steht schon vor der Tür des Cafés.

»Ich habe Mom grad eine Nachricht geschickt.« Ihr Tonfall gibt mir zu verstehen, dass ich diese Nachricht hätte schicken sollen. »Sie wünscht uns viel Spaß und schreibt, wir sollen uns melden, wenn wir zurück im Hotel sind.«

Ich nicke. Sprechen kann ich nicht. Alice zieht eine finstere Miene und öffnet die Tür.

Mein Blick irrt durch das Café. Hier sieht es aus wie bei Starbucks an einem ruhigen Tag. Es riecht nach Kaffeebohnen und Holz. Ein paar Plätze sind frei, viele andere besetzt. An den Wänden hängen abstrakte Gemälde – von Gestalten in seltsam verrenkten Positionen – und aus den Lautsprechern tönt Panflötenmusik. Ich schaue zu den Leuten in der Schlange, zum Servicepersonal, nur nicht zu den Leuten, die sich gerade hinsetzen.

»Da.« Alice deutet mit dem Kopf nach vorn. »Okay, versuch, nicht so nervös auszusehen. Und hör auf zu starren. Mach einfach einen normalen Eindruck. Und sag nicht dauernd ähm oder keine Ahnung, wenn du Fragen stellst. Sei selbstbewusst.«

Als ob das so einfach wäre.

Mit angehaltenem Atem drehe ich meinen Kopf ein paar Zentimeter. Sobald ich ihn sehe, kann ich nicht mehr wegschauen. Er steht auf. Das entspannte Lächeln auf seinem Gesicht macht es mir noch schwerer, ihn nicht anzustarren. Ich ziehe Alice mit mir und stolpere in meiner Hast fast über meine eigenen Füße.

»Hi.« Ich strecke die Hand aus. Meine Stimme bricht. Gott. Wie konnte ich mir nur einbilden, dass ich das auf die Reihe kriege?

»Hey«, erwidert Marius und schüttelt meine Hand. Die Berührung lässt mich fast zurückschrecken. Wenigstens ist seine Stimme so entspannt wie sein Lächeln. »Ich hoffe, ihr habt gut hergefunden. Ich weiß, das Café liegt nicht gerade zentral, aber als ich das erste Mal in LA war, hat mein Agent mich hierhergebracht und seitdem ist es für mich so was wie … na ja … ein Ankerpunkt.«

Ich wünschte, ich hätte einen Ankerpunkt. Eigentlich sollte Alice ein Stück zu Hause für mich sein, aber sie steht nur da und schaut zwischen uns beiden hin und her. Ich wünschte, sie würde irgendetwas sagen. Ich wünschte, die Zeit würde nicht so rasen, damit ich wenigstens einmal richtig durchatmen könnte. Stattdessen starre ich nach unten auf Marius’ Hände. Sie sind größer als meine, ein warmes Braun. Ich kann nicht aufhören zu starren.

Es ist leichter, auf seine Hände zu gucken, als in sein Gesicht.

»Also, du bist Josephine?«

Ich krieg keinen Ton raus. Alice räuspert sich.

»Ja, das ist sie.« Alice setzt sich an den Tisch. »Ich bin ihre ältere Schwester. Bin nur zur Begleitung hier.«

»Wow.« Er setzt sich und ich schätze, dasselbe sollte ich wohl auch tun.

»Du warst gestern auf der Pressekonferenz, stimmt’s?«

Meine Kehle wird trocken. Was bitte soll ich darauf antworten? Lügen käme jetzt ziemlich schlecht. Aber genauso wenig will ich zugeben, dass ich dieses peinliche Mädchen war. Ich nicke gezwungen.

»Ich fand deine Frage ziemlich spannend«, antwortet er. »Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Tut mir leid, dass sie dich unterbrochen haben.«

Sagt er das jetzt, um mir ein besseres Gefühl zu geben, oder meint er es ernst?

Marius räuspert sich.

»Dann musst du wohl ziemlich jung sein, oder? Das ist so cool! Als ich gehört habe, dass Deep Focus ein Interview mit mir machen will, habe ich befürchtet, ich krieg so einen Journalisten in Dads Alter vorgesetzt, der mit mir über Sexszenen oder so was reden will, aber dann haben sie mir von dem Talentwettbewerb erzählt.«

»Oja?«, entgegne ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. »Ich bin siebzehn.«

»Echt jetzt? Krass!«

Ich muss irgendwas mit meiner Hand tun, während wir reden, also ziehe ich meine Tasche zu mir ran und hole mein Zubehör raus – mein Notizbuch, einen Stift und mein Aufnahmegerät. Alice zieht ihr Handy hervor, ein vertrauter Anblick, der es mir etwas leichter macht, mich zu konzentrieren.

»Ähm, hast du was dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«

Er winkt ab und rutscht mit seinem Stuhl ein Stück näher an mich heran.

»Also, wie hast du angefangen? Mit dem Schreiben und all dem?«

Ich blinzele. Die meisten Menschen wollen nichts von mir wissen, wenn ich sie interviewe. Aber Marius schaut mich an, als würde ihn meine Antwort wirklich interessieren. Er wirkt nicht, als wollte er Small Talk machen. Es fällt mir schwer, nicht zurückzustarren. Von Nahem sehen seine Lippen noch rosiger aus als auf der Leinwand. Seine Haare sind länger – oder besser gesagt, höher –, aber immer noch dunkelbraun. Durch die Fenster strömt das Sonnenlicht und bricht sich an dem silbernen Ring in seinem Nasenflügel. Der war definitiv nicht im Film. Muss ich mir für später merken.

»Josephine?«

Alice tritt mir auf den Fuß. Ich quietsche auf.

»Sorry.« Ich räuspere mich und hebe langsam meinen Blick. Braun. Seine Augen sind braun, genau wie der Rest von ihm, nur dunkler.

»Ähm, eigentlich bin ich Josie. Josephine ist der Name meiner Großmutter – oder war, bevor sie gestorben ist.«

»Okay, alles klar.« Er nickt, lächelt. Entspannt. »Also, wie hat das alles für dich angefangen?«

Ich spüre, wie Alice mich anstarrt. Okay. Soll das jetzt das ganze Interview so weiterlaufen? Damit liefere ich ihr nicht nur tonnenweise Material, mit dem sie mich später aufziehen kann, es verstärkt auch mein Gefühl, mich wie ein Baby aufzuführen.

»Alice.« Ich drehe meinen Kopf nur einen Bruchteil, meine Lippen bewegen sich kaum. »Könntest du dich … keine Ahnung … woanders hinsetzen? Irgendwo hin? Nur bis wir fertig sind?«

Ihre Augen werden schmal.

Marius’ Augenbrauen bewegen sich nach oben und mit ihnen hebt sich sein gesamter Gesichtsausdruck. Seine Finger sind lässig auf dem Tisch gefaltet.

»Für mich ist es kein Thema«, sagt er. »Echt jetzt, das ist total okay für mich, wenn sie hierbleibt.«

Alice feixt.

»Nein.« Ich blitze meine Schwester an. »Sie muss gehen. Also, sie muss meinetwegen gehen.«

Für einige Sekunden liefern wir uns mit den Blicken einen wortlosen Kampf. Ich bin nicht sicher, was mich das hier kosten wird – vielleicht noch mehr Gejammer auf dem Rückweg zum Hotel oder eine weitere Beschwerde bei Mom und Dad. Aber was auch immer. Fakt ist, wenn Alice so an mir klebt wie jetzt, kann ich nicht arbeiten.

Mit dem dramatischsten Augenaufschlag, den ich je gesehen habe, erhebt sich meine Schwester schließlich. »Undankbar«, brummt sie und steuert die andere Seite des Cafés an, wo sich mehrere junge Leute mit Praktikums-Abzeichen versammelt haben. Im Nu ist Alice mit ihnen im Gespräch.

»Sorry.« Ich wende mich wieder meinem Notizbuch zu und schlage eine leere Seite auf. »Es fühlt sich einfach ein bisschen schräg an, wenn sie dabei ist.«

»Alles gut.«

Ich halte inne. Mein Blick schnellt hoch. Er fixiert mich, erwartungsvoll. Ich ziehe mir an den Haaren, bevor ich meinen Arm nach unten zwinge.

Laura, meine Therapeutin, nervt mich ständig mit dem Thema Selbstverletzung und damit, dass kratzen und an den Haaren ziehen auch darunterfallen, selbst wenn ich das nicht glaube.

»Also«, fragt er und lächelt, als hätte ich gerade einen Witz gerissen. »Wie hat es bei dir angefangen?«

»Oh.« Meine Wangen brennen. »Stimmt. Genau. Ähm … ich hab Artikel für unsere Schulzeitung geschrieben. Na ja, ich schätze, das hat nicht wirklich irgendwas bewirkt, denn wer liest schon die Schulzeitung außer unseren Eltern? Also hab ich diesen Blog angefangen und ihn auf Twitter gepostet und dann hab ich meine Essays bei verschiedenen Websites angeboten. Manchmal haben sich meine Blog Posts viral verbreitet, was mir geholfen hat, mein Zeug auf größeren Websites unterzubringen, BuzzFeed und Vox zum Beispiel. Und nach einer Weile hat mich eine Redakteurin von Essence kontaktiert. Seitdem schreibe ich ziemlich regelmäßig für dieses Magazin. Aber dann, ähm, na ja, hab ich diesen Wettbewerb gewonnen, der mir diesen Trip ermöglicht hat, und das ist dann eigentlich auch schon … alles.«

Ich fuchtele mit meinen Händen in der Luft herum, um meinem Gestotter ein Ende zu setzen.

Er nickt, die Augenbrauen interessiert zusammengezogen, also war es vielleicht nicht komplett daneben.

»Von dem Wettbewerb hatte ich gehört, aber wow, der ganze Rest war mir echt nicht bewusst.«

Ich wünschte, ich könnte meine Notizen in Kursivschrift setzen, denn genauso klingt er. »Das ist so beeindruckend. Meine Freunde und ich haben so was nicht mal im Ansatz gemacht, als wir jünger waren.«

»Okay, aber dafür hast du Theater gespielt«, sage ich und versuche nicht mal, das Lachen in meiner Stimme zu verbergen. »Im Laientheater aufzutreten, ist besser, als Filmkritiken in einem Blog zu schreiben.«

»Ooooo nein.« Er legt den Kopf schräg. Sein Grinsen wird breiter, falls das überhaupt noch geht. »Du hast recherchiert!«

Die Hitze wandert von meinen Wangen in meine Brust und breitet sich aus. Ich schiele auf mein Aufnahmegerät, das mich mit seinem roten Licht anblinkt. Später, wenn ich dieses Gespräch transkribiere, werde ich die peinliche Situation noch mal durchleben müssen. Der Gedanke daran schmerzt jetzt schon.

»Na ja, das gehört ja wohl dazu.« Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. »Egal, ich glaube, da wollte ich auch ansetzen. Du hast schon als kleiner Junge mit der Schauspielerei angefangen, oder? Aber du bist auch jetzt noch ziemlich jung. Also, wie ist es bei dir losgegangen?«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die Lippen aufeinandergelegt, was irgendwie ziemlich süß aussieht.

Ich sollte in meinem Notizbuch festhalten, wie er sich gibt, aber ich bin ganz offensichtlich nicht imstande, auch nur einen Satz zu Papier zu bringen, der nicht klingt wie ein Teenie-Fangirl, das seinen Schwarm anhimmelt. Ich kritzele es trotzdem auf.

»Also, meine Eltern waren die totalen Cineasten. Das heißt, seit ich klein war, haben wir ständig Filme geschaut. Sie waren auf Französisch, aber du weißt schon, vom Ding her ist es dasselbe.« Er zuckt mit den Schultern. »Und meine Mom ist Regisseurin, also hat sie mich oft mit ins Theater genommen, wenn Proben waren. Ich vermute, das hat mir die Tür zur Schauspielerei geöffnet.«

»Und warst du mehr interessiert am Theater oder am Film?«

»Ganz klar am Film«, erwidert er. »Es kommt mir immer so vor, als ob – wie soll ich sagen … also, mit dem Theater ging’s los, und es hat sich immer total normal angefühlt. So als würde ich nach der Schule für irgendeinen Mannschaftssport trainieren. Filme dagegen erschienen mir so … romantisch.«

Diese Antwort lässt meinen Blick hochschnellen. Die Morgensonne hebt die goldenen Strähnen in seinem Haar hervor und bringt den Honig in seinen Augen zum Schimmern. Er spricht über Romantik. Es ist, als würde er beschreiben, wie er die vierte Wand bricht. Ich muss mich zwingen, wegzusehen. Konzentrier dich auf deine Notizen, Josie.

»Romantisch inwiefern?«, höre ich mich fragen.

»Ein bisschen wie ein Märchen. Es fühlt sich nicht echt an, nicht mal während der Dreharbeiten.« Er schüttelt den Kopf, tippt mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch. »Es ist, als würdest du ein Paralleluniversum betreten. Normalsterblichen sollte es nicht zustehen, sich in einem Film zu bewegen, aber nichtsdestotrotz: Du bist drin.«

In seinem Ausdruck liegt etwas Wehmütiges. Auch das sollte ich notieren – wie ausdrucksvoll sein Gesicht ist. Das ist es wohl auch, was ihn zu einem so außergewöhnlichen Schauspieler macht.

»Wow.« Ich höre selbst, wie flach das klingt, nach all der Magie in seinen Worten.

Ich räuspere mich. »Ähm, das heißt also, du studierst Film auf dem College? Also, ich meine – gehst du aufs College?«

»Ich weiß es nicht.« Seine Mundwinkel zucken. »Sag du’s mir. Du hast die ganze Recherche gemacht, stimmt’s?«

Ich erstarre. Es fällt mir total schwer, diese Reaktion zu deuten. Macht er Spaß oder ist er einfach nur ein Arsch? Als Journalistin gehört es zu meinem Job, die Kurzbiografie meines Gegenübers auf Lager zu haben. Hätte ich etwa besser gepunktet, wenn ich hier reingeschneit wäre, ohne irgendwas über ihn zu wissen?

»Hey.« Er beugt sich vor. »Hey.« Mein Atem stockt. »Das sollte ein Witz sein. Sorry. Ich muss mich immer noch an diese offiziellen Gespräche gewöhnen. Ich wurde bisher von niemandem großartig beachtet. Bis jetzt.« Er macht eine Handbewegung, die das ganze verschlafene Café umfasst, als wollte er seinen Punkt damit unterstreichen. Er wirkt nicht, als würde er lügen, um mir ein besseres Gefühl zu geben, denn sein Lächeln ist verschwunden, auch wenn seine Stimme noch immer sanft ist.

»Tja.« Ich tippe mit meinem Stift gegen meinen Mundwinkel. »Ich schätze, das wird sich bald ändern. Jedenfalls sobald du alle Preise eingeheimst hast.«

Das bringt ihn tatsächlich zum Erröten, er zieht den Kopf ein. Die Geste wirkt so jungenhaft, fast als hätte sie ihm jemand ins Drehbuch geschrieben. Die Typen an meiner Schule verhalten sich nicht mal wie Jungen. Vielleicht kommt das von seiner französischen Mentalität.

»Es fühlt sich überhaupt nicht real an.« Er hat die Stimme gesenkt. »Kein Stück. Incident war nur, na ja, dieser Indie-Film. Ich hab die Rolle angenommen, weil ich das Drehbuch großartig fand und weil ein freier Sommer vor mir lag. Eigentlich sollte ich dieses Jahr aufs Brown College und jetzt hab ich ausgesetzt, weil die Awards Saison für die Oscars losgeht. Es ist so abgefahren.«

»Ja.« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich war noch nie in dieser Position. »Aber du hast es dir verdient. Du warst so fantastisch in diesem Film. Ich bin am Ende fast gestorben, als Peter seinen Freund wiedersieht und sie plötzlich Welten voneinander entfernt sind. Und dann bist du weggefahren und hast geweint und ich konnte spüren, wie mir das Herz …« Ich krampfe meine Hand zusammen. Einer seiner Mundwinkel bewegt sich nach oben. Sein Gesicht ist noch immer leicht errötet, aber er zieht den Kopf nicht mehr ein. Er weiß, dass er ein guter Schauspieler ist. Das ist etwas, das ich komplett nachvollziehen kann. Wenn Monique mir sagt, wie gut ich schreibe, dann widerspreche ich nicht, weil es stimmt.

»Nah«, entgegnet er. »Das war aber nicht nur mein Verdienst. Das Drehbuch war genial, genau wie der Regisseur, und der Rest der Besetzung war auch richtig gut.«

»Ja, aber ich spreche von dir.« Meine Worte überraschen mich. »Du hast den Film ausgemacht. Jedenfalls für mich. Ich musste die ganze Zeit weinen.«

»Ja?« In seinen Augenwinkeln kräuseln sich die Lachfältchen. »Ich auch.«

Jetzt muss ich kichern. Er lehnt sich zurück, wieder mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Und mich ergreift eine plötzliche, riesige Sehnsucht. Sie strömt in meine Brust und raubt mir den Atem. Zeit mit einem Jungen wie Marius Canet zu verbringen, davon hab ich bislang höchstens träumen können. Klar, auf meiner Schule zu Hause gibt’s auch ein paar süße Typen, aber an Marius Canet kommt keiner von ihnen heran. Sie reden nicht über Filme, als wären sie Märchen, oder zeigen ihre Gefühle so deutlich, wie er es tut. Es ist, als hätte er den Teil seiner Entwicklung, in dem man lernt, seine Emotionen abzuschotten, übersprungen. Ich sehe ihm ins Gesicht und erkenne alles, was darin flackert, wie über eine Leinwand.

Stopp. Ich schließe die Augen. So was ist mir schon mal passiert und es endete schmerzhaft. Jedes Mal denke ich, es könnte anders sein, aber das ist es nie.

Und schließlich bin ich hier, um Marius zu interviewen. Mich in ihn zu verlieben, würde es sogar noch peinlicher machen. Ich schaue wieder nach unten auf meine Notizen.

»Also, ähm, du hast vorhin deine Eltern erwähnt. Glaubst du, ihre Erziehung hatte einen Einfluss auf deine schauspielerischen Fähigkeiten?«

Die Worte sind mir aus dem Mund geflutscht, ehe mir bewusst wird, wie förmlich sie klingen.

»Na, das ist ja eine Frage.«

Ich zucke zusammen.

»Du meinst, weil sie nicht von hier sind?« Er legt den Kopf schief. »Ich glaube schon, dass die europäische Kultur mich beeinflusst hat.«

»Ähm, ja.« Ich reibe mir mit der Hand über den Nacken. »Es muss spannend sein, zugewanderte Eltern zu haben.«

Die einzigen Kinder mit Migrationsbiografie, die ich kenne, sind Bekannte und kommen nicht aus Europa, aber das erwähne ich gar nicht erst. Ihm ist wahrscheinlich längst klar, dass ich keine Ahnung habe, wovon ich rede.

»Ja, irgendwie schon«, sagt er. »Zu Hause haben wir Französisch gesprochen und alles. Englisch hab ich erst in der Schule gelernt. Aber davon abgesehen, war es nicht wirklich außergewöhnlich. Manhattan ist kein schlechter Ort, um anders zu sein, verstehst du?«

Ich nicke und kritzle wie verrückt ein paar Notizen in mein Buch. Theaterszene in Manhattan???/Französische Eltern, aber das Fremdsein macht sie nicht zu Außenseitern.

»Alle sind irgendwie anders«, fährt er fort. »Und andere Eltern als meine hatte ich nicht. Deshalb weiß ich natürlich nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn ich anders aufgewachsen wäre.«

»Klar.« Ich nicke. »Ich glaube, es ist auch deshalb spannend, weil die französische Sprache so was Romantisches ausstrahlt. Genau wie du eben meintest, dass Filme etwas Romantisches haben.«

»Stimmt, da hast du recht.« Er beugt sich vor und fährt sich mit einer Hand durch die Locken. Und wieder muss ich mich zum Wegsehen zwingen. »Sprichst du Französisch?«

»Äh«, ich beiße mir auf die Lippe. »Ich kann den gesamten Lafayette-Teil auf dem Soundtrack von Hamilton.«

Er lacht. Und jetzt wirkt er plötzlich doch wie die Typen aus der Schule. Das Lachen ist derb, laut, als würde es ihn kein Stück kümmern, ob irgendwer ihn hört. Ich schätze, nur ich mache mir um so was einen Kopf. Und trotzdem ist da noch etwas anderes in seinem Lachen. Es klingt nicht wie ein Schlag in den Magen.

Ich reiße mich zusammen, konzentriere mich auf mein Notizbuch. »Was wird dein nächstes Projekt sein? Im Netz konnte ich nichts dazu finden.«

»Oh.« Er blinzelt. »Das liegt daran, dass ich noch nicht wirklich darüber sprechen darf. Ich arbeite mit Roy Lennox.«

»Wow.« Ich schüttle den Kopf. »Stimmt, er – sie machen da ja gerade eine Dokuserie auf ABC, um sein zwanzigstes Jubiläum als Regisseur zu würdigen. Das ist echt großartig.«

Von der Hauptrolle in einem Indie-Film zu einem Filmprojekt mit einem der bekanntesten Regisseure Hollywoods. Hätte ich nicht Marius’ schauspielerische Leistung im Film gesehen, würde ich einen derartigen Sprung bezweifeln. Aber jetzt? Ich bin sicher, Marius Canet würde jede Rolle kriegen, die er wollte. Ein Teil von mir wünscht sich insgeheim, es wäre kein Lennox-Film – denn dieser Regisseur hatte bisher ausnahmslos komplett weiße Besetzungen, also will er wohl einen neuen Markt erobern –, aber es ist ein Meilenstein, auf den die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen viele Jahre lang hinarbeiten müssten.

»Ja.« Marius nickt und lehnt sich wieder zurück. »Ganz schön nervenaufreibend, wenn du weißt, was ich meine. Aber eigentlich habe ich kein Recht, so zu reden. Es ist cool, dass es überhaupt passiert.«

»Ich finde schon, dass du ein Recht dazu hast.« Ich klicke an meinem Stift herum und erlaube mir einen Blick in seine Augen. Zum ersten Mal ist sein Ausdruck scheu, zurückhaltend.

»Du darfst dich fühlen, wie du dich fühlst. Ich finde, da kannst du absolut ehrlich sein. Etwas kann großartig und gleichzeitig beängstigend sein.«

»Ich schätze schon.« Seine Stimme ist sanft. »Vielleicht.«

Ich will nachlegen. Ich will ihn wissen lassen, wie schuldig ich mich für meine Angststörungen fühle, zumal mein Leben so wenig Grund zur Sorge bietet: Ich wohne in einem hübschen Zuhause, habe einen eigenen Laptop, meine Eltern sind glücklich verheiratet und lassen mich durch das ganze Land reisen, um Interviews zu führen.

Aber ich dränge den Wunsch sofort zurück. Über dieses Thema spreche ich nicht mal mit meiner Familie. Und ich kann nicht riskieren, dass Marius glaubt, mit mir würde irgendwas nicht stimmen.

Sein Handy klingelt. Wenn es einen Augenblick zwischen uns gab, dann ist er jetzt vorbei.

»O Mann«, als Marius auf sein Handy sieht, verzieht er das Gesicht. »Tut mir so leid. Ich habe ein Meeting mit meinem Agenten. Komplett vergessen. Können wir das hier ein andermal wieder aufgreifen? Vielleicht in Austin?«

Ich beiße mir auf die Lippe. Sein Pressesprecher hätte ihn darüber informieren sollen, dass ein Interview länger als zwanzig Minuten dauert – oder er hätte zumindest seinen Agenten wissen lassen müssen, dass das Interview vorgeht. Er ist wirklich neu im Filmgeschäft. Ich sollte genervt sein, aber in meinem Bauch ist nur ein nervöses Flattern.

»Klar.« Ich hole tief Luft. »Ja, wir haben sowieso noch einen Termin bei deiner Anprobe am Dienstag. Ich werde einfach weiterfragen, bis ich fertig bin.«

»Gut.« Sein Grinsen blendet mich für einen Augenblick. »Ich gehöre ganz dir.«

Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht

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