Читать книгу Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht - Camryn Garrett - Страница 16

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Bislang habe ich fast alle meiner journalistischen Aufträge in der Schule oder im Wohnzimmer abgewickelt. Von dort aus habe ich mit Leuten telefoniert und ewig viel Zeit im Internet verbracht. Aber noch nie zuvor habe ich mein Arbeitsumfeld mit so vielen Menschen aus der Journalistenszene geteilt.

Man könnte dieses Szenario glatt für ein Business-Meeting halten, nur dass niemand einen Anzug trägt oder eine Aktentasche mit sich rumschleppt. Einige tippen hektisch auf ihren Handys herum oder sprechen miteinander. An der Tür kontrolliert ein Sicherheitsbeauftragter die Presseausweise. Ich muss mich zwingen, zu atmen.

»Los jetzt«, drängt Alice. »Wie lange sollen wir denn noch hier draußen rumhängen?«

Ich gebe mein Bestes, sie zu ignorieren, was nicht gerade einfach ist, denn sie steht direkt neben mir.

»Keinen Plan«, murmele ich. »Mir wurde gesagt, ich muss erst auf Ms. Jacobson warten, bevor wir reindürfen.«

»Josephine?«

Ich blinzele. Vor mir steht eine weiße Frau mit dunkelbraunen Haaren und einer runden Brille.

Ich krieg kein Wort raus. Alice stupst mich an, was mir einen kleinen Quietscher entlockt.

»Ja«, sage ich. »Das bin ich. Josephine. Oder, also eigentlich nenne ich mich Josie.«

»Wie schön, Sie kennenzulernen.« Ms. Jacobson streckt mir die Hand entgegen. »Sie sehen genau so aus wie auf dem Foto.«

Für die Anmeldung zum Talentwettbewerb mussten wir ein Bild von uns mitschicken. Ich wählte das Foto, was ich für unser Abschlussjahr in der Schule gemacht hatte, einfach ich, nur mit Kappe und Talar. Es ist wirklich nichts Besonderes.

»Oh«, erwidere ich trotzdem. »Danke.«

»Ich habe die Texte gelesen, die Sie mit Ihrer Bewerbung eingereicht haben«, fährt Ms. Jacobson fort und greift in ihre Handtasche. »Sie waren absolut fantastisch. Sie haben ein Riesentalent.«

Meine Zunge scheint an meinem Gaumen festzukleben. Die Komplimente, die Begegnung mit einem fremden Menschen, die unmittelbar bevorstehende erste Pressekonferenz nur wenige Stunden nach meiner Landung in California – das alles wirbelt mein Hirn gerade echt komplett durcheinander. Noch dazu spüre ich Alices Blicke zwischen uns beiden hin und her schießen, als wären wir die Obernerds.

»Also dann.« Ms. Jacobson zieht eine Mappe aus ihrer Tasche. »Über den Programm- und Tourplan haben wir uns ja schon per E-Mail ausgetauscht, aber ich wollte sicherstellen, dass Sie auch eine haptische Kopie von allem bekommen.«

Ich nehme die Sammelmappe entgegen und schlage sie auf. Unter der Überschrift Tourplan sind Städte, Flugzeiten und Hotels aufgelistet. Ich lese, dass ich Marius Canet morgen – schluck! – und einmal in jeder weiteren Stadt interviewen soll. Auch eine Kopie des von Mom und mir unterschriebenen Vertrags liegt bei. Ganz oben auf dem Vertrag ist als fett gedruckte Deadline der 20. Dezember vermerkt. Das letzte Dokument in der Sammelmappe ist ein Leitfaden für Interviewfragen und das Verfassen von Artikeln. Ein Teil von mir will darüber lachen, der andere Teil findet, ich könnte viel mehr einen Leitfaden für Gespräche gebrauchen.

Alice versetzt mir den nächsten Rippenstoß. Gott, sind ihre Ellenbogen spitz.

»Danke.« Ich richte den Blick auf die Mappe und nicht auf Ms. Jacobson. »Das ist wirklich nett von Ihnen.«

»Tja«, entgegnet sie und zieht den Riemen ihrer Handtasche straff, »das gehört zu meinem Job. Genauso wie das Beantworten aller Fragen, die bei Ihnen auftauchen sollten. Für den Fall, dass irgendetwas schiefläuft, können Sie mich jederzeit kontaktieren, per E-Mail oder Telefon. Haben Sie meine Kontakte noch?«

Ich nicke. Sie standen in ihrer E-Mail von letzter Woche und sind längst in meinem Handy gespeichert. Es gab auch schon jede Menge Momente, in denen ich ihr schreiben wollte. Zum Beispiel, um herauszufinden, was ich anziehen, was ich sagen oder mit wem ich mich auf der Tour am besten zusammentun sollte. Aber ich wollte sie nicht mit einer Million Fragen nerven, ehe ich überhaupt meine erste Aufgabe erhalten hatte.

»Prima.« Lächelnd sieht sie von mir zu Alice. »Die Genehmigung, dass Ihre Schwester als Begleitperson mitkommt, habe ich schon, da sollte es also keine Probleme geben. Brauchen Sie noch etwas anderes, bevor ich gehe?«

Mein Magen krampft sich zusammen. »Sie bleiben nicht?«

»Tja also, nein«, erwidert sie. »Hat Ihnen Ihre Mutter nicht erzählt, was wir am Telefon besprochen haben? Normalerweise wäre ich Ihre Begleitperson gewesen, aber da nun Ihre Schwester an Ihrer Seite ist, dachten wir …«

Ich werfe einen Blick auf Alice, die schon auf die Eingangstür zum Konferenzraum zusteuert.

»Josie?« Ms. Jacobson reißt mich aus meinen Gedanken. »Wenn Sie wollen, bin ich bei der ersten Veranstaltung gerne dabei. Nur zukünftig werde ich das jetzt nicht mehr organisieren können, weil ich hier in Los Angeles ansässig bin.«

»Oh.« Ich schlucke, aber meine Kehle ist noch immer trocken. »Das war mir nicht bewusst.«

»Seien Sie unbesorgt«, beschwichtigt mich Ms. Jacobson. »Auch wenn wir uns überwiegend über Handy oder E-Mail austauschen, können Sie darauf zählen, dass ich für all Ihre Fragen und Belange zur Verfügung stehe.«

Noch einmal schaue ich rüber zu Alice. Sie lungert neben der Eingangstür herum und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Mit der Fußspitze klopft sie auf den Boden, als würde sie auf mich warten.

Was sie streng genommen ja auch tut.

Als ob ich mich wie ein Baby aufführen würde.

Ich bin kein Baby. Jedenfalls will ich keins sein.

Als könnte ich nicht mal diese eine Sache, um die ich Mom und Dad angebettelt habe, allein auf die Reihe kriegen.

Ich schlucke. Mein Magen ist noch immer verkrampft, aber ob sich das durch Ms. Jacobsons Begleitung bessern würde, weiß ich nicht. Will ich überhaupt, dass sie mich während der Pressekonferenz beobachtet und jede meiner Entscheidungen analysiert?

»Nein«, sage ich. »Ich glaube, wir kriegen das prima alleine hin.«

Natürlich ist das eine glatte Lüge. Aber ich hoffe, sie verwandelt sich in die Wahrheit.


Keine Ahnung, was als »prima« durchgeht. Ich gebe mein Bestes, möglichst unauffällig inmitten all dieser Presseleute zu sitzen. Wenn das zählt, dann krieg ich es tatsächlich gerade richtig prima hin. Aber höchstwahrscheinlich hatte sich Ms. Jacobson was anderes darunter vorgestellt.

»Hallo«, sagt eine Journalistin und steht auf, um in das ihr überreichte Mikro zu sprechen. »Art, Sie haben die letzten Jahre dem Fernsehen gewidmet. Wie hat es sich angefühlt, zu Ihren Indie-Wurzeln zurückzukehren – zusammen mit Dennis, mit dem Sie Ihre ersten fünf Filme gemacht haben?«

Art Springfield, der wahrscheinlich größte Star dieses Spielfilms, sitzt auf dem Podium. Er trägt einen großen Cowboyhut. An seiner Seite sitzt Penny Livingstone, eine ehemalige Disney-Channel-Schauspielerin, die es offensichtlich geschafft hat, ebenfalls eine Rolle in diesem Film zu ergattern. Außerdem sitzen dort Dennis Bardell, der Regisseur, und Grace Gibbs, die Peters Mutter spielt und die einzige Schwarze Frau in der Filmbesetzung ist. Marius Canet ist auch auf dem Podium. Ich kann echt nicht fassen, wie normal er aussieht. Hellbraune Haut, pinkfarbene Wangen. Seine Haare haben eine Länge erreicht, die – in den Augen meines Vaters – nach einem ordentlichen Schnitt ruft. Jedenfalls würde Dad Marius damit triezen, wenn er ihn kennen würde. Alle paar Sekunden lächelt Marius, ein kleines Lächeln, das seine weißen Zähne zeigt.

Ich muss mich zwingen, ihn nicht zu lange anzustarren, und checke, ob mein Aufnahmegerät alles festhält, was die anderen von sich geben, während ich meine eigenen Stichworte in meinem Notizbuch festhalte. Einige um mich herum benutzen iPads oder sogar Laptops. Ist so was jetzt angesagt?

»Also was jetzt?«, zischt Alice. »Stellst du eine Frage oder nicht?«

Ich habe keinen Plan, was ich fragen soll. Okay, das ist gelogen. Ich mustere meine Notizen. Ich hab verschiedene Fragestellungen ausgearbeitet und in Kategorien aufgeteilt, aber die meisten betreffen Marius Canet. Es wäre ziemlich daneben, aufzustehen und eine Frage zu stellen, die nur an eine einzige Person gerichtet ist, oder nicht? Obwohl alle anderen genau dasselbe getan haben; allerdings waren die Fragen da an Art Springfield und den Regisseur gerichtet.

»Ich bin unsicher«, flüstere ich zurück. »Die Leute hier haben es ja offensichtlich drauf.«

Allgemeines Gelächter ertönt und ich zucke zusammen. Es gilt Art Springfield, der gerade gesprochen hat. Aber über was? Ich werfe einen besorgten Blick auf mein Aufnahmegerät. Hoffentlich hat das Gelächter nicht die Worte übertönt.

Alices Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Die anderen haben es drauf?«

»Sie wissen, was sie zu tun haben.«

Stimmt doch. Niemanden hier scheint es nervös zu machen, aufzustehen und eine Frage zu stellen. In der Schule hatten wir manchmal Ehrengäste, Musikerinnen und Musiker aus der lokalen Szene oder Professorinnen und Professoren von Universitäten. Im Anschluss an die Versammlungen durften manche aus unserem Journalismuskurs sie interviewen.

Aber das hier ist eine völlig andere Liga. Alle stellen sinnvolle Fragen. Alle klingen so professionell am Mikrofon. Alle haben das schon mal gemacht.

»Dieser Film wirft ein sehr schonungsloses Licht auf die subtile Natur der Homophobie«, ergreift jetzt eine andere Journalistin das Wort. »Grace, Sie spielen im Film eine liebende Mutter, die ihren Sohn dennoch fortschickt, damit er ›funktioniert‹. Wie passen diese widersprüchlichen Gefühle aus Ihrer persönlichen Sicht zusammen?«

»Siehst du?«, flüstere ich, während ich die Frage verzweifelt in mein Notizbuch übertrage. »Das klingt so gut.«

Ich hätte gerne etwas über Marius’ persönliche Highschool-Erfahrungen gehört, da am Anfang des Films auch eine Schulszene gezeigt wurde. Aber im Vergleich zu all diesen Scharfschützen würde mich eine solche Frage wie eine Idiotin dastehen lassen.

Kopfschüttelnd starrt Alice geradeaus.

»Wir wollten der Mutter kein stereotypes Rollenbild geben«, erklärt Grace und zieht das Mikro näher zu sich heran. »Damit hätten wir es uns viel zu leicht gemacht. Sie liebt ihren Sohn und glaubt, dass sie das Richtige tut, weil es ihrer eigenen Sozialisierung und der Denkweise von ihr und ihrem Mann entspricht. Aber als ihr bewusst wird, was sie ihrem Sohn angetan hat, zerbricht sie daran …«

Alice beugt sich zu mir. »Hör zu«, flüstert sie mir ins Ohr. »Wenn du den Mund nicht aufkriegst, werde ich eine Frage stellen.«

Mir bricht augenblicklich der Schweiß aus.

»Alice«, sage ich. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Und ob«, entgegnet sie. »Ich habe nicht vor, hier eine ganze Stunde stumm rumzuhocken. Warum sind wir denn dann überhaupt hergekommen?«

Ich will schreien.

»Okay, Leute.« Die Moderatorin blickt sich im Saal um. Sie ist eine hochgewachsene Frau, die ein eigenes Mikro in der Hand hält. »Drei Minuten haben wir noch. Genügend Zeit für eine letzte Frage.«

Alice starrt mich an. Ich hab das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

Was wäre peinlicher: meine eigenen Fragen zu stellen und mich den Blicken aller auszusetzen oder mir anzuhören, wie Alice etwas Lächerliches fragt, und dann für den gesamten Rest dieser Tour mit ihr in Verbindung gebracht zu werden?

Ein halbes Dutzend Hände schießt in die Höhe.

»Ähm, hallo?« Alice grapscht nach meiner Hand und reißt sie weit nach oben. »Sie würde gerne eine Frage stellen.«

Köpfe wirbeln in unsere Richtung und ein unterdrücktes Lachen macht sich in den Reihen breit. Mein Gesicht brennt, obwohl ich meine Frage noch nicht mal gestellt hab. Meine Sorge, wie ein Kleinkind behandelt zu werden, war schon groß genug, bevor Alice mich wie ein Fangirl hat dastehen lassen.

»Na dann«, die Moderatorin schmunzelt, »wollen wir das Mikro doch mal weiterreichen.«

Irgendwer drückt mir das Mikro in die Hand. Alice zwingt mich aufzustehen. Mir wird heiß, viel zu heiß, obwohl kein Scheinwerfer auf mich gerichtet ist. Dafür liegt der Blick von Art Springfield auf mir, was so schräg ist, weil ich ihn immer im Fernsehen gesehen habe, wenn meine Eltern vor seinen Filmen saßen. Jetzt sehen mich alle an – nicht nur die Filmleute auf dem Podium, sondern auch die Presseleute um mich herum.

»Ähm.« Irgendwas mache ich wohl gerade mit dem Mikro falsch, denn es sondert diesen gruselig kreischenden Ton ab. »Oh, tut mir leid.«

Meine Hände sind schweißnass. Es fühlt sich an, als würde mir das Mikro jeden Moment aus den Fingern glitschen.

»Ähm«, wiederhole ich mich. Grace Gibbs beugt sich vor, als könnte sie mich nicht richtig hören oder, schlimmer noch – als wollte sie mich besser sehen.

»Also, ähm … keine Ahnung, ich hab mich gefragt, wie, äh, also inwiefern das Schwarzsein in Peters Entwicklung eine Rolle spielt.«

Grace Gibbs schaut zu Art Springfield, der sich an den Regisseur wendet. Penny Livingston zuckt mit den Mundwinkeln. Nach einer guten Sekunde zieht Marius Canet eins der Mikros zu sich heran, doch der Regisseur kommt ihm zuvor und spricht in seins. »Ich glaube, ich habe diese Frage nicht wirklich verstanden«, sagt er. »Könnten Sie sie vielleicht etwas näher erläutern?«

O Gott. Ich schlucke. Wie soll ich diese Frage näher erläutern? Ich weiß ja nicht mal, warum ich sie überhaupt gestellt habe. Hätte ich doch bloß meine Highschool-Frage gestellt, selbst wenn ich dann wie eine Anfängerin rübergekommen wäre.

»Also, wenn«, setze ich neu an und trete von einem Fuß auf den anderen, »ähm, also wenn man diesen Film sieht –«

»Was wir alle getan haben, möchte ich annehmen«, bemerkt Art Springfield. Er erntet allgemeines Gelächter. Ich versuche einzustimmen, aber es klingt eher wie ein Keuchen.

»Ja«, sage ich. »Genau. Aber, ähm, Peter und seine Mom sind die einzigen Schwarzen in ihrem Stadtviertel, also hab ich mir irgendwie gedacht, das hätte eigentlich etwas mehr Spannung erzeugen müssen. Und selbst wenn es nicht demonstrativ gezeigt wird, hätte es vielleicht ja doch einen Einfluss auf die Art, also, ähm, Sie wissen schon, auf die Art und Weise, wie die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rollen –«

»Es tut mir wirklich sehr leid«, fällt mir die Moderatorin ins Wort. »Ich würde Sie liebend gern Ihre Frage zu Ende ausführen lassen, aber die Besetzung hat einen unmittelbaren Anschlusstermin, zu dem sie sich auf keinen Fall verspäten darf.«

»Oh«, sage ich. Mein Echo hallt durch den gesamten Saal.

Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, aber ich werde nicht anfangen zu weinen. Auf keinen Fall werde ich anfangen zu weinen! Ich bin kein Baby. Ich zwinge mich, zurück in meinen Sessel und versuche, die mitleidigen Blicke, die Grace Gibbs und Marius Canet mir vom Podium aus zuwerfen, zu ignorieren. Ich ignoriere, wie Alice mich anstarrt, als könnte sie nicht fassen, dass ich mich so zur Idiotin gemacht habe.

»Also dann, alle miteinander«, fährt die Moderatorin fort, »Applaus für den Cast und die Crew, dafür, dass sie bei uns waren.«

Alle klatschen, außer mir. Ich brauche meine gesamte Kraft, um nicht vor Scham in Flammen aufzugehen.

Off the Record. Unsere Worte sind unsere Macht

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