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5 Die Entscheidung
Оглавление– Was machen wir?
– Jetzt in die Türkei zurückzukommen, wäre schwierig. Die würden dich sofort verhaften.
– Ist Exil etwa besser als Gefängnis?
– Wenn du wieder ins Gefängnis kommst, kann es für eine lange Zeit sein. Außerdem ist fraglich, ob du drinnen sicher bist …
– Ist es im Exil nicht auch schwierig? Es wird heißen: »Er hat einfach hingeschmissen und ist abgehauen!«
– Du schmeißt ja nicht hin. In Europa kann deine Stimme viel stärker sein. Du kannst frei deinen Beruf ausüben. Und du bist in Sicherheit.
– Nirgends ist es wirklich sicher. Überall besteht die Gefahr eines Anschlags. Ich muss mir einen relativ ruhigen Ort suchen. Aus vier Städten habe ich Angebote: Stockholm, London, Hamburg und Berlin.
– Am besten wäre, wenn du bei Ege in London sein könntest. Aber da ist es teuer. Und die Briten haben derzeit nur den Brexit im Kopf. In Deutschland ist das Interesse an der Türkei stärker. Aber dort spiegelt sich die Polarisierung der Türkei eins zu eins wider. Wirst du dich da wohlfühlen? Da bin ich mir nicht sicher.
– Am 21. September steht die Verhandlung im neuen Prozess an. Wenn ich dort nicht erscheine, werde ich zur Fahndung ausgeschrieben, die können so weit gehen, mir die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
– Am besten beobachtest du eine Weile aus der Ferne, wie sich die Dinge entwickeln, und entscheidest je nachdem.
– Dann gehe ich nach Berlin und miete erst mal eine möblierte Wohnung. Kommst du mit?
– Bis du dich endgültig entschieden hast, komme ich dich oft besuchen.
– Ich vermisse Tarçın[4] sehr.
– Ich bringe ihn mit, aber er darf wohl nicht mit ins Flugzeug. Dann müssten wir mit dem Auto fahren, er ist krank, die Reise wäre extrem anstrengend für ihn, ich weiß nicht …
– Man muss mit der Bank reden. Wenn wir den Kredit nicht abzahlen können, kann es sein, dass sie das Haus pfänden.
– Meinst du, sie beschlagnahmen es?
– Das glaube ich nicht. Sie könnten höchstens eine einstweilige Verfügung erwirken.
– Sollten wir es vielleicht vermieten? Wie kommen wir über die Runden?
– Ich werde auch im Ausland arbeiten und Geld verdienen.
– Und ich suche mir in der Türkei einen Job, wenn nötig.
– Wie sieht es bei Freunden und Bekannten aus?
– Alle sind völlig durcheinander. Das Telefon klingelt nur selten. Ich freue mich, wenn mal jemand anruft. Entweder trauen sie sich nicht, oder sie sagen sich: »Lassen wir sie in Ruhe.« Ich möchte das Zweite glauben. Wir wollten, dass die Regierenden uns vergessen, jetzt haben uns die eigenen Leute vergessen.
– Auch das geht vorüber. Wir wollen nichts übelnehmen, lass uns nicht nachtragend sein.
– Mir geht es gut, denk nicht an mich. Kommt es allzu schlimm, nehmen wir Antidepressiva.
Es war Vollmond, wir gingen an der Küste von La Barceloneta spazieren. Hand in Hand mit uns liefen Kummer und Sorge. Das fröhliche Gelächter der Passanten klang in unseren Ohren wie eine unverständliche Fremdsprache.
Tagtäglich erwachten wir morgens zu neuen Attacken der Erdoğan-freundlichen Medien. In einer Meldung hieß es, ich stellte mittlerweile eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar, »Man muss tun, was nötig ist«, stand da. In Fernsehsendungen wurde darüber diskutiert, ob es besser wäre, mich wie einst Abdullah Öcalan[5] herbeizuschaffen und vor Gericht zu stellen oder vom Geheimdienst im Ausland umbringen zu lassen. Freiwillige auf Twitter signalisierten: »Wir sind bereit.«
Unser Land lag unter einer düsteren Wolke, unser Leben war auf einen Schlag in tausend Scherben zersprungen.
Durch den dichten Nebel vor uns war die Zukunft nicht zu sehen.
Wir drei lebten jetzt auf zwei Kontinente und eine Insel verstreut.
Nun begannen die Tage und Monate des Exils.
Vielleicht auch die Jahre.
Womöglich.
Beim Abschied sagte Dilek: »Versuchen wir, das Beste für uns daraus zu machen. In allem steckt immer auch etwas Gutes.«
Wieder einmal zog ich den Hut vor ihrer Courage, ihrer Kraft und Standfestigkeit.
Ob sie, als wir heirateten, wohl ahnte, worauf sie sich einließ? Auf Verurteilung, Gefangenschaft, Attentat, Exil, Trennung …
Sie ist die Tochter von Einwanderern. Ungewissheit beunruhigt sie, sesshafte Ordnung, sich wohnlich einzurichten sind ihr lieber. Und jetzt sollte sie unser Haus, das sie so liebevoll und sorgfältig eingerichtet hatte, aufgeben und ins Ungewisse umziehen? Würde sie glücklich werden können in einem fremden Land, das sie nicht kannte und dessen Sprache sie nicht beherrschte?
Würden wir, wie damals die Exilanten nach dem Putsch vom 12. September 1980, aus der Ferne verfolgen müssen, wie unser Land in Finsternis versank?
Würde es noch schlimmer kommen?
Am Flughafen lächelte sie bekümmert und sagte: »Wer weiß, wann wir uns wiedersehen.« Dann war sie fort.
War ich traurig?
Ja.
Bereute ich?
Nein.
War ich nervös?
Ja.
Aber zumindest hatte meine Unschlüssigkeit ein Ende.
Ich stornierte den Rückflug.
Jetzt war ich im Exil.