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4 Der Putsch

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Die Nacht des 15. Juli 2016 war eine der schwärzesten in der Geschichte der Türkei.

Am Abend rief Murat Sabuncu an. An meiner Stelle leitete er de facto die Zeitung.

»Schalte sofort den Fernseher ein! Soldaten haben die Bosporus-Brücke einseitig abgesperrt. Da geht Seltsames vor«, sagte er.

Damit war meine eine Woche »Dolce Vita« in Barcelona zu Ende. Die Plage hatte mich auch dort eingeholt. Der unvergessliche Satz aus dem Film The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit klang mir in den Ohren:

»Du wirst keinen Frieden finden, indem du das Leben fliehst.«

Ich hob den Kopf aus den geliebten Büchern und wandte mich dem Fernseher zu, der hektisch Fragezeichen ausspuckte. Von der Armee, deren Strippen mittlerweile vollständig Erdoğan zu ziehen schien, hatte niemand einen Umsturzversuch erwartet.

Ein paar Minuten später kam der nächste Anruf:

»Sieht nach einem Putsch aus.«

Dabei sah es überhaupt nicht danach aus. Wir Türken haben Erfahrung mit Militärputschen. Um Turbulenzen an der Börse zu vermeiden, werden Putsche meist in der Nacht von Freitag auf Samstag gegen Morgen durchgeführt. Es war zwar Freitag, aber noch nicht einmal Mitternacht. »Normalerweise« werden zuerst das Präsidialamt und der Sitz des Ministerpräsidenten gestürmt, Politiker verhaftet und im Fernsehen eine Erklärung zum Staatsstreich verlesen. Wenn gegen Abend die Bosporus-Brücke gesperrt wurde, sah das vielmehr nach einem der häufigen Suizidversuche aus.

Konnte es sein, dass die Armee Selbstmord beging?

Meine erste Hypothese lautete, es müsse sich um den »Reichstagsbrand der Türkei« handeln. Ein solcher Putschversuch würde Erdoğan zum Opfer machen und ihm einen großen Trumpf in die Hände spielen, der ihm ermöglichen würde, die Macht vollkommen an sich zu reißen.

Doch mit fortschreitender Stunde wuchsen die Ausmaße des Wahnsinns. Die Putschisten bombardierten das Parlament und den Präsidentenpalast; Erdoğan, um Haaresbreite dem Zugriff entkommen, rief die Bevölkerung auf die Straße, die Menschen sollten sich den Panzern entgegenstellen, von den Moscheen wurde zur Gegenwehr gerufen.

Unverzüglich gab die Regierung bekannt, es handele sich um einen Putsch der »Gülen-Terrororganisation«.

Sollte das stimmen, erlebten wir die reinste Frankenstein-Geschichte:

Das »Monster« hatte seinen Schöpfer attackiert und würde nun von diesem vernichtet werden. Der »Held«, der das Monster stoppte, war der Präsident.

Das war in Erdoğans Worten ein »Geschenk Gottes«. Hatte nicht jede Militärintervention eine neue Rechtsregierung nach sich gezogen?

Um 1:30 Uhr in jener Nacht twitterte ich:

»Der 12. September brachte Turgut Özal an die Macht, der 28. Februar die AKP.

Der 27. April machte Abdullah Gül zum Staatspräsidenten.

Der 15. Juli macht Erdoğan zum Staatschef im Präsidialsystem.«[3]

Auf der Stelle sprang das Heer der Trolle an, es hagelte Todesdrohungen. Auf Erdoğans Aufruf hin waren die Menschen auf die Straßen gegangen, sie lynchten Soldaten, die nicht wussten, auf wessen Befehl hin sie die Panzer fuhren, von den unverzüglich ins Boot geholten Moscheen wurde zum Totengebet gerufen, auf den Plätzen erscholl der Ruf: »Todesstrafe! Todesstrafe!« Es gab 250 Tote und über 1500 Verletzte.

Die Gefahr eines Zivilputsches stand im Raum, der unter dem Vorwand, einen Militärputsch zu verhindern, durchgeführt werden würde.

Am 16. Juli stimmten die Zeitungen Siegesgeschrei an, die Cumhuriyet dagegen trat für Demokratie ein:

»Gegen jeden Putsch, ob militärisch oder zivil: Die Lösung ist Demokratie!«

Am nächsten Tag setzte unverzüglich eine große Hexenjagd ein. Die Ersten, die aus dem Haus geholt wurden, waren die Richter, die mit ihrer Unterschrift unsere dreimonatige Haft beendet hatten, ihren Beschluss hatte Erdoğan damals mit »Ich erkenne ihn nicht an, ich respektiere ihn nicht, ich halte mich nicht daran« kommentiert. Auf den Posten eines dieser Richter wurde ein Berater Erdoğans gesetzt.

Am selben Tag wurde beim Berufungsgericht, wo meine Verurteilung zur Revision anstand, eine Operation durchgeführt. Gegen 140 Mitglieder des Gerichts wurden Ermittlungen eingeleitet, elf wurden festgenommen.

Ein Richter aus der Kommission, die mich in dem Prozess zu 5 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt hatte, wurde im Gerichtsgebäude aus seinem Büro heraus verhaftet.

Der Staatsanwalt aber, der den Haftbefehl beantragt und für meinen Prozess die Anklageschrift mit der Forderung auf zweimal lebenslänglich verfasst hatte, wurde zum Generalstaatsanwalt von Istanbul befördert.

Die Strafkammer strengte ein neues Verfahren wegen der Nachricht über den Geheimdienstkonvoi an, wegen der wir bereits verurteilt worden waren, diesmal mit dem Vorwurf »Unterstützung und Beihilfe für die Gülen-Organisation«, und verlangte mit Hinweis auf diesen Prozess von der Polizei, meinen Pass einzuziehen.

Bald darauf wurde der Attentäter, der vor dem Gericht auf mich geschossen hatte, freigelassen.

Stein für Stein wurde der Weg zur Hölle gepflastert. Alle Anzeichen lagen offen zutage:

Nach Exekutive und Legislative hatte Erdoğan nun auch die Judikative vollständig in der Hand. Eine langanhaltende Periode der Repression, in der er bequem über die Gerichte würde bestimmen können, nahm ihren Anfang.

Unter den am ersten Tag Festgenommenen befanden sich 10000 Angestellte im öffentlichen Dienst, ebenso viele Lehrer, 112 Richter und Staatsanwälte. Auf regierungsnahen Twitterkonten kursierten Listen mit Journalisten, die verhaftet werden sollten.

Das Jahr 2016, das für mich in einer Gefängniszelle begonnen hatte, setzte sich im Sommer mit der Aussicht auf weiteren Pulverdampf, Verurteilungen, neue Prozesse und erneute Verhaftung fort. Es war ein Wendepunkt – nicht nur für die Türkei, sondern auch für meine Familie.

Am Sonntagabend tagte der Familienrat auf Skype. Als ich im Gefängnis saß, sprachen wir bei den Besuchen in der Kabine durch eine schallundurchlässige Glasscheibe voneinander getrennt per Telefon miteinander. Jetzt, in »Freiheit«, sprachen wir wieder hinter einer Scheibe, am Bildschirm, miteinander.

»Was sollen wir tun?«, fragte ich.

Ege sagte: »Unter diesen Umständen ist es extrem gefährlich, wenn du zurückkehrst. Aber höre nicht auf das, was andere sagen, höre auf deine innere Stimme.«

Dilek ließ uns die Schüsse und Rufe zum Totengebet hören, die ringsum erklangen, und sagte: »Unter diesen Umständen wäre es extrem gefährlich, wenn du zurückkommst. Man verübt wieder einen Anschlag auf dich, oder du verschwindest auf Nimmerwiedersehen im Gefängnis. Am besten komme ich zu dir, und wir besprechen, was wir tun sollen.«

Bevor sie kommen konnte, kam es zum zweiten Putsch.

In der Nacht des 20. Juli verhängte Erdoğan den Ausnahmezustand. Nun war sein Wort Gesetz. Er würde Parlament und Justiz ausschalten, den Staat mit Dekreten regieren, Freiheiten aussetzen, Zeitungen schließen, Versammlungen und Demonstrationen verbieten, die Fristen des Polizeigewahrsams verlängern, verhaften lassen, wen er wollte, und eine Kampagne für die Wiedereinführung der Todesstrafe starten. Die Misere des ersten Coups hatte er in den Erfolg des zweiten umgemünzt. Das bedeutete unzweifelhaft einen zivilen Putsch. Die Türkei war dem Militärputsch von der Schippe gesprungen, aber dem Polizeistaat in die Hände gefallen.

Ich quälte mich in Barcelona in einem fünfundvierzig Quadratmeter großen Zimmer am Computer. Jeder Freund, der anrief, beendete das Gespräch mit: »Komm auf keinen Fall zurück!«

Dennoch wollte ich das Risiko eingehen.

Ich kaufte mein Rückflugticket und wartete mit meiner endgültigen Entscheidung auf Dilek.

Verräter

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