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7 Einsamkeit

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Man muss seine Koffer stets gepackt halten.

Muss damit rechnen, dass das Telefon einen ganzen Tag lang gar nicht klingelt.

Muss aufhören, hinter der Gardine nach einem Gast Ausschau zu halten.

Muss darauf vorbereitet sein, verraten, verlassen und allein gelassen zu werden.

Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.

Denn die Zeit der »Schulter-an-Schulter«-Tage ist vorbei. Solidarität ist nun eine Aktie, die an der Börse von heute auf morgen an Wert verliert. Die persönliche Epoche der Entdeckungen hat brüchige Einsamkeiten zurückgelassen. Es ist nicht die Zeit, Kraft aus Gemeinsamkeit entstehen zu lassen, es ist die Zeit, allein aufrecht zu stehen.

Darum muss man sich an die Einsamkeit gewöhnen.

Muss es wagen, mit vielen Straßenvoll Trostlosigkeit allein zu leben.[6]

Muss auf den Schnee auf Bergen schauen, denen man vertraut, und seine Lehren daraus ziehen.

Muss die Gewohnheit fallenlassen, sich in Nächten, die man mit einem wehmütigen Lied verbringt, nach einer Schulter zum Anlehnen zu sehnen.

Muss sich an einen einzigen Teller auf dem Tisch gewöhnen und an wenig Speise darauf.

Muss aus Romanen Zitate, die Einsamkeit preisen, überall in der ganzen Wohnung sichtbar aufhängen.

Muss jeden Tag beginnen mit den Zeilen: Einsamkeit kann man nicht teilen / Wird sie geteilt, ist sie keine Einsamkeit mehr.[7]

Muss den Anrufbeantworter besprechen: »Im Moment ist niemand da, der antworten könnte – vielleicht wird auch nie mehr jemand da sein …«

Muss sich mit dem Schweigen anfreunden, damit, keine Antworten zu erhalten.

Dabei bedeutet Schweigen, dem Unrecht zu applaudieren. Es ist die Würde des »Ich bin im Recht«, die einem Lebenskraft spendet. Die Scham des Schweigens tötet. Deshalb muss man sich in den stillsten Nächten tröstend sagen: »Es war richtig, ich habe es getan.«

Man muss sich daran gewöhnen, dass auf einen Schrei hin kein Nachbar zu Hilfe eilt, daran, vor kalten Mauern still zu weinen. Muss sich mit sich selbst auseinandersetzen.

Muss bereit sein, nachts ins Kissen zu weinen, morgens in den Spiegel zu lachen, Schmerz und Wehmut ebenso wie Lust und Laune mit sich selbst zu teilen.

Muss stark genug sein, um stets aufstehen und gehen zu können, zugleich aber beherzt genug, um bleiben zu können, als würde man kämpfen. Muss Schweigen in Reden verwandeln können.

Und muss jeden Augenblick seinen Rucksack bereithalten.

Muss sich damit anfreunden, unterwegs zu sein.

Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.

Verräter

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