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Krieg der Viren
ОглавлениеZusammenfall von Mythos und Geschichte bei Heiner Müller (Kommentar zum Germania 3-Schaubild)
Das Schaubild (siehe folgende Seite) habe ich anlässlich der Aufführung von Heiner Müllers Germania 3 – Gespenster am toten Mann am Berliner Ensemble (BE) im Anschluss an die Generalprobe 1996 auf den Berliner U-Bahn-Plan gezeichnet. Es ist ein Versuch zu rekonstruieren, wie sich Heiner Müller die Verbindung von Deutschem Mythos und Geschichte vorstellte. Im Mittelpunkt steht Rosa Luxemburg, in Müllers Privatmythologie eine Verwandte Kriemhilds aus dem Nibelungenlied, deren Ermordung das Scheitern des Sozialismus bereits früh besiegelte und deren Rache der Zweite Weltkrieg war. Das Bild ist selbsterklärend, wenn man sich die »Legende« oben rechts und die »Zeichenerklärung« unten links ansieht. Für Heiner Müller stellen sich nicht nur der Kessel von Stalingrad, sondern auch die Berliner Mauer und sogar das BE als historische Wiederholungen oder Verwandlungen der Ereignisse in König Etzels mythischem Hofsaal dar, dem Ort von Kriemhilds Rache. Das Bild skizziert zudem Heiner Müllers Genealogie einer dumpfen Teleologie der Naturgeschichte von den Dinosauriern (»nicht von Spielberg«) über Goyas Riesen bis zum »Krieg der Viren«, dem die letzte Szene von Germania 3 gewidmet war (nicht in der Druckfassung, aber in Mark Lammerts Arbeitsbuch, BE Drucksache 20). »Gott ist vielleicht ein Virus« sagt dort der Autor zum Regisseur (»beide betrunken«), ein »leeres Theater« ist der Schauplatz dieses Dialogs, der sarkastisch die Viren als Mittel zur marktkonformen Bekämpfung der, wie man damals sagte, »Bevölkerungsexplosion« feiert.
AUTOR
Tödlich der Menschheit ihre zu rasche Vermehrung
Jede Geburt ein Tod zu wenig Mord ein Geschenk
Jeder Taifun / Erdbeben eine Hoffnung / Hoffnung der Welt Lob den
Vulkanen
Nicht Jesus Herodes kannte die Wege der Welt
Die Massaker sind Investitionen in die Zukunft
Gott ist kein Mann keine Frau ist ein Virus
Du hörst mir nicht zu.
REGISSEUR
Stimmt. Warum sollte ich. Wir sind im Theater.
Das Bild entstand am Tag der Generalprobe am 26. Juni 1996 und ist nicht ganz fertig geworden.