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Das Notebook als Hausaltar

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Groys: Das nicht, aber ich beobachte schon das Aufkommen einer anderen Haltung. Ich sehe, dass die Menschen das Internet nicht nur zum Konsum und als Mittel im Konkurrenzkampf nutzen, sondern auch als Mittel des Bekenntnisses. So wie in der Kirche beim Beichten. Früher haben die Menschen Tagebücher geschrieben und jetzt machen sie etwas Ähnliches massenweise im Internet, sie sprechen mit Gott.

Hegemann: Das Notebook als Hausaltar?

Groys: Sie stellen ihre Fotos ins Netz, kommentieren sie auf ihren Pages, sie posten Unmengen an Informationen über sich, die niemanden interessieren. Aber das wiederum ist sehr interessant, denn die einzige Person, die sich wirklich für diese Fotos interessieren könnte, ist Gott. Denn Gott liebt alle und er interessiert sich für alle Fotos und alle meine Gedanken.

Hegemann: Alles, was wir tun, tun wir für einen unbekannten Betrachter, der wohlwollend auf uns blickt, sagtest du damals, und auch, dass diese Aufgabe, nach dem Tod Gottes, eigentlich Künstler übernehmen müssten. Aber heute dürfte man den unbekannten Betrachter wohl eher kurzschließen mit den KI-basierten Datensammlern in Kalifornien, die von allen Menschen auf der Welt mehr Daten speichern und vernetzen können als jedes noch so informierte Individuum.

Groys: Diese Daten werden nur gespeichert, um sie zu verkaufen an Firmen, die etwas verkaufen, oder an Institutionen, die uns überwachen oder politisch beeinflussen wollen. Aber es gibt in diesen Internetkonfessionen etwas, das nur für Gott lesbar ist, etwas, das über das profane Interesse hinausgeht. Die User vermissen jemanden, der sich für sie interessiert, und deshalb verhalten sie sich religiös.

Hegemann: Und die anderen User, die Kollegen, Freunde und Vorgesetzten, sind die Gemeinde?

Groys: Nein, nein, das sind all diejenigen, die man transzendieren will, von denen man ganz genau weiß, dass sie sich eigentlich nicht für einen interessieren.

Hegemann: Weil das in einer Konkurrenzgesellschaft nicht vorgesehen ist, man selbst interessiert sich ja auch für keinen.

Groys: Deshalb weiß man ja, dass sich die Anderen nicht für einen interessieren. Aber die Suche nach einem Interessenten, die Suche nach dem Gott bleibt, und diese Suche ist das, was uns immer noch in Bewegung versetzt und antreibt.

Hegemann: Das heißt, das Bedürfnis, dass andere sich für einen interessieren und dass man sich auch selbst für andere interessiert, ist nicht totzukriegen.

Groys: Es ist nicht totzukriegen. Du siehst, dass viele Leute ungeduldig werden, wenn man immer nur über das Virus spricht. Es gibt da einen regelrechten Neid, weshalb viele sagen, es handle sich nur um ein gewöhnliches Grippevirus und die Schutzmaßnahmen seien überzogen usw. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass die Leute nicht wollen, dass man über das Virus spricht, sie wollen, dass man über sie spricht. Aber niemand spricht über sie, alle sprechen nur über das Virus. Dadurch fühlen sie sich beleidigt.

Dramaturgie des Daseins

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