Читать книгу Dramaturgie des Daseins - Carl Hegemann - Страница 28
Individualismus und Nationalismus
ОглавлениеHegemann: Der Glaube an den Erfolg sozialer oder sozialistischer Bewegungen scheint dir ziemlich abhandengekommen zu sein.
Groys: Wenn man sich die politischen Entwicklungen ansieht, stellt man fest, dass sich alle Parteien, die sich für Solidarität, Kollektivität und Teilen eingesetzt haben, also kommunistische Parteien, sozialistische Parteien, sogar linksliberale Parteien, im Niedergang befinden. Die Funktionsmechanismen des politischen und ökonomischen Systems führen dazu, dass spätestens nach dem Ende der Sowjetunion alles, was nach Solidarität und globaler Verantwortung roch, ganz schnell verschwunden ist, während Parteien, die auf nationale Interessen setzen, stark anwachsen. Dieser Prozess kann nicht moralisch oder psychologisch erklärt werden. Es sind außerpsychologische Mechanismen, die hier wirken.
Hegemann: Es sind ökonomische Zwänge, gegen die kein guter Wille hilft. Dass Bernie Sanders wieder nicht Präsidentschaftskandidat der Demokraten geworden ist, hängt sicher auch mit diesen Mechanismen zusammen.
Groys: Die Amerikaner waren immer ziemlich immun gegen sozialistische und sozialdemokratische Ideen. Schon dass Bernie Sanders überhaupt irgendwelche Unterstützung gefunden hat, ist ein Wunder. Und dieses Wunder hat natürlich damit zu tun, dass in Amerika der sich schon lange abzeichnende Untergang der Mittelschicht immer schneller voranschreitet. Sanders’ Erfolg resultiert im Wesentlichen daraus, dass akademisch gebildete Leute plötzlich bemerkt haben, dass sie ihre medizinische Versorgung nicht bezahlen können, dass sie den Unterricht ihrer Kinder nicht bezahlen können, das College und ihre Wohnungen nicht bezahlen können. Es ist diese Minderheit, die Sanders überhaupt eine Chance gegeben hat. Sie wollen zu den linken Ideen zurück, von denen sie an der Uni gehört haben. Sie haben riesige Schulden und hohe Ansprüche. Der koreanische Film Parasite, der jetzt vier Oscars gewonnen hat, war 2019 der erfolgreichste nicht-englischsprachige Film in den USA. Warum? Unter anderem deshalb, weil der Film das Problem der neuen Klasse der Armen zeigt: Sie sind gebildet, aber trotzdem pleite.
Hegemann: Wenn die, wie man immer sagt, kulturtragende Mittelschicht kein Geld mehr hat und für den Markt uninteressant wird, wenn es nur noch eine sehr kleine Oberschicht gibt und ansonsten viele verschuldete Arbeitslose und prekarisierte Dienstleister mit Minimallöhnen, wie kann dann der Markt noch wachsen oder überhaupt existieren? Die Kaufkraft tendiert doch dann gegen null?
Groys: Ich denke, wir kommen zurück zu feudalen Verhältnissen. Ich habe dir vielleicht schon erzählt, dass ich so eine Art Vision hatte, als ich im Taxi von Dubai nach Abu Dhabi gefahren bin. Auf der rechten Seite des Highways ist ein Streifen grüne bebaute Landschaft und dahinter der Ozean und auf der anderen Seite der Straße ist sozusagen Arabien. Auf der einen Seite leben alle Reichen, auch viele Ausländer, auf der anderen Seite leben alle anderen. Nur die auf der Ozeanseite haben Rechte. Die Menschen auf der anderen Seite brauchen eine spezielle Erlaubnis, sonst dürfen sie die Straße nicht überqueren. Sie sind völlig abhängig von den Entscheidungen, die auf der anderen Seite getroffen werden. Sie haben de facto keine einklagbaren Rechte. Da habe ich gedacht, das ist die Gesellschaft der Zukunft. Auch deshalb, weil ethnische und religiöse Faktoren in diesem Modell gar keine Rolle spielen. Die Leute, die reich sind, seien sie Spezialisten oder Unternehmer oder Touristen, mischen sich mit der feudalen Aristokratie der arabischen Staaten. Wenn man auf die andere Seite sieht, leben da auch viele Ausländer, die in den Emiraten Geld verdienen. Also alle Armen sind total gemischt und alle Reichen sind total gemischt. Die Grenze zwischen ihnen entsteht aus der Kombination von Spätkapitalismus und Feudalismus. Als ich das gesehen habe, wurde mir klar, dass populäre Filme wie Star Wars oder Game of Thrones nach diesem Muster aufgebaut sind. Diese Filme spielen alle mit einer Kombination aus kapitalistischen Technologien und feudalen Verhältnissen. Sie sind das imaginäre Abbild dieser Straße.
Hegemann: Das Entstehen eines technisch hochgerüsteten Feudalismus, der Internationales und Lokales verbindet, ist für dich wahrscheinlicher als die Entwicklung zu einer digitalen Planwirtschaft, mit umfassender Überwachung auf globaler Ebene, deren dynamische Entwicklung wir in China und Kalifornien gleichermaßen sehen können? Siehst du keine totalitären Tendenzen?
Groys: Ich denke, es kommt ein neuer Feudalismus. Totalitarismus hat etwas mit Totalität zu tun, aber Totalität interessiert keinen. Abkapselung und Vereinzelung ist die Tendenz, politisch und privat.
Hegemann: Aber ein feudalistisches System mit einer geregelten Verteilung der Verantwortung für das Gemeinwesen, das letztlich nach dem Modell einer Familie funktioniert, widerspricht deinem Modell von den rücksichtslosen Einzelkämpfern, die glauben, sich allein am besten durchsetzen zu können.
Groys: Auch das Individuum in der feudalen Oberschicht lebte in einem Gewaltzusammenhang und konnte sich letztlich nur mit Gewalt durchsetzen. Ein Königssohn begann nicht selten seine Laufbahn als Herrscher damit, dass er erst seinen Vater und dann seine Brüder umbrachte.
Hegemann: Dadurch qualifizierte er sich überhaupt erst als Despot. Aber das war kein marktgesteuerter Konkurrenzkampf, sondern Gewaltkonkurrenz nach dem Recht des Stärkeren.
Groys: Der weitaus größte Teil der Bevölkerung war nicht in diesen Kampf involviert, weil er keine Chance gehabt hätte. Das ist richtig. Er hatte keine Chance, aus seiner rechtlosen und ausgelieferten Position herauszukommen. Aber dass eine Minderheit die Chance für sich sieht, nach Ruhm, Geld und Macht zu greifen, ist nie auszuschließen. Und wenn es passiert, bleibt dem großen Rest der Bevölkerung nichts anderes übrig, als sich den starken Persönlichkeiten anzuschließen. Parteien spielen keine Rolle mehr, man fixiert sich auf Individuen, auf Führer, auf Leader, die erfolgsversprechend sind, wie Trump, Bolsonaro oder Johnson, und wahrscheinlich auch Macron.
Hegemann: Was macht man angesichts dieser nicht sehr vielversprechenden Weltlage? Du hast vor Jahren, als wir über Christoph Schlingensief gesprochen haben, eine alte Kulturtechnik empfohlen, nämlich alles, was passiert, wohlwollend zu betrachten und zu sagen: Alles ist gut, ein guter Tag ist gut, aber ein schlechter Tag ist auch ein guter Tag. Du sahst diese Haltung bei Jesus und Duchamp und sogar auch bei Christoph.
Groys: Ja, die Haltung habe ich nach wie vor.
Hegemann: Wenn man in der Lage ist, alles gut zu finden, dann befindet man sich in einem Zustand der Indifferenz, ja fast schon in einer mystischen Dimension, die eigentlich den Tod vorwegnimmt. Diese kontemplative Haltung erschien mir damals als Korrektiv zur grassierenden Selbstvermarktung, ja sogar wie eine Voraussetzung für sinnvolles Handeln. Siehst du gesellschaftliche Tendenzen in diese Richtung?