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Living in a Ghost Town
ОглавлениеTelefongespräch Berlin-New York mit Boris Groys, April 2020
Carl Hegemann: Du unterrichtest jetzt seit elf Jahren in New York an der Universität. Und auf einmal ist New York das Epizentrum einer neuen globalen Seuche, gegen die es noch kein Mittel gibt und die unser Leben stark verändert. Was bedeutet das für deinen Alltag in Manhattan? Gehst du schon wieder raus?
Boris Groys: Nein. Ich gehe nicht raus, empfange auch keinen Besuch, ich habe keinen Kontakt nach außen, ich habe seit fast zwei Monaten niemanden getroffen. Ich sehe überhaupt niemanden.
Hegemann: Hier sagen viele, das Ganze sei nur ein Vorwand für die Beschneidung individueller Freiheitsrechte, Corona sei nicht mehr als ein gewöhnliches Grippevirus. Auf Demonstrationen fordern sie die Rücknahme sämtlicher Einschränkungen …
Groys: Das ist vollkommen absurd. Die Sache ist klar; alle wissen, dass es absurd ist, die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen. Aber auf der anderen Seite muss man dann trotzdem solche Absurditäten behaupten, weil man befürchtet, dass die Wirtschaft zusammenbricht. Man nimmt in Kauf, dass ein gewisser Prozentsatz der Menschen stirbt, weil sonst alles kollabiert. Gut, das verstehe ich, aber ich möchte nicht ein Teil davon sein, und deswegen bleibe ich zu Hause.
Hegemann: Viele fürchten, ein Ausnahmezustand von solcher Länge würde zu einem irreversiblen Niedergang unseres Wirtschafts- und Sozialsystems führen.
Groys: Nein, der findet ohnehin schon statt. Durch Corona wird nur eine Entwicklung beschleunigt, die wir schon in den letzten 20 Jahren beobachten konnten: der Niedergang der klassischen Wirtschaft, also der Wirtschaft, wie sie sich formiert hat zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In Deutschland spürt man es vielleicht nicht so deutlich, aber in Amerika ist dieser Untergang unübersehbar. Ein Unternehmen nach dem anderen wurde geschlossen oder es wurde nach China verlagert oder wohin auch immer. Schon vor dem Virus war die traditionelle Wirtschaft halbtot. Genauso übrigens wie die Universitäten, die meistens verschuldet sind und deren Studenten auch alle verschuldet sind, oder wie die Museen, die zuletzt vor allem Ausstellungen gemacht haben über Mode oder Fußball. Und jetzt wird dieser Prozess einfach weitergehen, nur schneller.
Das letzte Jahrzehnt hat die größte Verlagerung des Eigentums und des Reichtums in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht, die Verlagerung von der alten Ökonomie zu den sogenannten Tech Corporations, zur neuen Ökonomie, zu Firmen wie Apple, Facebook und Microsoft.
Hegemann: Also zu der digitalen Social-Media-Technologie, die es dir zum Beispiel ermöglicht, deine Seminare auch in Zeiten der Coronaviren abzuhalten. Als international gut vernetzter Akteur profitierst du doch von dieser neuen Ökonomie.
Groys: Ja, vielleicht, ich war aber auch schon vor der digitalen Wende bekannt. Du kannst bei Google nur nach dem fragen, was dir schon bekannt ist. Alles wird tautologisch. Das Ende der traditionellen Wirtschaft ist auch das Ende der traditionellen Kultur. Stattdessen haben wir jetzt eine neue Kultur, die Online-Kultur, die Kultur der Verbreitung dessen, was immer schon da war.
Hegemann: Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, wirkt jedenfalls wie eine riesige Marketingveranstaltung für das Internet.
Groys: Ja. Aber es ist noch mehr. Das Virus ist ja genau das, was diese Internetkultur immer als ein Ideal betrachtet hat. Wenn man kunstinteressierte Leute fragte, was sie tun wollen, dann haben sie immer gesagt: viral gehen, ein virales Video machen, einen viralen Text schreiben. Für die neue Internetkultur bezeichnet das Wort Virus ein kulturelles Ideal, und dieses Ideal gibt es schon, seit man in der Moderne begann, wie Tolstoi oder Malewitsch Kunst und Kultur als Formen von bakterieller Infektion zu verstehen. Und nun kommt das Coronavirus als Apotheose der Viralität. Es kommt hier tatsächlich zu einer intimen Einheit, Kollaboration und Symbiose von Internet und Virus. Corona ist wirklich das Königsvirus. Es trägt die Krone im Namen. Das Virus ist viral geworden. Keiner spricht mehr über Lady Gaga, wir sprechen nur über das Virus, es ist der Star unserer Internetkultur geworden. Weil es unseren Körper krank machen kann, halten wir uns das Virus vom Leibe und verlegen unsere Kontakte ins Internet, aber im Internet gibt es nur ein zentrales Thema: das Virus. Wir schützen unseren Körper vor dem Virus, und das hat zur Folge, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Das ist die Realität.
Hegemann: Oder das Ende der Realität?
Groys: Wenn ich sage, ich kann meine Hand nicht ins Feuer legen, ohne dass ich mich verbrenne, beziehe ich mich auf eine äußere Realität, die mich begrenzt. Realität ist immer Begrenzung, real ist das, worüber wir keine Macht haben. Das Coronavirus ist real, solange es uns begrenzt. Indem wir diese Begrenzung anerkennen, erkennen wir die Realität an. So jedenfalls hat Realität bis jetzt für uns funktioniert. Aber nun ist unser Denken und auch unser Fühlen von der Internetverbreitung infiziert. Und wir erleben eine Verlagerung des Virus vom Körperlichen zum Geistigen, von der physischen Realität zur digital vermittelten Spiritualität. Das Spirituelle begreift sich aber traditionell, anders als das Physische, nicht als begrenzt, sondern als unbegrenzt.
Das Virale war der Weg, durch den sich unsere Zukunftsträume und Wünsche erfüllen sollten. Das heißt, das Virus, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist eigentlich die Einlösung unserer Utopien. Das Virus sorgt für den totalen Umweltschutz, weil es die klassische Industrie, die die Welt verpestet mit Flugzeugen, Autos, Kreuzfahrtschiffen, zum Stillstand gebracht hat. Das Öl kostet nichts mehr, niemand benutzt es. Das Virus hat erreicht, was Greta Thunberg nicht erreicht hat: die Stilllegung der traditionellen Wirtschaft und den globalen Umweltschutz. Das Virus ist die größte Umweltschutzmaßnahme, die es je gegeben hat. Aber immer, wenn Menschen sehen, dass ihre Wünsche und utopischen Vorstellungen realisiert werden, dann sind sie schockiert und werden sehr schnell unzufrieden. Und klammern sich an das, was sie vorher bekämpft haben. Aber das ist normal, das passiert immer in solchen Situationen.
Hegemann: »Der Beginn alles Neuen ist der Schrecken.«
Groys: Ja, es beginnt ein neues utopisches Zeitalter. Wir stehen am Anfang einer neuen Spiritualisierung oder, besser gesagt, einer Quasi-Spiritualisierung, die vergisst, dass Geist in diesem Fall mit Elektrizität koinzidiert und dass es mit der Spiritualität vorbei ist, wenn man seine Stromrechnung nicht bezahlt.
Auch der unaufhaltsame Zerfall der traditionellen Wirtschaft und das Fortschreiten der Künstlichen Intelligenz sind Triebfedern für diese digitale Spiritualisierung. Und das Spirituelle, der Geist oder der Intellekt oder was auch immer, wird nun als Algorithmus verstanden.
Hegemann: Immerhin macht es so ein spiritueller Algorithmus möglich, zumindest virtuell die uns begrenzende Realität zu überwinden, also zum Beispiel, die Hand ins Feuer zu legen, ohne sich die Finger zu verbrennen.
Groys: Wenn man sich auf das Internet einlässt, verbrennt man sich schon die Finger, weil sich Feuer oder Viren schneller verbreiten als die eigenen Gedanken. Der Horizont der Verbreitung scheint unbegrenzt zu sein, aber wir nehmen an der Konkurrenz der Verbreitung teil. Und diese Konkurrenz erzeugt den Effekt der Realität: unsere Verbreitung wird durch die Verbreitung der anderen und des anderen begrenzt. In der traditionellen Kultur gab es zunächst die Konkurrenz um die Qualität und dann die Konkurrenz um die Innovation. Jetzt herrscht aber die Konkurrenz um die Verbreitung: wer hat mehr Likes, was für ein Bild oder Text hat mehr Klicks et cetera. Und wir haben sehr gute Chancen, diesen Wettbewerb zu verlieren. Ich meine: wir als Menschen, denn die meisten Likes kriegen die Videos mit Katzen und Hunden sowie mit Wetterkatastrophen, Flugzeugabstürzen und so weiter.
Hegemann: Mittels Künstlicher Intelligenz und Algorithmen verbreitet sich auch die privat und staatlich betriebene, potentiell unbegrenzte Überwachung nahezu aller Menschen, die irgendeine Art von Netzzugang haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den neuen Formen der Überwachung und der Spiritualisierungstendenz, die du gerade beschrieben hast?
Groys: Die globale Wirtschaft basiert heute auf dem Internet beziehungsweise den großen Internetgesellschaften wie Facebook oder Google, während die Nationalstaaten und ihre Politik noch auf der traditionellen Ökonomie des letzten Jahrhunderts basieren. Jetzt, wo die traditionelle Ökonomie kollabiert, wird sich der Konflikt zwischen der nationalen Politik auf der einen Seite und der transnationalen Internetwirtschaft auf der anderen Seite verschärfen. Und ich denke, dass in der jetzigen Situation die regionale Politik, das heißt der Nationalismus, bessere Chancen hat, diesen Konflikt für sich zu entscheiden, als die global vernetzte Wirtschaft.
Hegemann: Das heißt, dass nationalistische Politik, wie sie Trump und viele andere ja schon länger praktizieren, angesichts der Erfahrungen mit der Corona-Krise zum allgemeinen Modell werden könnte? Schließung der Grenzen und nationale Interessenpolitik, Protektion statt Globalisierung?
Groys: Historisch wurde die Globalisierung immer wieder als eine Art Infektion, die die nationalen Immunsysteme durchbricht, als dekadent und krank empfunden. Man wollte deshalb diese Immunsysteme stärken und das Volk gesund halten. Dieser Gegensatz gesund/infiziert durchzieht das Denken der Moderne – und das gegenwärtige Denken erst recht.
Die Nationalstaaten versuchen, diese globale Infektion unter ihre lokale Kontrolle zu bringen. Die rechten Tendenzen, die wir in vielen Staaten schon länger beobachten können, dürften durch die neue Situation verstärkt werden.
Hegemann: Statt grenzensprengender Solidarität angesichts einer globalen Katastrophe also blinder Glaube an die Kraft der Nation und der nationalen Führer?
Groys: Ja. Diese Entsolidarisierung kommt auch daher, dass der Einzelne glaubt, dass er schneller und besser allein vorankommt als gemeinsam mit anderen, die er aus Pflichtgefühl mitschleppen muss. Das individuelle Konkurrenzdenken wird als wirkungsvoller empfunden. Und genauso werden auch viele Nationen denken: Wir schaffen es besser alleine als mit den anderen. Es gibt eine satirische, aber sehr präzise Beschreibung des indischen Schriftstellers Aravind Adiga in Der weiße Tiger. Der Held hat große Probleme. Er weiß nicht, wie er vorankommen soll, nichts klappt. Aber dann lässt er es zu, dass seine ganze Familie abgeschlachtet wird. Und nachdem er sie losgeworden ist, kommt er sehr schnell zu großem Reichtum, Einfluss und Erfolg. Also: Wichtig ist, allein zu bleiben. Allein kommt man besser voran.
Das heutige Indien, wie es der Autor beschreibt, ist ein halb-feudales Land. Dort ist es üblich, jemandem, der nicht spuren will und dem System und den herrschenden Mächten Schwierigkeiten macht, als ultima ratio mit der Ermordung seiner ganzen Familie zu drohen. Gegen diese extreme Art von Erpressung kann man sich nur wehren, wenn man sich entscheidet, seine gesamte Familie zu opfern oder ihren Tod zumindest zu riskieren. Und die Familie ist groß, in diesem Fall besteht sie aus etwa zwanzig Personen. Solange man erpressbar ist, weil man auf andere Rücksicht nimmt oder seine Angehörigen schützen will, kommt man nicht voran. Ich glaube, das ist die eigentliche Utopie unserer Zeit: alles allein zu machen.
Hegemann: Solidarität ist Selbstmord hieß schon vor vielen Jahren ein Stück von René Pollesch. Ist diese Einsicht nicht längst herrschende Ideologie?
Groys: Das ist nicht nur Ideologie, das ist Realität. Wir sind eine Konkurrenzgesellschaft, überall, nicht nur am Markt. Und wer diese Konkurrenz nicht durchsteht, hat verloren.
Hegemann: Am Anfang der Krise sah es so aus, als würden auf einmal längst vergessene Tugenden aktiviert werden: gegenseitige Hilfe, Rücksicht auf Schwächere, Einschränkungen persönlicher Freiheit. Plötzlich schien Solidarität möglich. Die Firma Adidas zum Beispiel bekam einen Shitstorm, weil sie sich diesen Tugenden verweigerte.
Groys: Das galt nur für kurze Zeit. Die jungen Leute fragten sich sehr bald, warum sie in ihrer Freiheit und ihren Bedürfnissen eingeschränkt werden, obwohl ihr eigenes Risiko sehr gering ist. Dass es geschieht, damit alte Menschen, die keiner mehr braucht, noch ein bisschen länger überleben können, scheint ihnen an den Haaren herbeigezogen. Ich fürchte, dass es diese Solidarität nicht wirklich gibt. Die meisten Menschen akzeptieren in dieser Situation die staatlichen Maßnahmen und tun, was von ihnen verlangt wird, aber nicht aus Solidarität und Menschlichkeit, sondern weil sie das Chaos fürchten, das kommt, wenn der Staat wackelt. Und zwar zu Recht.
Hegemann: Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass auch viele, gerade junge Leute, wirklich Angst hatten, anderen zu schaden, wenn sie nicht aufpassen. Sie wollten nicht schuld sein, dass jemand stirbt, weil sie die Abstandsregeln nicht eingehalten haben. Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit für andere gab es und gibt es auch immer noch.
Groys: Ich spreche nicht darüber, wie die Menschen sind, sie sind meistens nett. Ich spreche über die Mechanismen der ökonomischen und politischen Selektion, die Menschen ganz unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften nach oben spülen oder fallen lassen. Ich spreche darüber, wie die ökonomische und politische Logik sich entwickelt und nicht über die einzelnen Menschen und auch nicht über die Menschheit. Die Menschheit insgesamt ist sicher viel besser als das System, unter dem diese Menschheit leben muss.