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ОглавлениеEinen Ort scheint es also noch zu geben, wo Omnipotenz und unbegrenzte Freiheit ihren Platz haben, aber dieser Ort ist eine klar begrenzte Heterotopie. In der Kunst als Kunst gibt es keine Verbote, was auf der Bühne der Kunst und des Theaters geschehen darf, ist nur durch die Phantasie begrenzt. Außerhalb der Bühne, des Kunstortes, ist der Künstler allerdings den Einschränkungen genauso unterworfen wie jeder andere.
Christoph Menke hat die außermoralischen lebendigen Kräfte, die uns als Menschen bestimmen, die einfach da sind und die wir nicht selbst gemacht haben, in ihrer Unbestimmtheit ebenso als Bedingungen eines »guten Lebens« analysiert wie die sozialen Kompetenzen und Vermögen, mit diesen lebendigen »vorsubjektiven« Kräften selbstbewusst umzugehen. Die Freiheit sieht er weder in der umstandslosen Hingabe an diese Kräfte, Triebregungen und Obsessionen noch in der Freiheit von ihnen, die nach Kant nur in der Befolgung des moralischen Gesetzes liegen kann. Die einzige Freiheit des Individuums resultiert aus seiner Fähigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden und zu entscheiden. Weder die durch das Sittengesetz begründete Freiheit von den Trieben noch das freie Ausleben der Triebe ist Freiheit im emphatischen Sinn. Emphatisch ist nur die Realisierung beider Freiheiten, das heißt die Freiheit, zwischen diesen beiden Freiheiten zu wählen, das eine statt des andern tun zu können und das eine nicht ohne das andere. Das Resultat dieser doppelten Konstitution menschlichen Lebens ist die »Treue zum Gegensatz in sich selbst« (Christoph Menke). Die lebendigen vorsubjektiven Kräfte, die bei Schiller den Stofftrieb ausmachen, und ihre zivilisatorische Formung, der Formtrieb also, gibt es nur zusammen oder gar nicht, der Mensch ist gegensätzlich strukturiert; frei ist er nur im selbstbestimmten Umgang mit diesem Gegensatz, der sich nach keiner Seite hin auflösen lässt.
Nur im Spiel der Kunst verschwindet der Gegensatz, aber eben nur zum Schein. Die Allmacht der Kunst unterscheidet sich also von jener der frühen Könige darin, dass sie scheinhaft ist, dass sie nur gespielt ist und keine unmittelbaren Folgen für das wirkliche Leben haben darf. In dem Moment, wo die Kunst mehr sein will als Schein, verlässt sie den Raum der Kunst und wird entweder zur Straftat, die juristisch geahndet werden kann, oder sie entledigt sich ihrer scheinbaren Allmacht und wird ein Teil der Gesellschaft, indem sie sich deren Funktionalität, Kalkül und Normen beugt. Diese Kunst hat dann ihre autonome Sonderstellung als Heterotopie verloren, verwandelt sich in Unterhaltung, Kunstgewerbe oder Agitation, nutzt ästhetische Elemente für Zwecke oder als pure Effekte, wird zum Serviceunternehmen, ist aber keine Kunst mehr, auch und gerade dann nicht, wenn die Zwecke, denen sie sich unterwirft, integer sind. Dass die Kunst öfters und wahrscheinlich zunehmend in die Gefahr kommt, ihren Bereich zu verlassen, hat meist äußere – etwa ökonomische – Gründe. Weil sich Kunst aber auf Nicht-Kunst beziehen muss, um die notwendige Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens zu realisieren, hat sie auch eine immanente Tendenz, ihren Rahmen zu sprengen.