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ОглавлениеWas ist die schönste Zeit im Leben eines Menschen? Margaret Mahler, eine der Begründerinnen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, behauptet, dass diese schönste Zeit schon sehr früh beginnt, ungefähr im zehnten Lebensmonat, und spätestens nach acht Monaten schon wieder unwiederbringlich vorbei ist. »Während dieser kostbaren 6 bis 8 Monate«, berichtet Mahler, »gehört dem Kleinkind die Welt, […] und das Kind scheint von seinen Fähigkeiten und der Größe seiner Welt wie berauscht.« In dieser kurzen »Allmachtsphase« wird dem Kind noch jeder Wunsch erfüllt, es braucht nur zu schreien. So kann es gar nicht anders, als sich wie der Mittelpunkt der Welt vorzukommen. Leider oder auch Gott sei Dank kann diese Phase vermeintlicher Allmacht nur von kurzer Dauer sein. Noch vor dem Ende des zweiten Lebensjahres muss das Kleinkind erkennen, dass es nur ein Wesen unter vielen anderen ist, dass andere Leute auch Wünsche haben und dass es im Vergleich zu anderen, auch und gerade zu seinen Eltern, eine sehr schwache und hilflose Existenz ist. Kaum hat es sich in seiner Allmacht eingerichtet, ist es auch schon wieder vorbei mit ihr, und es beginnt die Disziplinierung, das schmerzhafte Lernen von Ein- und Unterordnung. Die schreckliche Erfahrung, dass es eben nicht allmächtig, sondern ohnmächtig ist, können dem Kind auch die liebevollsten Eltern nicht ersparen. Der ganze Sozialisationsprozess ist Einübung in diese Ohnmacht, Anpassung an ein übergeordnetes System, an ein Leben in der Beschränkung unter der Fuchtel jener, die die Macht haben. Dieser Verlust der Allmacht in der frühen Kindheit bleibt, zumindest in Mahlers Erzählung, als lebenslanges Trauma bestehen, als vage Erinnerung an eine Zeit umfassender und radikaler Bedürfnisbefriedigung ohne Triebaufschub, als Sehnsucht nach einer Zeit, in der man jeden Morgen begeistert und sorglos aufwachte, an die Zeit, bevor sich das Omnipotenzgefühl in Angst verwandelte und das Kind in der Wiederannäherungsphase oder -krise seine Abhängigkeit und Ausgeliefertheit gegenüber seinen Bezugspersonen begreift.