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Einleitung
ОглавлениеVon Raban Witt
Um was handelt es sich hier? Um eine philosophische Abhandlung, ein Handbuch für die Theaterpraxis oder einen Ratgeber fürs alltägliche Leben? Dieses Buch ist nichts davon und doch all das zusammen. Carl Hegemanns Denken ist keine graue Theorie, sondern immer auf gelebte Wirklichkeit bezogen, er hält sich an Salomon Maimons Devise »Ich denke von meinen täglichen Verrichtungen her«. Seine Analyse ergibt, dass auch das Theater vom Leben nicht zu trennen ist, weil beide dieselbe Grundlage haben: die Spannung, den Konflikt, das Drama. Und so finden hier Theater und Leben und Theorie durch eine »heilige Kollision« (Wolfram Lotz) zusammen zu einer Dramaturgie des Daseins.
Das Buch versammelt im Wesentlichen Texte, die Carl Hegemann in den letzten fünfzehn Jahren geschrieben hat. Davon werden viele hier zum ersten Mal veröffentlicht (etwa die zentralen theoretischen Grundlagentexte über Hölderlin, Goffman, Marx und Brecht), andere sind vorher schon verstreut in Sammelbänden, Theatermagazinen oder Zeitungsfeuilletons erschienen. Obwohl die einzelnen Beiträge allesamt Gelegenheitsarbeiten sind, aus verschiedenen Anlässen entstanden und mit unterschiedlichen Intentionen verfasst, haben sie sich doch zu einem kohärenten Text zusammenfügen lassen, den man gut von vorn nach hinten lesen kann. Will man ihn sich trotzdem lieber sprunghaft erschließen, kann neben dem Inhaltsverzeichnis das Namensregister helfen, direkt zu den Materialien und Themen zu finden, die einen gerade am meisten interessieren. Als zusätzliche Orientierung haben wir im Verzeichnis der Leitmotive Zitate und Denkfiguren versammelt, die in vielen Texten vorkommen und dort von unterschiedlichen Seiten beleuchtet werden.
Diese Veröffentlichung hat zwei sehr unterschiedliche Vorläufer. Zum einen das Plädoyer für die unglückliche Liebe, ein chronologisch geordneter Sammelband mit Hegemann-Texten von 1980 bis 2005. Zum anderen die Dissertation Identität und Selbst-Zerstörung, die schon 1982 erschienen ist und 2017 wiederveröffentlicht wurde.1 Was er hier als junger Philosoph vor über vierzig Jahren entwickelt hat, ist in seiner Theaterreflexion und -praxis bis heute überall zu finden.
Eine zentrale Pointe lautet: Wir können uns nur selbst bestimmen, wenn wir von außen bestimmt sind. Determiniertheit ist die Voraussetzung von Freiheit wie umgekehrt Freiheit die Voraussetzung der spezifisch menschlichen Form von Determination ist. »Nur der spannungsvolle und spannende Prozess zwischen beiden Extremen, zwischen bestimmendem, tätigem Ich und determinierendem, das Ich jenseits seines bewussten Wollens prägendem Nicht-Ich ermöglicht lebendiges Leben.«2
Dieser Zusammenhang zwischen Ich und Welt wird in der kapitalistischen Gesellschaft zerrissen: Was das Subjekt wesentlich ausmacht, seine Tätigkeit, kann von ihm nicht mehr als etwas erfahren werden, das zu ihm gehört. Diesen Vorgang hat zwar schon Karl Marx beschrieben (er nannte ihn »Entfremdung«), aber ihn ausschließlich mit einer objektiven Analyse des Kapitalismus verbunden. Marx zeigt, wie die Art, in der in der bestehenden Gesellschaft Reichtum vermehrt wird, »zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«3 Hegemann analysiert darüber hinaus in seiner Doktorarbeit, wie der Kapitalismus »neben der Untergrabung der objektiven Bedingungen jeder gesellschaftlichen Reproduktion auch die subjektiven Voraussetzungen für die gelingende Identitätsbildung der Menschen gefährden und zerstören« kann.
Die Reflexion über diese objektiv und subjektiv zerstörerischen Potenzen des Kapitalismus gehört auch zur Dramaturgie des Daseins. Weil das vielleicht nicht immer offenkundig ist, sei der Hinweis erlaubt: Dieses Buch handelt nicht nur von den Facetten des Dramas, die das Leben und das Theater in allen Gesellschaftsformen bestimmen, sondern immer auch von dieser konkreten Gesellschaft, also von der vermeidbaren »ganzen Scheiße« (Marx), die uns daran hindert, in sinnvoller Weise mit unseren unvermeidbaren Widersprüchen umzugehen.
Ein solch unvermeidbarer Widerspruch erwächst aus dem Problem der Sterblichkeit, das Anfangs- und Endpunkt der Dramaturgie des Daseins ist. Am Tod, als letzter Grenze, scheitern irgendwann all unsere Bemühungen. Deshalb ist alles, was wir versuchen, am Ende vergeblich. Dass unsere Leben endlich sind, heißt aber auch, dass jeder Moment einmalig ist, nicht wiederholbar, unwiederbringlich. Deshalb hat alles, was wir tun oder lassen, eine Konsequenz und daher eine Bedeutung. Aus dem Umstand, dass wir sterben müssen, können wir also zwei vollkommen gegensätzliche Schlüsse ziehen: entweder ist alles sinnvoll oder alles ist sinnlos. Und daraus folgen zwei ebenso gegensätzliche Regeln für unsere Lebenspraxis: »Nutze den Tag!« oder »Verschwende deine Zeit!«
Im Kapitalismus ist, zumindest für die meisten Menschen, beides unmöglich. Wir können den Tag nicht nutzen, weil ein Großteil unserer Lebenszeit für einen sinnlosen Zweck draufgeht, der nichts mit uns zu tun hat: aus Geld mehr Geld zu machen, um noch mehr Geld zu machen und so weiter, in einer end- und sinnlosen tautologischen Bewegung, bei Strafe des Untergangs. Und wir können auch nicht unsere Zeit verschwenden, weil unterm Kapital die Befriedigung noch der persönlichsten Bedürfnisse, und sei es in Form grenzüberschreitender Exzesse, zum Mittel verkümmert, montags wieder arbeiten zu können.
Weil wir weder den Tag nutzen noch unsere Zeit verschwenden können, halten wir es so schwer aus, uns mit unserer Sterblichkeit zu konfrontieren. Eine bessere Gesellschaft würde sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, dass sie eine solche Konfrontation ermöglichen würde. Carl Hegemann bringt das auf den Punkt mit einem Zitat, das er von Heiner Müller übernimmt, der es bei Ilja Ehrenburg gefunden hat: »Wenn der Kommunismus erreicht ist und alle ökonomischen Probleme gelöst sind, dann beginnt die Tragödie des Menschen, dann sind wir endlich so weit, dass wir uns mit der Tragödie beschäftigen können, mit der Tragödie unserer Sterblichkeit.«
Das Ende des gesellschaftlich bedingten Leidens wäre kein paradiesischer Zustand, in dem die »Sonn’ ohn’ Unterlass« scheint, wie es noch in der Internationalen hieß. Aber es wäre doch zumindest eine Situation, in der wir den Tod aus seinem Schattendasein holen könnten. Womöglich könnten wir dann wirklich, wie es in einer der ersten Überschriften dieses Buches heißt, »glücklich im Unglück« werden.
Aus diesem Grund ist die Dramaturgie des Daseins, die auf das Problem der Sterblichkeit zuläuft, nicht nur ein Buch fürs Hier und Jetzt, sondern auch für eine mögliche bessere Gesellschaft der Zukunft. Oder für vernunftbegabte Aliens, denen es vielleicht irgendwo im All gelungen ist, sich menschlicher zu organisieren, als wir Menschen das bisher geschafft haben.
1Vgl. Carl Hegemann: Identität und Selbst-Zerstörung. Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Johann G. Fichte und Karl Marx, Alexander Verlag 2017.
2Ebd., S. 175.
3Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dietz Verlag 1968, S. 529.