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Lie to me, I promise I’ll believe
ОглавлениеKann man echte Liebe kaufen?
Wahre Liebe ist jetzt käuflich! – Aber nur für kurze Zeit! (Werbetext für Romeo all’Arrabbiata und Julia Crema di Yogurt & italienische Kräuter, Brunch-Brotaufstrich 2007)
Kann Liebe gleichzeitig echt und bezahlt sein? Diese Frage interessiert offenbar nicht nur Hersteller von Brotaufstrich oder deren Werbeagenturen, sie markiert auch zwei zentrale Problemkomplexe, mit denen René Pollesch sich in seinen Stücken herumschlägt.
Der erste Komplex bezieht sich auf die Ökonomie, von der alles, was wir leben und erleben, letztlich abhängt. Alle unsere Bedürfnisse verweisen auf Geld, weil wir sie ohne Geld nicht befriedigen können. Wer zahlungsunfähig ist, dem sind die Schätze der Natur und der Reichtum der Gesellschaft verschlossen. Neben den Dingen, die wir zum Leben brauchen, gibt es ein abstraktes Ding, das als solches zu nichts zu gebrauchen ist, das aber für alle anderen Dinge tauschbar ist. Dieses Ding, eben das Geld, ist etwas, das in der Natur nicht vorkommt. Auf seine »Naturalform«, das Gold, ist es nicht angewiesen, es kann auch als Stück Papier oder als Zahl im Computer existieren. Diese abstrakte Ware, die selbst wertlos ist, die man aber anscheinend in jeden beliebigen Wert verwandeln kann, ist in unserer Gesellschaftsordnung das Objekt der Begierde schlechthin, etwas, auf das alle scharf sind, und etwas, das uns scharf macht. Selbst ernsthafte Künstler, von denen man annehmen könnte, sie seien nur ihren ästhetischen Obsessionen verpflichtet, neigen dazu, mit Frank Zappa zu sagen »We’re Only in It for the Money«, wenn sie mal ehrlich sein wollen. Wenn wir in erster Linie Geld anstreben, wenn es letztlich immer die Frage ist, ob sich das, was wir tun, als marktgängig und lukrativ erweist, wird es gleichgültig, was wir tun. Daraus resultiert Entfremdung und Verdinglichung, unser eigener Lebensprozess erscheint uns fremd, unsere Verhältnisse zu anderen Menschen erscheinen als Verhältnisse von Dingen. Der Schein, das »Als-ob« tritt an die Stelle wirklicher zwischenmenschlicher Vorgänge. Und damit sind wir, wie Pollesch gerne sagt, »getrennt von unserem Leben« oder, wie Marx gerne sagte, »atomisierte Individuen«. Die Wirtschaftsform, die diese Isolation und Gleichgültigkeit in wachsendem Maße erzeugt, ist gleichzeitig so produktiv wie keine andere in der Geschichte. Die beschriebenen unangenehmen Nebenfolgen kann sie nicht vermeiden, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Deshalb sind Versuche, menschliche Beziehungsformen wie Liebe und Solidarität oder religiöse oder nationale Gefühle über den Marktmechanismus zu stellen, eine Bedrohung für das System. Diese Beziehungsformen müssen, um sie kompatibel zu machen mit dieser Wirtschaftsform, in Waren transformiert werden. Es gibt in Zeiten der Globalisierung nur wenig, das dieser Transformation Widerstand leistet, vielleicht die Selbstmordattentate, vielleicht der fundamentalistische Krieg gegen den Terror. Beide Phänomene speisen sich nicht aus ökonomischen, sondern eschatologischen Motiven. Die Absage an den Markt, sieht man an diesen Beispielen, kann heute vielleicht nur noch als Absage an das Leben gedacht werden.
Wie verhält es sich aber mit der Vermarktung solcher Beziehungsformen wie Liebe und Solidarität? Liebe, so sagt man seit 2000 Jahren (seit Christi Liebestod am Kreuz), ist das Wichtigste im Leben. Nach Liebe gibt es eine unerschöpfliche Nachfrage. Sie ist ein knappes Gut. Denn, wie Adorno sagte, fühlen wir uns alle »ausnahmslos zu wenig geliebt«. Deshalb ist Liebe und nicht nur Sex das große Thema der Werbung. Aber es hat noch nie eine Geschäftsidee gegeben, die Liebe unmittelbar als Ware behandelt. Liebe lässt sich reell nicht unter die Warenstruktur subsumieren. Woran liegt das? Warum lässt sich Liebe nicht wie Sex oder Wellness verkaufen? Und warum ist auch Solidarität nicht käuflich zu erwerben? Natürlich kann ich mir einen Menschen engagieren und ihn als meinen Geliebten vorstellen, oder eine Gruppe, die sich solidarisch mir gegenüber verhält und dafür bezahlt wird, aber jedem ist klar, dass eine Solidarität, die endet, wenn die Zahlungen ausbleiben, genau so wenig Solidarität ist, wie Liebe Liebe ist, wenn für jeden einzelnen »Liebesdienst« oder »Liebesbeweis« gezahlt werden muss. Das ändert sich auch nicht, wenn pauschal bezahlt wird (zum Beispiel in der Ehe). Warum ist das so? Ganz einfach, Phänomene wie Liebe und Solidarität folgen strukturell einer Logik, die nicht die Logik des Marktes sein kann. Schon bei Shakespeare wird dies äußerst klar ausgesprochen, zum Beispiel wenn Julia sagt: »Ich wünsche nur, was ich bereits besitze. So grenzenlos ist meine Liebe, so tief das Meer, je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: beides ist unendlich.« Liebe entzieht sich jedem Kalkül, deshalb lässt sie sich nicht verkaufen. Das ist tragisch für den Markt, dass seine wunderbare Kraft, die Bedürfnisbefriedigung der Menschen dynamisch in ungeahnten Ausmaßen zu fördern, ausgerechnet bei einem der wichtigsten Güter des täglichen Bedarfs versagt: der Liebe. Und beunruhigend ist dabei, dass der Markt, um zu funktionieren, eigentlich keine Ausnahmen dulden darf. Das ist schon sein Problem bei unverkäuflicher Arbeitskraft, die man nicht wie andere unverkäufliche Waren einfach auf den Müll schmeißen kann, weil da ja lebendige Menschen dranhängen. Dass sich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht durch das »freie Spiel der Kräfte« lösen lässt, weil man sonst die überflüssigen Arbeitskräfte verhungern lassen müsste, ist ein ruinöses Problem der Marktwirtschaft und der Menschen, die ihr ausgeliefert sind. Und nun, wenn wir feststellen, dass ein so wichtiges Gut wie die Liebe schlechterdings nicht für den Markt geeignet scheint, weil es wesentlich die dort herrschenden Gesetze unterläuft oder überwindet, stehen wir vor einem schweren Dilemma. Und das ökonomische Marktprinzip, dem die Welt den Fortschritt zu verdanken hat und sogar ihre demokratische Ordnung, scheitert ausgerechnet da, wo es für die liebesbedürftigen Menschen wirklich wichtig wird. Die Globalisierung nach innen, das heißt die Tendenz der Marktwirtschaft, sich jeden menschlichen Lebensbereich einzuverleiben, findet hier ihre Grenze.
Die Liebe, nach der wir uns sehnen, ist unvernünftig. Und Unvernunft gefährdet den Markt. Der berühmte Autovermieter und Erfolgsunternehmer Sixt verkündete neulich: »Die oberste Vorraussetzung unserer Wirtschaftsordnung ist, dass die Beteiligten immer rational handeln. Wir wissen alle, dass das nicht stimmt.« Das heißt, die Rationalität des Marktes, das, was Konkurrenz überhaupt erst ermöglicht, dass alle Marktteilnehmer rational auf ihren Vorteil aus sind, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Es gibt offenbar viele Handlungsmotive, die nicht marktmäßig kalkulierbar sind.
Dostojewski war vor 150 Jahren wahrscheinlich einer der Ersten, die dieses Leck im rationalen Vorteilsdenken gesehen haben. In seinem Roman Aufzeichnungen aus dem Kellerloch lesen wir etwas, das wie ein Kommentar zu der Einsicht von Sixt klingt:
Nach unserem eigenen, uneingeschränkten und freien Wollen, nach unserer allerausgefallensten Laune zu leben, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag? Das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren lässt, und durch den alle Systeme und ökonomischen Theorien fortwährend zum Teufel gehen.
Dostojewski erlaubt sich in diesem Text, den größten Vorteil ausgerechnet in der Vorteilsablehnung, in der Nicht-Rationalität, im Ignorieren des Kalküls zu finden.
Jemanden nicht zu heiraten, nur weil er eine Erbschaft gemacht hat, jemandem alles zu geben, was man hat, ohne jegliche Gegenleistung: solche Verhaltensweisen – es gibt sie nicht nur bei Dostojewski – sind unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht mehr zu fassen. Und hier wird auch der Widerspruch deutlich, der die Ausgangsfrage von René Pollesch charakterisiert. Liebe echt und bezahlt? Wenn sie bezahlt ist, folgt sie einem Kalkül, ist also von etwas anderem abhängig als ihr selbst, wird instrumentalisiert und damit entwertet. Wenn sie aber außerhalb des Kalküls liegt, widerspricht sie den obersten Voraussetzungen unserer Wirtschaftsordnung und ist nach deren Maßstäben ein gefährlicher Unsinn (Wie kann ein vernünftiger Mensch Julia zustimmen, wenn sie sinngemäß sagt: »Je mehr ich ausgebe, je mehr hab ich im Portemonnaie«?). Liebe auf dem Markt zu kaufen scheitert genauso wie Liebe, die sich jenseits des Marktes verwirklichen will. Die marktkompatible Liebe ist unecht. Die reine Liebe jenseits des Marktes tritt ihre eigenen Überlebensbedingungen mit Füßen. Vielleicht enden deshalb Liebesgeschichten zumindest im Theater gerne tödlich. Man kann nicht sagen, dass wir bis heute eine überzeugende Lösung für dieses Dilemma gefunden hätten. Wer kalkuliert, lebt länger, aber er kann und darf nicht lieben, wenn er konsequent ist. Und ein Leben ohne Liebe ist vielleicht kein Leben. Wer nicht kalkuliert, kann sich zwar, wenn er Glück hat, auf eine wahre Liebe einlassen, aber er gefährdet sein Leben. Wer beides gleichzeitig versucht, landet wieder bei Polleschs Frage: Kann Liebe echt sein und gleichzeitig bezahlt?
Die slowenischen Joseph-Beuys-Schüler von der Rockgruppe Laibach zogen auf ihrer CD Kapital folgende Konsequenz aus diesem Dilemma: »Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll: Jage zwei Tiger!« Das klingt verblüffend: Wir lösen den Widerspruch nicht auf, wir lassen ihn stehen und steigern ihn ins Extrem. Wir müssten ein Höchstmaß an Kalkül mit einem Höchstmaß an Nicht-Kalkül konfrontieren. Unternehmerisch denken und gleichzeitig in Liebesdingen die Bereitschaft entwickeln, jedes Kalkül über den Haufen zu schmeißen. Dann wäre durch die Extreme hindurch vielleicht so etwas wie ein Ausgleich möglich, der nicht bloß ein fauler Kompromiss ist. Der gewissenhafte Unternehmer, der rational handelt, aber für die Liebe jedes Geschäftsinteresse sausen lässt, wäre das ein Beispiel für ein gelingendes Liebesleben? Dieses wackelige Konzept, das doppeltes Scheitern zur Tugend macht, scheitert aber möglicherweise zusätzlich auch an der Ungewissheit, die der unter solchen Bedingungen Geliebte in uns auslöst. Denn ob auch er zwei Tiger jagt und ob wir für ihn bei seinen Bestrebungen der »Kalkültiger« oder der »Liebestiger« sind, lässt sich grundsätzlich nicht mit Sicherheit klären.
René Pollesch versucht in seinen gegenwärtigen Arbeiten, die Enttäuschung, dass Liebe Zwecke verfolgt und instrumentalisiert wird, probeweise zu verarbeiten durch Reinvestition in den Markt, durch Bejahung der Käuflichkeit der Liebe. Mit folgendem Argument: Auch wenn meine Liebe bezahlt ist, kann ich in dieser Scheinliebe zumindest etwas von dem erfahren, was Liebe sein könnte, wenn sie nicht bezahlt wäre. Es muss nur gut gespielt sein. Auch das bloß Vorgespielte, Unechte hat seinen Wert. Das Theater lebt schließlich nicht schlecht vom ästhetischen Schein und vielleicht kann große Nähe und große Zuneigung auch dann angenehm sein, wenn ihr durch finanzielle Gegenleistung nachgeholfen wurde. Es gibt Leute, die sagen, dass Liebe gar nicht anders möglich ist als unter diesem Vorbehalt. Dass das Echte sich sozusagen im Unechten verstecken oder tarnen muss. Hinzu kommt die Vermutung, dass das Geld selbst es ist, das verliebt macht, das eine erotische Qualität besitzt, die über das mit ihm verbundene Kalkül hinausweist. Das behauptete zum Beispiel Andy Warhol, für den Geld explizit zu den Dingen gehörte, die verliebt machen, oder die Pet Shop Boys: »I love you, you pay my rent.« Wir müssten also möglicherweise, wenn wir in Zeiten der Globalisierung unseres Innenlebens so etwas wie Liebe haben wollen, die gelogene Liebe annehmen. Denn wenn wir an die gelogene Liebe glauben, obwohl sie gelogen ist, dann hat sie vielleicht psychische und körperliche Effekte, die fast identisch sind mit denen der echten Liebe, die unter diesen Bedingungen unlebbar und unerreichbar ist. Das führt zu der Frage, ob eine schöne, aber gelogene Liebesbeziehung besser ist als eine echte, aber beschissene. Dahinter steckt die Vermutung, dass in unserer Gesellschaft vielleicht nur aus Berechnung Hingabe und große Liebe möglich werden, dass ohne Berechnung einfach keiner den Willen und den Mut aufbringen würde, große Gefühle zu riskieren. Das würde heißen, dass es Mischformen sind, die wir leben, dass Zweifel dazugehört und dass wir uns angewöhnen müssen, auch Lügen zu glauben. Das gehört zum Spiel und könnte auch gesünder sein als eine radikale, aber illusionäre Liebesvorstellung. Die amerikanische Sängerin Sheryl Crow (ich habe das Gefühl, sie ist nicht die Einzige) kann das anscheinend. In einem ihrer Songs heißt es: »Lie to me, I promise, I’ll believe.«
Vielleicht kann man das Gefühl, das mit echter Liebe verbunden ist, also kaufen. Darüber, wie echt sie wirklich ist, braucht man sich als nicht kalkulierender Liebender nicht den Kopf zu zerbrechen. Und tiefe Gefühle, die überhaupt nicht gefälscht sind, sind für uns schwache Menschen womöglich sowieso viel zu gefährlich. Dies ist keine befriedigende, aber, wie ich fürchte, eine weit verbreitete Lösung in Zeiten intensiver Totalisierung der Märkte.
Es gibt noch eine andere Vorstellung, nach der Liebe nicht an Wahrheit gebunden ist und gerade auch echte Liebe Lügen nicht ausschließt, weil Liebe stärker ist als Wahrheit. Niemand anders als Shakespeare behauptet, dass »Scheinvertraun« das Beste sei, was einem in der Liebe passieren kann. Diese These entfaltet er im Sonett 138. Was hätte Julia dazu gesagt?
Wenn sie mir schwört, sie sei die Wahrheit selbst,
So glaub ich ihr, obgleich ich weiß, sie lügt,
Damit sie in mir einen grünen Jungen sieht,
Der mit der Welt Finessen nicht vertraut.
Indem ich wähn’, dass sie für jung mich hält,
Wiewohl sie weiß, was hinter mir schon liegt,
Glaub’ einfach ihrer falschen Zunge ich:
So leidet schlichte Wahrheit beiderseits.
Warum verhehlt sie aber, dass sie lügt?
Und warum sag ich nicht, wie alt ich bin?
Der Liebe bestes Teil ist Scheinvertraun,
Und Liebe weiß nichts von der Jahre Zahl.
Darum lüg ich sie an und sie mich auch,
Und lügend schmeicheln unsern Fehlern wir.