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ОглавлениеFlucht in die Familie
Die Keimzelle des Staates gebiert Ungeheuer
Gerade dadurch, dass der Einzelne egoistisch nur seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er das Wohl der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben ihr niemals etwas Gutes getan.
(Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen)
1.
Das Theater beschäftigt sich seit 2500 Jahren mit der Familie und fast alles, was es zu diesem Thema produziert hat, bestätigt die Statistik von heute: nirgends gibt es so viel Mord und Totschlag wie in der Familie, zwischen Leuten, die sich (zu) gut kennen und die aneinander gebunden sind durch Umstände, die sie nicht selbst gewählt haben. Das Theater beschäftigt sich auch heute, wie zu den Zeiten von Sophokles und Euripides, von Ödipus und Medea mit der Familie als einer gefährlichen Zusammenballung gegenseitiger Abhängigkeiten und abgründiger Konflikte. Schon Goethe wollte den archaischen Zwang der Blutsverwandtschaften durch Wahlverwandtschaften ersetzen und Marx sah mit der Entfaltung des Kapitalismus nicht nur die Auflösung der »Vaterländer«, sondern auch das »Ende der Familien« heraufziehen und zwar als durchaus positive und humane Tendenz. Im Kommunistischen Manifest war die Abschaffung der Familien eine zentrale Forderung. Die Familie hat sich aber trotz steigender Scheidungsrate und sinkender Kinderzahl bis heute gehalten, wenn auch nur in ihrer Schrumpfform. Von der traditionellen Großfamilie, die drei Generationen unter einem Dach zusammenhielt, entwickelte sie sich über die Kleinfamilie zum Alleinerziehenden als kleinstmöglichem Familiengebilde. Dies ist nur folgerichtig in einer sich ausbreitenden Marktwirtschaft, die atomisierte Individuen produziert, die sich nicht direkt aufeinander beziehen, sondern nur indirekt über den Markt. Das isolierte Individuum, das sich alles kauft, was es für ein glückliches Leben braucht, ist Produkt, Legitimationsbasis und Ideal dieser Marktwirtschaft, für die alles Statische und Langfristige eine Behinderung darstellt. Die Protagonisten in Michel Houellebecqs Romanen sind Prototypen dieses Ideals. Der hierarchische Familienverband mit seinen persönlichen Dauerabhängigkeiten und außerökonomischen Verpflichtungen passt nicht in diese Gesellschaft der individualisierten Marktteilnehmer. Seine Aufgaben müsste deshalb entweder der Markt übernehmen oder die Familie müsste sich selbst »fit« machen für den Markt, Kinder müssten als Kapital investiert werden und ihre Aufzucht müsste ein bezahlter Job sein wie jeder andere. Aber Familien, die sich als profitorientierte Unternehmen definieren, sind Geschäfte und keine Familien. Wenn die Kinder, wie schon von Marx beobachtet, zu »bloßen Handelsartikeln und Arbeitsinstrumenten« werden, kann man von Familie nicht mehr sprechen. Die Sicherheit und Geborgenheit der Familie schwindet, aber die Möglichkeit für den Einzelnen, Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen, wächst. Das sinnlose Opfer und die schicksalhafte Ausgeliefertheit, die seit Urzeiten Merkmale der Familie sind, fallen ebenfalls weg. Allerdings ist es, unter ökonomischen Nutzenserwägungen betrachtet, heute offenbar widersinnig, in den sogenannten entwickelten Ländern noch Kinder in die Welt zu setzen. Kinder liefern keinen Gewinn, sie kosten mehr, als sie jemals einbringen, sie sind ökonomisch betrachtet unvertretbare Investitionen, die sich niemals amortisieren.
2.
Das heißt: Familie als auf Dauer angelegtes System gegenseitiger Hilfe und verantwortlicher Kontinuität passt nicht in die Marktwirtschaft und bietet anscheinend niemandem mehr einen rationalen Vorteil. Als eigenständiger Wert ist die Familie schon lange fragwürdig geworden, das lehrt u. a. die Theatergeschichte. Es scheint nun so, als würde, nach dem Ende des kommunistischen Projekts, der Kapitalismus selbst die Auflösung der Familie nicht nur geschehen lassen, sondern auch aktiv betreiben. Fieberhaft scheint die Gesellschaft daran zu arbeiten, die Bedingungen zu schaffen, durch die sie ohne dieses lästige und gefährliche und wirtschaftlich kontraproduktive Gebilde auskommen kann. War es zu Zeiten von Marx und Engels Mode, die Ökonomisierung der Familie anzuprangern, so ist es heute offenbar eher angesagt, ihre ökonomieresistente Seite als Anachronismus und Hemmschuh zu sehen und sich für deren Abschaffung einzusetzen. Zwangsbeziehungen, die man in keinem Fall verlassen darf, auch wenn sie nicht produktiv sind, und Verpflichtungen, die keine vertraglichen Ausstiegsklauseln haben, solche Bestandteile der Familienstruktur kann sich eine liberale Marktwirtschaft nicht leisten. Sie sind nicht zweckrational. Sie torpedieren das System und sind anachronistisch, denn sie widersprechen der Selbstbestimmung der Marktteilnehmer und dem freien Spiel der Kräfte. Soweit sie Voraussetzungen liefern für die Marktteilnahme, zum Beispiel indem sie Kinder auf die Anforderungen des Marktes vorbereiten, hat der Staat die Erfüllung solcher Aufgaben zu übernehmen, weil er für die Bereitstellung und Erhaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich ist. Soweit sich die traditionellen Leistungen der Familie durch den Markt regulieren lassen, sind sie wie alles andere dem freien Spiel der Kräfte zu unterwerfen. Dies ist, etwas zugespitzt, die Situation, in der wir uns gerade befinden.
3.
Die Familie ist entweder veraltet oder subversiv den Existenzbedingungen unserer Gesellschaftsordnung gegenüber. Sie ist an alte Werte gebunden und gleichzeitig so etwas wie eine antiökonomische Infragestellung der Grundlagen der Gesellschaft. Ihr Verschwinden ist möglicherweise nur eine Frage kurzer Zeit. Sie ist ja schon fast weg. Auch wenn wir dieses Verschwinden als Mangel verspüren und ein sentimentaler Wille zur intakten Familie unsere Sehnsucht und Sinnsuche bestimmt, treten an die Stelle der Familienbande immer häufiger Geschäftsbeziehungen von »Waisenkindern«. Die Funktionen und Bedürfnisse, die früher die Familie erfüllte, muss heute der Markt erfüllen. Tagesmütter, Ganztagsschulen, qualifizierte Kinderbetreuung, alles ist für Geld zu haben und alles kann von sich auf dem Markt anbietenden Fachkräften geleistet und/oder vom Staat produktiv organisiert werden. Für das tägliche Mittagessen und die Wohnungspflege stehen andere Fachkräfte zur Verfügung. Lohn für Hausarbeit ist seit langem eine seriöse, auch feministische Forderung. Die Verantwortung erwachsener Kinder für die Eltern und Großeltern wird durch Pflegeversicherung und spätere Abschiebung nach Mallorca oder in die Dritte Welt ersetzt, wo die zahlungskräftigen Alten die Freiheit haben, sich gleichaltrige Wahlverwandtschaften zu suchen oder Rundumbetreuung im Wellnessaltenheim zu buchen. Schmale Renten können in den armen Ländern kaufkräftiger gemacht werden und dort Arbeitsplätze schaffen. Das Ende der Familie und des Wohlfahrtsstaats lässt nur noch eine einzige Art von legitimer Hilfsleistung zu: Hilfe zur Selbsthilfe. Marktteilnahme von der Wiege bis zum Sterbebett.
4.
Diese Entwicklungen sind so ungeheuer wie ambivalent. Die Familie gilt vielen als beklemmende und anachronistische Institution, als ausgehöhltes Auslaufmodell. Die staatliche und/oder marktgesteuerte Alternative andererseits wirkt bedrohlich und unmenschlich: Sie vereinzelt, macht einsam und verbreitet Kälte. Liebe, Nähe, Zuverlässigkeit, Hilfe und Verantwortung für andere, wenn sie überhaupt zum Gegenstand von Kaufen und Verkaufen gemacht werden können, müssen sehr teuer bezahlt werden und müssen, anders als in der Familie, entsprechend den Marktgesetzen jederzeit ordentlich oder außerordentlich gekündigt werden können. Freiheit und Einsamkeit sind die Resultate dieses Wandels. Freiheit und Einsamkeit treten an die Stelle familiärer Sicherheit und Geborgenheit, aber auch an die Stelle familiärer Enge und familiären Terrors. Sieht so der Konflikt aus? Sind das die Alternativen? Wahrscheinlich nicht ganz, denn Sicherheit ist heute auch innerhalb der Familie nicht unbedingt garantiert. Eltern verweigern die Verantwortung für Kinder, die zu hässlich sind, um bei Deutschland sucht den Superstar aufzutreten, oder die das Gymnasium nicht schaffen. Im Extremfall lassen sie ihre Kinder zu Hause verdursten, während sie selber eine Woche auf Sauftour sind. Die Fähigkeit, Glückshindernisse zu verdrängen und sich momentane Entlastungen zu schaffen, indem eigene Verantwortlichkeit und unvermeidliche Verpflichtungen ausgeblendet werden, scheint zu wachsen. Kinder, die sich nicht rechnen und sich nicht selbst helfen können, haben schlechte Karten. Eltern, deren erwachsene Kinder nicht ausziehen, weil es zu Hause billiger ist, ebenfalls. Manche Eltern vergraben ihre überzähligen Babys lieber in Blumenkästen auf dem Balkon und manche Kinder stehen mit Messern vor der Haustür und erstechen die Eltern ihrer Freundin.
Es spricht einiges dafür, endlich das Ende dieser Verzweiflung produzierenden Institution zu betreiben, aber man sträubt sich trotzdem vehement gegen die Vorstellung, nun auch die Funktionen der Familie dem freien Spiel der Kräfte und der grenzenlosen Konkurrenz zu unterwerfen.
Aber wenn, wie René Pollesch behauptet, Liebe gleichzeitig echt und bezahlt sein kann, lässt sich das vielleicht auch auf die Familienliebe übertragen. Schließlich war die familiäre Bindung da, wo sie in der Vergangenheit funktioniert hat, häufig auch ein gutes Geschäft zum Vorteil für alle Beteiligten und ist es in ärmeren Ländern immer noch. Dort sind viele Kinder immer noch die einzige Lebensversicherung. Aber muss die Familie, wenn diese Vorteile nicht mehr zu sehen sind, nicht gemäß den Gesetzen der Warenproduktion verschwinden und durch ein besseres Modell ersetzt werden?
5.
Natürlich handelt es sich bei solchen Fragen um Spekulationen und Denkspiele. Ich breite sie hier aus, weil ich denke, dass das Theater, in seiner traditionellen Bezogenheit auf Familienthemen, derartige Spekulationen zulassen muss. Dagegen sträubt sich aber die Institution des Theaters bisher häufig. Im gegenwärtigen Theater – gleichgültig, ob es neue, alte oder ganz alte Stücke spielt – wird fast immer in einer Weise auf die Familie Bezug genommen, als hätte sich seit 2500 Jahren nichts Wesentliches geändert. Ich kenne nur wenige Stücke und Inszenierungen, in denen die hier thematisierten Entwicklungen wahrgenommen und explizit behandelt werden. Der Konflikt zwischen einer aufkommenden »Waisenkindergesellschaft« aus selbstbestimmten, aber einsamen Marktteilnehmern und dem Beharren auf einem nicht marktmäßig organisierten System menschlicher Bindungen und Verpflichtungen ist offenbar im Theater schwer zum Thema zu machen. Vielleicht weil das Theater seine eigenen Voraussetzungen mit den Voraussetzungen der traditionellen Familie analogisiert und sich nicht darüber stellen kann, gerät ihm dieser Konflikt aus dem Blickfeld. Ausnahmen gibt es dennoch einige, etwa Botho Strauß, der in seinem ersten großen Bühnenwerk, nämlich Groß und klein (1978), schon das Ende der Familie und die Probleme der vereinzelten Einzelnen nicht bloß als privates Ausnahmeunglück, sondern nahezu als gesellschaftlichen Normalfall beschrieben hat. Beziehungsunfähige Ich-AGs und Kinder ohne kontinuierliche Bezugspersonen bildeten schon damals das Personal. Auch Heiner Müllers Shakespeare- und Laclos-Adaptionen beschäftigen sich spezifisch mit dem modernen Zwiespalt der Familie. Die Elementarteilchen-Romandramatisierung von Johan Simons ist hier ebenfalls zu nennen. Und viele Stücke von René Pollesch, die alle nach dem Ende der Familie zu spielen scheinen und in denen Kinder, wenn überhaupt, als eigenwillige Aliens mit großem Risiko für den sehnsuchtsvollen Käufer vorkommen. Und gleichzeitig rufen die selbst Kinder gebliebenen Erwachsenen: »Ich will nicht scharf sein, ich will Fürsorge.«
Vielleicht regeln die unsichtbare Hand und das wohlverstandene Eigeninteresse doch nicht alles.
Anmerkung: Melinda Cooper weist in ihrem 2019 erschienenen Buch Family Values (Princeton University Press) auf einen in diesem Text vollkommen übersehenen Aspekt hin. Sie liefert den Nachweis, dass ausgerechnet der Neoliberalismus schon seit den 1970er-Jahren die Notwendigkeit von (auch gleichgeschlechtlicher) Ehe und Familie vehement betont. Um Sozialausgaben zu minimieren und dadurch Steuern zu senken, sollen soziale Versorgungsleistungen privatisiert werden, indem sie zur Aufgabe der Familie statt des Staates erklärt werden. So werden die Ehe für alle und die Solidarität in der Familie zu genuin neoliberalen Forderungen, die den Abbau des Sozialstaats flankieren. – Danke, Helene! (C. H. 2021)