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ОглавлениеDie dunklen lebendigen Kräfte, die unbestimmt und unerwartet und unbegründet aus uns hervorbrechen, bedürfen sozialer praktischer Vermögen, die sie einschränken und konterkarieren, wie Christoph Menke in seinen beiden Büchern über den ästhetischen Kraft-Begriff gezeigt hat (Die Kraft der Kunst und Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie). Für Menke befinden sich lebendige Kraft und soziales Vermögen in einem Verhältnis wechselseitiger Negativität, und nur in dieser wechselseitigen Verneinung gelangen sie zu ihrer positiven Existenz. Die unbestimmte Kraft, die uns bestimmt, und die bestimmenden Vermögen, die der Kraft eine Form geben, sind wechselseitig voneinander abhängig und einander entgegengesetzt. Das führt bei Menke zu der »Einsicht, dass das, was das Vermögen ermöglicht, [nämlich das Spiel dunkler Kräfte], es zugleich unmöglich macht«. So befinden sich Kräfte und Vermögen permanent in einem nicht beendbaren Konflikt. Nur in der Kunst können sie ihn abstellen und eine widerspruchslose Einheit bilden, aber die ist als solche immer fiktiv: ästhetischer Schein.
In dieser in ihren Grundzügen auch bei Fichte, Hölderlin und Schiller zu findenden Konstruktion ist eine Absage an die Möglichkeit menschlicher Allmacht genauso enthalten wie die Absage an jede Art von Erlösung bei lebendigem Leibe. Wir können weder in den Mutterleib noch in die kindliche Allmachtsphase zurück, wir sind auf die Beschränktheit angewiesen; selbst die ästhetische Schönheit, die wir erfahren und sogar herstellen können, ist abhängig von unserer Beschränktheit, von Grenzen, die wir erweitern, aber nicht überwinden können. Hölderlin hat das zur gleichen Zeit wie Schiller in einem paradoxen Satz zum Ausdruck gebracht: »Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens.« So sieht es aus. Schönheit und Vollkommenheit sind an Armut und Mangel gebunden. Die Wahrheit des unbeschränkten Subjekts, seine grenzenlose Freiheit, ist immer nur eine Fiktion, nur im Schein können wir zu ganzen Menschen werden, als lebendige Wesen sind wir konstitutiv auf unsere Unfertigkeit und Schwäche angewiesen: letztlich auf unsere Sterblichkeit. Den ästhetischen Schein durch Anleihen an die Wirklichkeit verstärken zu wollen, ist genauso aussichtslos wie der Versuch, die Wirklichkeit durch den Schein zu verbessern. Deshalb lehnt Schiller alle Versuche ab, ästhetischen Schein durch »logischen Schein« zu ersetzen. Er bezeichnet solche Versuche als »Betrug«. Die Freiheit der Kunst auf das Leben in der Welt zu übertragen, ist nicht nur ein Fehler, sondern auch dauerhaft gar nicht möglich, denn eine Wirklichkeit, die auf Schein, das heißt auf Lügen gebaut ist, fällt früher oder später in sich zusammen wie die Blasen in der Finanzindustrie. Künstler, Regisseure, Intendanten, die meinen, sie könnten von den unbegrenzten Möglichkeiten der Kunstfreiheit persönlich profitieren und die Unbeschränktheit, die ihnen in der Kunstpraxis erlaubt ist, auch zur Ausweitung ihrer Möglichkeiten in ihrer eigenen Lebenswelt benutzen, verwandeln das »interesselose Wohlgefallen« (Kant) an der Kunst in profane Machtausübung. Das ist Missbrauch der Kunst. Das verwandelt ästhetische Allmacht in ein schmutziges Geschäft. Es schadet nicht nur der Kunst und den Opfern dieses Handelns, sondern auch denen, die diesen Machtmissbrauch praktizieren. Diese landen in einer Sackgasse, denn ihre vermeintlich berufsbedingte Allmacht ist ein Zwangszusammenhang. Man kann das sicher als sozialisationsbedingt erklären – sie sind in der narzisstischen Allmachtsphase stecken geblieben, die unendlich nachgiebige Mutter ist schuld usw. –, aber nicht als künstlerische Notwendigkeit rechtfertigen.