Читать книгу Dramaturgie des Daseins - Carl Hegemann - Страница 12
Ich wünsche nur, was ich bereits besitze
ОглавлениеRomantische Liebe überleben
Es gibt vielleicht keine größere Liebe als die zwischen einem revolutionären Paar, bei dem beide bereit sind, den andern in jedem Augenblick zu verlassen, wenn es die Revolution erfordert.
(Slavoj Žižek, Isolde rennt)
Zu Shakespeares 450. Geburtstag, im April 2014, hat ein in Deutschland weltberühmter konservativer Theaterkritiker diesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als den »jüngsten und frischesten aller Jungdramatiker« bejubelt, der »jedem Zeitgeist hohnspricht« und dabei »Phantastisches« geschaffen habe. Aber ein Werk dieses »größten und wunderbarsten Menschentheaterzauberers aller Zeiten« nimmt er aus, und zwar ausgerechnet das berühmteste. »Romeo und Julia ist die unsägliche Kolportage einer Husch-husch-Liebe, samt Dolch und unkonzessioniertem Ausschank giftiger Substanzen.«
Und tatsächlich wirkt der Handlungsrahmen im Vergleich zu anderen Shakespeare-Dramen weder originell noch komplex. Es geht, wie allgemein bekannt, um zwei Liebende, die aus verfeindeten Familien stammen und durch schlimme Verhältnisse, böse Zufälle und phantastisch schiefgehende Rettungsaktionen schon kurz nach der Hochzeitsnacht in den Selbstmord getrieben werden. Aber die Wirkung dieser scheinbar einfachen Tragödie ist bis heute grenzenlos. Was Shakespeare aus dem Stoff gemacht hat, ist so etwas wie die Keimzelle aller romantischen Liebesgeschichten, Muster und Maßstab in der Kunst und im Leben. Die große, alles sprengende Liebe erweist sich bei Romeo und Julia in der Bereitschaft, für die Liebe zu sterben. Ihre Liebe scheitert nicht nur am feindlichen Umfeld, sie braucht es auch. Es geht nicht um die gute Partie, um die kluge Partnerwahl, sonst müsste Julia den Grafen Paris, »ein Kerl wie aus dem Katalog«, heiraten. Es geht um die Liebe, die eigentlich keine Chance hat, die sich durch nichts begründen lässt, die jeder Vernunft spottet und deshalb unbedingt und grundlos ist. Diese Liebe ähnelt der mystischen Erfahrung des Göttlichen, dem Absoluten. Wenn Julia ihre Liebeserfahrung mit den Worten feiert: »Ich wünsche nur, was ich bereits besitze«, verweist das auf diese Erfahrung des Göttlichen, die der Philosoph Baruch de Spinoza hundert Jahre nach Shakespeare nahezu mit den gleichen Worten charakterisiert: »Begehren, was man besitzt, das ist das höchste Gut.«
Im Theater und in der Oper müssen die Liebenden sterben, ob sie nun Romeo und Julia, Tristan und Isolde oder Bonnie und Clyde heißen. Die amour fou fürchtet nicht den Tod, sondern sehnt ihn als größte und endgültige Vereinigung herbei. Die Liebe ist ewig, wenn die Liebenden sterben. Im realen Leben ist das normalerweise keine Option, dort stirbt statt der Liebenden die Liebe und verwandelt sich, meistens nach drei bis sieben Jahren, in irgendetwas Pragmatisches, Lebbares, Vernünftiges, wenn nicht in Hass und Überdruss. Eine Liebe, die niemals aufhört und die Liebenden noch nach 50 Jahren Ehe beim Anblick des Partners in Seligkeit versetzt, ist die absolute Ausnahme, soll aber vorkommen.
»Die Menschen, die sich heute lieben, müssen zusammen sterben, wenn sie vereint sein wollen«, vermutet Albert Camus und er behauptet, das Leben sei für die Liebenden »eine Qual, denn Leben trennt.« Und der Ausweg, den er fand, in den Gerechten, ist nicht sehr vielversprechend:
Aber kann man sich nicht jetzt schon vorstellen, dass zwei Menschen auf alle Freuden verzichten, sich im Schmerz lieben und auf keine andere Begegnung mehr hoffen können als im Schmerz? Kann man sich nicht vorstellen, dass der gleiche Strick diese beiden Menschen vereint?
Das ist eine überraschend christliche Vorstellung, in der sich die Liebenden im Leiden vereinigen, so wie sich Jesus durch den Kreuzestod mit den Sterblichen vereinigt hat. Seitdem dürfen wir Christenmenschen gerade im Leiden die Nähe Gottes erfahren, wenn wir es können. »Das Reale des Christentums« hat hier für den Philosophen Slavoj Žižek seinen Ursprung:
Wir sind nur dann eins mit Gott, wenn dieser nicht mehr eins ist mit sich selbst, sondern sich selbst aufgibt, den radikalen Abstand ›verinnerlicht‹, der uns von ihm trennt. Unsere radikale Erfahrung der Trennung von Gott ist genau jenes Merkmal, das uns auch mit ihm vereint […]. Es ist anmaßend zu glauben, ich könne mich mit der göttlichen Glückseligkeit identifizieren – nur dann, wenn ich den unendlichen Schmerz der Trennung von Gott erlebe, teile ich eine Erfahrung mit Gott selbst, mit Christus am Kreuz.
Derselbe Slavoj Žižek ist es aber auch, der in seiner Auseinandersetzung mit Richard Wagners Oper Tristan und Isolde eine Alternative zum Liebestod entdeckt, die vielleicht nicht weniger romantisch oder spirituell ist, die aber den Liebenden eine gemeinsame und individuelle Lebensgeschichte ermöglicht, ohne den Absolutheitsanspruch ihrer Liebe aufzugeben. Žižeks Lösung besteht überraschenderweise in der Bereitschaft der Liebenden, den Partner jederzeit zu verlassen! Seine Begründung für dieses Paradox ist bemerkenswert. In Isolde rennt schreibt er:
Die wichtigste Lektion für einen liebenden Mann, der wissen will, ob seine Liebe erwidert wird, ist die Einsicht in die Notwendigkeit zu prüfen, ob er in der Lage ist auch ohne das geliebte Wesen zu leben, also ob er in der Lage ist, seinen Beruf oder seine Bestimmung diesem vorzuziehen.
Dabei gäbe es auf den ersten Blick nur die beiden folgenden Antworten: »1. Meine berufliche Karriere ist mir das Wichtigste überhaupt, die Geliebte dient nur zum Amüsement, zur kurzzeitigen Ablenkung.« Dann wäre die Frage mit Ja beantwortet. »2. Die geliebte Frau bedeutet mir alles, ich bin bereit, mich für sie in jeder Hinsicht zu kasteien und meine öffentlichen und beruflichen Verpflichtungen aufzugeben, wenn sie es will.« Das wäre ein klares Nein. Wie man sich denken kann, erklärt Žižek beide Antworten für falsch. Denn »sie führen zur Ablehnung des Mannes durch die Frau«. Was natürlich auch im umgekehrten Falle denkbar ist. Und dann kommt die für Žižek einzig richtige Antwort, die die absolute Liebe bei lebendigem Leibe ermöglicht und den Tod der Liebenden und den Tod der Liebe gleichermaßen vermeidet: »Auch wenn du alles für mich bist, kann ich doch ohne dich leben. Ich bin bereit und in der Lage, dich zu verlassen, wenn meine Aufgabe oder mein Beruf das erfordern.«
Für Julia und alle romantisch Liebenden wäre eine solche Antwort wie eine kalte Dusche. Und auch für Romeo wäre es sicher sehr ernüchternd, wenn Julia, auf den Spuren Žižeks, mit ihrem Geliebten das folgende Experiment anstellen würde:
Wenn eine Frau wissen will, ob ein Mann sie wirklich liebt, ist die beste Art das herauszufinden, ihn im wichtigsten Moment seiner Karriere zu verlassen oder (scheinbar) zu betrügen, etwa vor seinem ersten öffentlichen Konzert, vor einem entscheidenden Examen oder vor einem wichtigen Geschäftsgespräch, das über seine berufliche Zukunft entscheidet. Nur wenn er es schafft, die Prüfung erfolgreich zu bestehen, obwohl er verlassen und erniedrigt ist von der geliebten Frau, wird er sie von seiner Liebe überzeugen und sie kommt zu ihm zurück!
Das klingt wie eine Absage an die bedingungslose Liebe und nach üblem Kalkül. Die Begründung für eine solche Haltung bei Žižek ist aber ganz anders: »Das Paradox, das dieser Erfahrung zugrunde liegt, besteht darin, dass Liebe genauso wie das Absolute nicht als ein direktes Ziel angegangen werden kann – sie sollte eher den Status eines nicht intendierten Effekts haben, der uns wie eine unverdiente Gnade trifft!«
Das heißt: Um der Absolutheit der Liebe willen muss man etwas haben oder fingieren, das wichtiger ist als der Partner, denn sonst wird der oder die Geliebte zu einem bloßen Objekt instrumentalisiert, so wie in der ersten und zweiten Antwort auf Žižeks Ausgangsfrage. Es geht dann nur um die Liebe, aber nicht um den Geliebten. Als besonderer eigenständiger Mensch spielt er dann für uns in Wirklichkeit keine Rolle. Die absolute und dauerhafte Liebe, die Žižek vorschwebt, ist dagegen ein »Effekt«, der uns einfach passiert (oder auch nicht) und uns im äußersten Glücksfall ein Leben lang begleitet (oder eben nicht). Die absolute Liebe kann nicht direkt angestrebt werden, weil das Absolute allumfassend ist und daher kein Objekt sein kann, das mir gegenübersteht.
Vielleicht sollte man mal einige von den wenigen gemeinsam alt gewordenen Liebespaaren fragen, warum sie sich nach 50 Jahren immer noch so leidenschaftlich lieben, warum ihre Liebe in dieser langen Zeit nicht gestorben ist, und warum sie nicht an ihrer Liebe gestorben sind. Vielleicht antworten sie dann: weil jeder von uns bereit war, den anderen jederzeit zu verlassen, wenn seine Aufgabe es erforderte. Oder auch nicht.