Читать книгу Dramaturgie des Daseins - Carl Hegemann - Страница 18

2.

Оглавление

Eli Sagan glaubt in seinem Standardwerk Tyrannei und Herrschaft herausgefunden zu haben, dass es einige privilegierte Menschen gab, bei denen es anders lief – Menschen, die die glückliche Allmachtsphase nie verlassen mussten, weil sie ihr Leben lang wie ein Kleinkind behandelt wurden. Sie wurden nicht unsanft herausgerissen aus diesem Zustand, sondern immer weiter darin bestärkt, sie seien alles und die Welt sei nichts ohne sie, während die gegenläufige Erfahrung, dass die Welt alles und sie selber nichts sind, sich außerhalb ihres Horizonts befand. Die Könige in sogenannten komplexen Stammesgesellschaften, die den archaischen Sippenverbänden folgten, werden in Sagans Untersuchung als Personen dargestellt, die in der Allmachtsphase stecken geblieben sind oder festgehalten werden, und die sich mit Zustimmung ihrer Umwelt alles erlauben dürfen, genau wie das Kleinkind auf dem Höhepunkt seines Narzissmus – und zwar mit der Gewissheit, dass ihnen das nicht nur erlaubt ist, sondern sogar von ihnen erwartet wird. Alles ist für sie da, sie dürfen rücksichtslos und unbefangen alle subjektiven Wahrheiten aussprechen, ihre Mitmenschen quälen und beleidigen, sie brauchen nur mit dem Finger zu schnipsen und jeder ihrer Wünsche wird erfüllt, sie dürfen mit jedem Menschen schlafen, wenn ihnen danach ist, sogar mit der eigenen Schwester (nur mit der Mutter nicht). Das Wichtigste ist in den Augen ihres Volkes, dass sie töten dürfen, wen sie wollen und wann sie wollen. »Er allein hat das Recht, uns die Augen auszustechen«, erklären die Anhänger des Königs dem Forscher. Und wenn ein König nicht mehr tötet, machen sich seine Untertanen Sorgen …

Für Sagan gibt es »zwei Indizien, die darauf hindeuten, dass der Drang nach Allmacht in der frühen Kindheit entstanden ist: Man verwöhnte diese Könige unmäßig und erlaubte ihnen die zügellosesten Wutanfälle«. Und das setzte sich im erwachsenen Leben der Könige fort.

Zum königlichen Hofstaat gehörten zahlreiche persönliche Diener des Königs, die streng auf die Befriedigung auch der kleinsten seiner Bedürfnisse achteten. Die Nahrung des Königs, der Tabak des Königs, die Milch des Königs, der Nachttopf des Königs, der Speer des Königs – für alle diese Utensilien sorgte ein besonders beauftragter Beamter. Manche Könige wurden sogar im Schlaf überwacht; anderen war es nicht erlaubt, selbst zu essen; sie mussten von Dienern gefüttert werden. […] Auch in sexuellen Dingen musste der König sich – anders als Erwachsene – nicht übermäßig anstrengen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er brauchte nur einen kleinen Finger zu heben und zu verkünden »Ich will«.

Sagan identifiziert dieses Phänomen mit der »Phantasie des Kleinkindes von der uneingeschränkt nachgiebigen Mutter« und ergänzt: »Die Wutausbrüche des einundzwanzig Monate alten Kleinkinds waren für die Könige der komplexen Gesellschaft ein Gebot strenger Etikette. Wenn du nicht bekommst, was du haben willst, dann schlage wild um dich.« Sagan zeigt aber nicht nur, dass die angehenden Könige auf ihr Amt vorbereitet wurden, indem man sie im Sozialisationsprozess nicht aus der Allmachtsphase entließ, sondern auch, dass sie die Sehnsucht derer verkörpern, die diese Zeit der glücklichen Allmacht schon lange hinter sich haben. »Ein großer Teil der himmelschreienden, sadistischen Grausamkeiten in komplexen Gesellschaften war das Ergebnis der Tatsache, dass es dem König nicht nur erlaubt war, Wutausbrüche zu haben, sondern dass man dies sogar von ihm erwartete.« Vom Volk unterstützt war es ihm also aufgegeben, seine Macht fortwährend im höchsten Maße zu missbrauchen. Solche allmächtigen Könige, die nur solange gute Herrscher waren, wie sie sich asozial und gewalttätig verhielten, und die in den Teppich bissen, wenn sie ihren Willen nicht bekamen, sind heute offenbar – bis auf wenige Ausnahmen, die sich möglicherweise in Nordkorea und in den USA als Karikaturen finden lassen – ausgestorben. An ihre Stelle sind kultivierte Sozialbürokraten getreten, die sich im Rahmen strenger Etikette zur Höflichkeit und Tugend verpflichtet fühlen. Jeden irrationalen Eigenwillen versuchen sie zu unterdrücken, sie leben solche etwaigen Seiten nicht öffentlich, sondern höchstens privat und im Geheimen aus. Es gibt in unserer Gesellschaft niemanden mehr, der unsere Sehnsucht nach der »schönsten Zeit« stellvertretend für uns ausleben könnte. Und es gibt für Menschen, bei denen die Überwindung der Allmachtsphase nicht geglückt ist – weil Elternteile zum Beispiel ihrerseits in der Symbiose mit dem Kind stecken blieben –, keinen Ort, wo sie ihre tyrannischen und narzisstischen Tendenzen nutzbringend einsetzen könnten. Denn selbst die größten Chefs und die reichsten Milliardäre müssen sich an die Gesetze und sozialen Konventionen halten und dürfen niemals öffentlich demonstrieren, dass sie über ihnen stehen.

Dramaturgie des Daseins

Подняться наверх