Читать книгу Im Banne der Essstörung - Carmen Rauscher - Страница 6

Der Anfang

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Man kann nie sagen. wo alles anfing. Es sind immer mehrere Faktoren die dazu beitragen, dass man aus der Bahn gerät. Deshalb werde ich meine Geschichte von meiner Kindheit an erzählen.

Oberflächlich gesehen war ich eher ein braves, ruhiges und schüchternes Kind. Von vier Kindern war ich das Nesthäkchen. Aber genauer betrachtet eher ein Mitläufer in der Familienkette. Ein paar Jahre nachdem ich auf die Welt gekommen bin hat meine Mutter wieder zu arbeiten angefangen.

Meine Eltern waren selbstständig und, wie das nun mal so ist, auch selten zuhause. Wenn ich Probleme in der Schule hatte, bin ich eher zu meinen Geschwistern als zu meinen Eltern gesprungen. Was aber nicht heißen soll dass sie uns Kinder nicht geliebt haben. Im Gegenteil, wir haben immer alles bekommen was wir wollten - aber eben wenig Zeit mit ihnen. Und wenn wir mal Zeit mit ihnen verbrachten, zum Beispiel beim Abendessen, konnte man nicht richtig intensiv mit ihnen sprechen, da wir ständig durch Kundengespräche am Tisch und das ewige Klingeln an der Haustür und am Telefon unterbrochen wurden. Irgendwann wird man dadurch zum Eigenbrödler. Jeder macht sein Ding, man lebt zwar in der Familie läuft aber nebeneinander her. In einer Zeit, wo ich meine Eltern am dringendsten für meine Entwicklung benötigt hätte, waren sie mir emotional so fremd.

Damals konnte ich nicht verstehen, warum meine Eltern nicht viel Zeit für uns hatten. Heute weiß ich, sie haben für uns Kinder gelebt und leben immer noch für uns, damit wir eine bessere Zukunft haben.

Eigentlich wurden wir zur Selbstständigkeit erzogen, zumindest dem Anschein nach, da wir meistens alleine waren. Doch gab es malProbleme, dann hat sie uns unsere Mutter immer sofort abgenommen und erledigt - was aber auch nicht immer gut ist. Man gewöhnt sich zu schnell daran und man lernt erst recht spät, was es heißt, auf eigenen Beinen zu stehen.

Wie schon erwähnt, uns hat es bei meinen Eltern an nichts gefehlt, außer an Aufmerksamkeit und an emotionaler Nähe. Es war damals einfach so, und so habe ich es auch empfunden. Im Grunde war ich als Kind extrem sensibel und schwach. Meine Eltern hätten mir viel mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, aber sie waren mit ihrer Selbstständigkeit viel zu sehr beschäftigt, um nach mir zu schauen. Aber dennoch hat es uns an materiellen Dingen nie gefehlt. Ich habe alles bekommen, was ich mir gewünscht habe, doch die eigentliche Erziehung, die in diesem Alter sehr wichtig gewesen wäre, blieb auf der Strecke.

Ich möchte hiermit meine Eltern nicht verurteilen. Ich beschreibe nur, wie ich die Situation damals und nicht heute empfunden habe.

Irgendetwas ist damals schon schief gelaufen. Ich hab mich einsam gefühlt und mich immer mehr zurückgezogen. Bin oft nach der Schule nach Hause gekommen, saß dann nachmittags alleine in meinem Zimmer und hab so vor mich hin geträumt. Immer seltener habe ich mit meinen Freunden etwas unternommen. Schon als zehnjährige habe ich mir Gedanken um meine Zukunft gemacht, anstatt einfach nur meine Kindheit zu genießen. Aber bei den Gedanken an meine Zukunft ist es nicht geblieben.

Nach einiger Zeit hatte ich dermaßen große Zukunftsängste, dass ich oft in einer Ecke saß und geweint habe. Ständig habe ich mich mit der Frage gequält, was ich wohl in der Zukunft machen werde. Welchen Beruf werde ich erlernen? Werde ich alleine sein oder einen Partner haben? Wo werde ich leben? Werde ich viele Freunde haben oder einsam sein? Werde ich reich oder arm sein? Werde ich Erfolg haben? Oft habe ich andere Kinder beobachtet und mich gefragt: denken diese Kinder auch so wie ich?

All diese Gedanken haben mich fast wahnsinnig gemacht. Um Luft abzulassen habe ich gegessen, ferngesehen, oder in einer Eckegesessen und so lange geweint, bis ich nicht mehr wusste, warum ich eigentlich weinte.

Plötzlich war es geschehen. Mit elf Jahren (1991) hatte ich 85 Kilogramm bei einer Größe von 1,63 Metern auf den Rippen. Ich kann mich noch genau an eine Szene von damals erinnern. Es war spät abends und ich ging ins Badezimmer und habe mich gewogen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. 85 Kilogramm zeigte die Waage an. In meinem Alter und bei meiner Größe war das eindeutig zu viel. Aus lauter Frust und Traurigkeit ging ich an den Kühlschrank und holte mir einen Fleischsalat mit viel Mayonnaise und zwei Brötchen heraus. Dann hab ich mich auf mein Bett gesetzt und angefangen zu essen. Später kam meine Mutter ins Zimmer und wollte mir noch gute Nacht sagen. Ich schaute sie an und musste weinen. Sie wusste nicht, was mit mir los war. Ich meinte dann zu ihr: "Ich bin so fett", aber anscheinend war sie nicht der gleichen Meinung. Sie erwiderte nur: "Nein, bist du nicht". Doch ich wusste, dass ich zu fett war und etwas daran ändern musste.

Somit begann ich schon mit elf Jahren, eine Diät nach der anderen auszuprobieren. Die nächsten zwei Jahre war ich fast ausschließlich damit beschäftigt, Sport zu machen und Diät zu halten. Und ich hatte auch Erfolg. Doch zu welchem Preis! Wenn andere Kinder draußen gespielt oder mit ihrer Familie etwas unternommen haben, stand ich in meinem Zimmer und habe Aerobic gemacht und die nächste Mahlzeit geplant.

Mit 13 Jahren (1993) hatte ich auf 73 Kilogramm abgenommen. Ich habe mich darüber gefreut, aber ich wollte mehr. Ich wollte auch so schlank und normal sein wie die anderen Kinder.

Damals hatte ich eine Freundin, deren Mutter an Bulimie erkrankt war. Von da an glaubte ich, die perfekte Lösung für mein Problem gefunden zu haben. Meine Freundin hat mir davon erzählt, wie man das Fressen und Kotzen praktiziert. Dann habe ich es auch mal ausprobiert - und es war so ekelhaft. Es war erst einmal ein Versuch. Nachdem ich etwas gegessen hatte, bin ich auf das Klo gestürzt und habe mir den Finger in den Hals gesteckt. Am Anfangkam überhaupt nichts. Als ich dann über eine Viertelstunde auf dem Klo hing, bewegte sich doch etwas in meinem Magen, und schon landete die ekelhaft riechende, schleimige Masse in der Kloschüssel. Ein Teil davon verteilte sich noch auf meinem Unterarm. Es war einfach scheußlich. Trotz allem habe ich mir gedacht: Wenn ich auf diese Art und Weise abnehmen kann, dann nehme ich diesen Aufwand in Kauf.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie stolz ich darauf war, zu kotzen. Das erste Vierteljahr bin ich sogar noch ganz euphorisch zu meiner Familie gesprungen und habe ihnen erzählt, dass ich kotze. Doch damit bin ich logischerweise auf Unverständnis gestoßen. Heute weiß ich, was ich damit erreichen wollte. Ich wollte Aufmerksamkeit und Mitleid zugleich erregen. Sie haben es mir verboten. Komischerweise habe ich auch darauf gehört und es erst einmal gelassen.

Doch damit hatte die Sache noch lange kein Ende. Zwar hatte ich seltener Fress- und Kotzattacken, aber ich war immer noch von dem Gedanken besessen, abzunehmen. Als ich mit meinen Diäten nicht mehr abgenommen habe, habe ich angefangen, einfach nichts mehr zu essen. Der längste Zeitraum, den ich durchgehalten habe, waren sechs Tage. Aber natürlich war das nicht einfach. Der Hunger hat mich immer begleitet.

Man kann sich dabei überhaupt nicht mehr konzentrieren, weil einen der Gedanke an das Essen Tag und Nacht verfolgt. Als ich dann wieder einen Tag etwas aß, gab es für mich natürlich auch keine Grenze bei der Nahrungsaufnahme. Ich habe alles gegessen, was mir in die Hände fiel. Nach dieser Fressattacke war ich dann voll gestopft und träge, zugleich aber auch aggressiv und wütend auf mich, weil ich viel zu viel gegessen hatte. Der Gedanke, alles was ich gegessen habe, würde sich in Form von Fett an meinem Körper festsetzen, war unerträglich für mich. Also musste mein Magen wieder durch selbst herbeigeführtes Erbrechen entleert werden. Allerdings kamen diese Attacken zu diesem Zeitpunkt noch selten vor.

Mittlerweile stellten sich auch Probleme in meinem sozialen Umfeld ein. Freunde hatte ich zu diesem Zeitpunkt kaum noch. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um raus zu gehen und mich mit gleichaltrigen Kindern zu treffen. Meine schulischen Leistungen sanken in den Keller, weil ich nicht mehr gelernt, sondern mich nur noch um mein Aussehen gekümmert habe. In der Schule gab es nun auch Sticheleien und Hänseleien gegen mich. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich abgenommen hatte, war ich für mein Alter und meine Größe immer noch zu dick.

Nun kam alles zusammen. Die Pubertät setzte ein. Mein Gesicht war übersät von lauter kleinen, eitrigen Pickelchen. Meine damaligen Schulkameraden haben mich damit natürlich noch zusätzlich gehänselt. Ich musste mir damals einige Sachen anhören: " Du fette Sau, du siehst aus wie ein Streuselkuchen!", "Du bist hässlich!", "Dein Arsch ist so fett wie der von einem Pferd!", und, und, und. Das sind nur kleine Auszüge von dem, was ich mir damals anhören musste. Sie haben mir außerdem immer einen ganz bestimmten Namen zugerufen. Eine ältere Frau in unserem Dorf hieß damals so. Sie war klein, fett und hässlich. Als Kind war das natürlich nicht schön, mit einer solchen Frau verglichen zu werden. Sehr oft bin ich nach Hause gekommen und habe tagelang geweint, weil es mir so wehtat. Über ein Jahr haben mich meine Schulkameraden mit diesem Namen gequält.

Damals kam ich mit den ganzen Sticheleien und Hänseleien einfach nicht klar. Einerseits war ich so angespannt und wütend, und andererseits innerlich so leer und hilflos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um das ertragen zu können. Es war so gemein und ich fragte mich oft, warum mir diese Kinder das antun.

Also habe ich meinem Körper und meinem Aussehen die Schuld gegeben. Nun wollte ich nicht nur abnehmen, sondern schwer krank werden. Deshalb machte ich es mir zum Ziel, an Magersucht zu erkranken. Ich habe mir eingebildet, dass, wenn ich magersüchtig bin, mich alle Menschen um mich herum lieben und Mitleid mit mir haben werden. Ich habe mir immer vorgestellt, wie ich im Krankenhaus liege. Alle Kinder, die mich gehänselt haben, stehen in meiner Vorstellung an meinem Bett und bekommen dann so ein schlechtes Gewissen, weil sie mir all das angetan haben.

Aber soweit war es noch nicht, zunächst war dieses Bild nur ein Wunschgedanke. Also musste mich bis dahin mein Aussehen zufrieden stellen und ich musste versuchen, noch mehr abzunehmen.

Um wenigstens einigermaßen attraktiv auf die Gesellschaft zu wirken, habe ich mich in einigen Dingen eingeschränkt. Ich habe nicht mehr nach mir geschaut, sondern eher danach, wie ich anderen gefallen kann. Das fing schon bei der Kleidung an. Ich habe fast ausschließlich schwarz getragen. Es stimmt schon, dass man dadurch etwas schlanker wirkt, aber wenn man fett ist, dann ist man nun mal fett. Und das bisschen, was man mit der Kleidung kaschieren kann, reißt es auch nicht mehr raus.

Was ich als sehr anstrengend empfunden habe, war der Sommer. Selbst bei 30 Grad im Schatten bin ich mit meinen schwarzen langen Hosen und T-Shirts herumgelaufen. So wenig Haut wie möglich zeigen war die Devise. Der Schweiß rieselte mir den ganzen Körper herunter. Anstatt etwas Leichtes, Luftiges anzuziehen, habe ich die dunkle, lange Variante gewählt, aus Angst, irgendjemand könnte sehen, wie fett ich in Wirklichkeit bin.

Schrecklich, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Ich habe mich damals so sehr eingeschränkt, weil ich viel zu wenig Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl hatte. Ich hatte ständig Angst, nicht zu genügen. Ich bin in Selbstmitleid versunken, habe mich immer ein Level tiefer gestellt, als die anderen. Ich war einfach zu schwach und zu sensibel. Aber das war noch lange nicht alles. Jede Woche hatte meine Klasse abwechselnd Schwimm- und Turnunterricht. Zuhause habe ich so gerne Sport gemacht, aber in der Schule habe ich mich nicht getraut. Alle zwei Wochen kam ich mit einer Entschuldigung, damit ich nicht am Sportunterricht teilnehmen musste. Doch 99 Prozent der Entschuldigungen waren nur Ausreden.

Durch mein fülliges Volumen habe ich mich geschämt, mich in Sportkleidung zu zeigen und mich darin auch noch zu bewegen. Es sah furchtbar aus, wenn ich meine Runden gesprungen bin. Meine Brüste waren fette Ballons, die die ganze Zeit rechts und links ausschwenkten. Durch meine Sporthose konnte man die Cellulite sehen - und ich hatte schon in dem Alter eine sehr starke und hässliche Form der Cellulite. Mein Gesicht war auch ein Fall für sich. Ich habe ein sehr rundes Gesicht, das mit den Fettreserven gut gepolstert war. Bei jeder kleinsten Bewegung haben sich meine Backen selbstständig gemacht. Von den Schwimmunterrichten möchte ich erst gar nicht reden. Der Weg von der Umkleidekabine bis in das Schwimmbecken war das allerschlimmste. Wenn ich im Wasser war, hat es mir aber tatsächlich Spaß gemacht.

Dies sind nur kleine Einblicke in das, wie ich mir mein Leben selbst zur Hölle gemacht habe. Mit der Zeit habe ich mich immer mehr von mir selbst entfernt. Anstatt ich selbst zu sein, einfach mein Teenagerdasein zu genießen, habe ich es bevorzugt, andere zu kopieren. Ich habe mir ein Idol, ein Vorbild, herausgesucht, das alles hatte was ich nicht hatte. Es war ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie war schön, blond, hatte blaue Augen und eine makellose Figur. Viele Jungs aus der Schule sind ihr hinterhergelaufen, weil sie so schön aussah. Bei ihr war alles perfekt. Sie war eine der Klassebesten, hatte viele Freunde, und zu der Zeit schon einen Freund. Selbst die Lehrer haben sie gerne angeschaut. Um alles, was sie hatte, habe ich sie beneidet. Ich habe sie sogar dafür gehasst. Heute weiß ich, warum ich sie all die Jahre auf der Schule gehasst habe: weil ich genau das wollte, was sie hatte.

Dies hat natürlich zusätzlich meinen Abnehmwahn angekurbelt. Ich wollte dadurch meinem Ziel, genauso schön und beliebt zu sein wie sie, näher kommen.

Im Banne der Essstörung

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