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Zwischen meinem 14. und 16. Lebensjahr

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Als ich dann 14 Jahre alt war (1994), haben die Sticheleien und Hänseleien langsam aufgehört und ich habe weitere elf Kilogramm abgenommen. Ich bin auch noch etwas gewachsen und hatte schließlich bei einer Größe von 1,65 Metern ein Gewicht von 62 Kilogramm.

Nun könnte man meinen, es sei wieder alles okay gewesen. Ich hatte ein normales Gewicht erreicht und fühlte mich zum ersten Mal in meiner Haut einigermaßen wohl. Die Situation in meinem sozialen Umfeld hatte sich sehr gebessert. Die Kinder, die mich damals gehänselt hatten, sind erstaunlicherweise zu Freunden geworden, mit denen ich viel unternommen habe. Oberflächlich gesehen war nun wieder alles in Ordnung. Ich hatte meine Akne einigermaßen unter Kontrolle, mein Gewicht war normal und ich hatte wieder Freunde. Doch die vorherigen Jahre haben Spuren auf meiner Seele hinter lassen. Mit 14 Jahren sind meine Ess- Brech- Anfälle wieder häufiger geworden. Über mehrere Wochen hatte ich täglich drei bis vier Attacken. Natürlich wollte ich noch weiter abnehmen, immer noch war ich besessen von dem Gedanken, spindeldürr zu sein. Über die Risiken, die dabei eine sehr große Rolle spielen, habe ich mir keine Gedanken gemacht. Häufig hatte ich mit Schwindel und Schwächeanfällen zu kämpfen. Den ganzen Tag über war ich total müde und schwach und nachts litt ich unter Schlaflosigkeit. Wenn ich mal geschlafen habe, hatte ich fast immer Alpträume. Sehr oft habe ich sogar von meinen Fress- und Kotzattacken geträumt. Immer wenn ich mit dem Kopf über der Kloschüssel hing, bin ich aufgewacht.

Immer stärker hatte ich das Gefühl, dass sich ein Teil von mir entfernt. Ich stand sozusagen neben mir, ich war nicht mehr ich selbst. Auch meine Gefühle konnte ich nicht mehr ordnen. Das war sehr, sehr schlimm für mich. Egal was passierte, sei es etwas schlimmes oder etwas schönes, ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht mehr sagen, ob ich mich freue oder nicht, ob ich unglücklich binoder glücklich. Oft hatte ich das Gefühl, jemand anders lebt in mir und steuert mich. Wenn andere gelacht haben, habe ich auch mitgelacht, wusste aber nicht warum. So langsam hat sich eine innere Leere in mir entwickelt, mit der ich überhaupt nicht umgehen konnte.

Mit der Zeit habe ich angefangen, mir Schmerzen zuzufügen. Ich wollte wenigstens irgendetwas spüren und mich dafür bestrafen, wie ich mein Leben bisher gelebt und dass ich keine Lösung für meine Probleme gefunden habe.

Am Anfang habe ich mir mit einer Nadel kleine Risse in meine Unterarme geritzt. Wenn ich im Sommer Mückenstiche an den Beinen hatte, habe ich solange herum gekratzt, bis das Blut aus der Haut herausschoss. Das allerschlimmste und schmerzhafteste was ich mir durch die Schnippelei je angetan habe, waren zwei große, lange, tiefe Schnittwunden an meinem Unterarm. Dabei habe ich eine große Schere zu Hilfe genommen. Am Ende der Spitze fehlte ein Stück auf der Schnittfläche, sodass es wie ein Haken aussah. Den Haken bohrte ich in die Haut hinein, biss auf die Zähne und zog mit meiner ganzen Wut in Richtung Finger. Somit entstand eine 8 Zentimeter lange und sehr tiefe Wunde. Aber das hatte nicht gereicht. Ein paar Minuten später setzte ich die Schere noch mal an und zog mir eine zweite Schnittwunde zu. Bevor ich diese Aktion gestartet habe, hatte ich etwas Alkohol getrunken, somit konnte ich die Schmerzen nicht zu sehr spüren. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie alles ablief. Ich saß in meinem Kinderzimmer auf dem Bett und habe diesen Prozess vollzogen. Als alles vorbei war und sich schon die ersten Bluttropfen am Boden sammelten, kam meine Mutter herein. Aus ihrer ganzen Hilflosigkeit hat sie angefangen zu weinen und hat sofort nach meinem Vater geschrieen. Der kam angesprungen und machte gerade das Gegenteil von meiner Mutter. Er wusste auch nicht mehr was er tun sollte und brüllte im ganzen Zimmer herum.

Aber versetzen wir uns mal in die Lage der Eltern. Plötzlich und aus heiterem Himmel entdecken sie, wie sich ihre Tochter selbstzerstört. Das erste, was man in dieser Situation macht, ist, aus der ganzen Verzweiflung und Hilflosigkeit heraus entweder zu schreien oder zu weinen. Welche Eltern gehen schon diplomatisch und ruhig an die Sache ran, wenn sie so etwas sehen. So gut wie keine. Und wenn, dann haben sie zu wenig Gefühl gegenüber ihrem Kind.

Ich vermute mal, ich wollte meinen Eltern mit dieser Aktion zeigen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Ich wollte, dass sie sich mehr um mich kümmern. Aber so genau wusste ich auch nicht, was ich damit wollte. Also, wenn ich selbst schon nicht wusste was mit mir los war, wie sollten es dann meine Eltern wissen.

Am nächsten Tag ging ich total fertig und zerstreut in die Schule. Saß wie in Trance auf meinem Stuhl. Meine Wunde hatte ich mir mit ganz viel Salbe und einem Verband versorgt. Mein Klassenlehrer kam auf mich zu und fragte mich, ob alles okay sei. Ich stellte mich so an als ob nichts passiert wäre. Später habe ich dann erfahren, dass meine Mutter in der Schule angerufen und zu dem Lehrer gesagt hat, dass er ein Auge auf mich haben soll, nicht dass noch mehr passiert.

In diesem Alter hatte eine sehr rebellische und stürmische Zeit begonnen. Nun war ich nicht mehr das brave, schüchterne Mädchen, sondern ein Kind, das alles tat, was es nicht tun sollte.

Damals habe ich mich mit den Jungs aus meiner Klasse getroffen und das Rauchen ausprobiert. Aber wenn ich schon damals gewusst hätte, wie abhängig das Zeug einen macht, hätte ich es lieber gelassen.

In dieser Zeit begann auch meine Sturm- und Drangzeit. Ich bin mit meinen Freunden auf fast jedes Fest in unserer Umgebung gegangen. Diese Gelegenheit habe ich dann dazu genutzt, mich sinnlos mit Alkohol zu betrinken. Ich fand es toll, mir in meinem Vollrausch mal keine Gedanken über meine Fress- und Kotzattacken zu machen, sondern einfach nur lustig zu sein. Später hat man mir den Namen Rauschkugel gegeben, weil ich immer soviel getrunken habe. Allerdings sollte das kein Name sein, worauf man stolz ist, ich war es damals aber. Zum ersten Mal stand ich im Mittelpunkt und ich habe es in vollen Zügen genossen. Selbst die Eltern meiner Freundinnen haben es nicht gerne gesehen wenn sie mit mir etwas unternommen haben, weil ich geraucht und ab und zu Alkohol getrunken habe, aber das war mir egal. Nun genoss ich mein Teenagerdasein. Selbst das Mädchen aus meiner Klasse, das ich so beneidet habe, stand nicht mehr so im Mittelpunkt. Nun war ich dran.

Auf meine Eltern habe ich nicht mehr gehört, ich hab gemacht was ich wollte. Wenn sie zu mir sagten, ich darf nur bis 22 Uhr wegbleiben, hab ich immer eine Stunde drangesetzt. Ich dachte mir immer: Wird schon nicht so schlimm sein, sie meinen es ja bestimmt nicht so. Aber ich denke mal schon, dass sie sich etwas dabei gedacht haben.

Ich machte zu der Zeit mehrere schlimme Phasen durch, begleitet von Selbstmordgedanken. Zum einen wollte ich an Magersucht erkranken, damit alle Mitleid mit mir bekommen und sich Selbstvorwürfe machen. Zum anderen wollte ich ein schnelles Ende haben und habe einige Sachen durchdacht, wie ich mich umbringen könnte.

An eine Situation kann ich mich noch gut erinnern: Es war mal wieder soweit, das Leben schien mir aussichtslos und sinnlos zu sein. Neben meinem Elternhaus gab es ein älteres Haus mit einem alten Dachboden mit Heu. An der Leiter, die am Boden befestigt war, stieg ich hoch. Als ich dann auf dem Stroh oben auf dem Dachboden saß, schaute ich herunter. Nun war mir aber nicht mehr so ganz wohl bei der ganzen Sache. Auf einmal habe ich Angst davor bekommen, dem ganzen ein Ende zu setzen. Aber ich bin dann doch gesprungen. Und worauf bin ich gefallen!? Nicht auf den blanken, harten Scheunenboden, sondern in einen Heuballen hinein. Und was war passiert!? Nichts, fast nicht. Ich bin mit einem verstauchten Knöchel davongekommen. Heute muss ich sagen: zum Glück. Ich glaube auch nicht, dass ich mich wirklich umbringen wollte, ich wollte nur ein Zeichen setzen, um Hilfe schreien, dass man sich mehr um mich kümmert.

Natürlich hat meine Familie bemerkt, dass ich zum einen sehr labil und zum anderen sehr aggressiv war. Sie haben sich Sorgen gemacht. Als ich dann aus dem Dachboden herausgekommen bin, haben schon alle meine Geschwister nach mir gesucht. Ich wollte aber einfach nur noch in Ruhe gelassen werden.

Mit 15 Jahren (1995) sind meine Fress- und Kotzattacken teilweise sehr stark und häufig vorgekommen. Und irgendwie habe ich auch selbst bemerkt, wie ich mich langsam von der Realität entfernte. Ich hatte ständig merkwürdige Gedanken, die nicht normal waren. Natürlich wusste ich, dass die Essstörung nicht gut ist, aber es sein lassen konnte ich auch nicht mehr. Ich hatte damit angefangen und wollte es auch zu Ende bringen.

Auf die Fressanfälle werde ich später noch intensiver eingehen. Mir ist erst einmal wichtig, wie so eine Essstörung entstehen kann. Aber es sei an diesem Punkt noch einmal gesagt, dass die Ursache von Fall zu Fall unterschiedlich und individuell ausfallen kann. Man kann nie sagen, dass eine Essstörung genau aus dem und dem Grund entsteht und es so bei allen ist. Das wäre falsch.

Ich war ich tagtäglich von dem Gedanken besessen, dem weiblichen Ideal "schön, schlank und erfolgreich" näher kommen zu müssen. Und ich hasste mich für diesen Gedanken, weil ich mich blenden ließ und mehr Zeit dafür verschwendete, Leute zu kopieren und neidisch auf sie zu sein, anstatt, meine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu entdecken. Heute ist das leichter gesagt als früher getan. Ich war sehr leicht beeinflussbar von der Gesellschaft und das hat mich fast ins Grab gebracht.

Doch mit der Zeit habe ich bemerkt, dass ich ein Problem mit der Bulimie bekommen habe. Was am Anfang noch so einfach war, musste ich nun verheimlichen, damit es keiner mitbekommt. Im Sommer 1995 hatte ich die Schule gewechselt und das hat mir ziemlich zugesetzt. Dort kannte ich nur zwei Personen, und die konnte ich nicht mal leiden. Also haben sich meine Anfälle gehäuft. Nach der Schule bin ich sofort nach Hause und hatte meine Anfälle. Unternommen habe ich so gut wie überhaupt nichts mehr. Ich saßjeden Tag alleine zuhause, ich hatte ja niemanden mehr. Die Freundschaften zu meinen alten Schulkameraden haben sich so langsam aufgelöst. Ich habe mich sehr einsam und schlecht gefühlt. Das einzige, was ich dann noch hatte, war meine Bulimie. Und an die klammerte ich mich auf einmal so sehr, weil sie mir gehörte. Und ich tat alles dafür, damit es keiner erfahren konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die totale Kontrolle über eine Sache, die nur mir gehörte. Man kann sagen, dass die Krankheit zu meinem Freund geworden war. Kontrollzwang ist ein typisches Symptom für an Bulimie erkrankte Menschen. So lange sie die Kontrolle haben läuft alles gut - aber wehe es kommt etwas auf sie zu, das diese Kontrolle zerschlagen könnte.

Zu dieser Zeit zog meine allerbeste Freundin in eine andere Gegend und der Kontakt ihrerseits hat sich immer mehr entfernt. Sie war die einzige Person gewesen, wo ich mich total wohl gefühlt habe. Sie war wie eine große Schwester. Es tat mir so weh, dass sie umgezogen ist. Als sie sich noch nicht mal gemeldet hat, fühlte ich mich total alleingelassen. Und wieder einmal hat sich der Gedanke bei mir verstärkt, sterben zu wollen. Ich hatte keine Perspektiven. Ich stellte mir viele Fragen: "Warum gehe ich auf die Schule wenn ich sowieso nicht weiß welchen Beruf ich ergreifen möchte?", "Warum und für wen lebe ich eigentlich? Ich habe eh keine Freunde und nicht einmal einen Freund, für den es sich lohnt zu leben.". Ständig habe ich mir solche Fragen gestellt. Und dabei dachte ich nur so still vor mich hin: "Ich werde es euch allen schon zeigen! Wenn ich mal tot bin, dann werdet ihr alle ein schlechtes Gewissen haben!". Doch dann dachte ich mir, wem ich es jetzt noch zeigen möchte, es war eh keiner mehr da dem ich ein schlechtes Gewissen hätte machen können. Aber um jetzt noch zurückzugehen und die Bulimie rückgängig zu machen, war es schon zu spät. Ich war schon abhängig davon und es war inzwischen auch schon ein Halt für mich geworden. Ich lebte in dieser Zeit nur noch für die Bulimie.

Im Banne der Essstörung

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