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Im fortgeschrittenem Stadium der Bulimie

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Zwischen meinem 16. und 17. Lebensjahr (1996-1997) war eigentlich eine ruhige Zeit. Ich war im letzten Schuljahr einer weiterführenden Schule und habe mich so einigermaßen gut eingelebt. Sogar neue Freunde habe ich gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstand. Allerdings hatte ich wieder etwas zugenommen, was mir so gar nicht passte. Meine Fress- und Kotzattacken sind also trotz allem nicht weniger geworden. So langsam hatte ich mich schon daran gewöhnt. Die Krankheit war inzwischen ein Teil von mir geworden. Und ich wollte auch nichts dagegen unternehmen und diesen aufgeben.

Während meines 17. Lebensjahrs ist ein weiterer tiefer Schlag in meinem Leben geschehen. In diesem Jahr, 1997, hatte ich meine Abschlussprüfung, die ich, mit kleineren Einschränkungen durch meine Krankheit, gut gemeistert habe. Nun wusste ich aber auch nicht, wie es weitergehen sollte. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht ob ich nun eine Ausbildung anfangen, oder ob ich noch einmal die Schulbank für ein paar Jahre drücken sollte. Ich habe mich für die Schule entschieden, auf der auch meine Schwester war. Aber eigentlich fragte, ich mich was ich auf der Schule überhaupt verloren hatte.

Nun fing alles wieder von Vorne an. Ich musste mich wieder neu einleben und Freunde finden. Womit ich mich sowieso so schwer getan habe. Ich habe mich wirklich gefragt, mit welchem Ziel ich eigentlich auf diese Schule gegangen bin. Weil ich nicht wusste welchen Beruf ich ergreifen soll? Damit ich erst einmal die nächsten vier Jahre aufgeräumt bin? Ich weiß es nicht. Meine Eltern waren von Anfang an dagegen, dass ich auf die Schule gehe, aber was hätte ich stattdessen machen sollen?

Schon nach ein paar Tagen auf der Schule fingen die ersten Probleme an. Zum einen kam ich mit dem Schulstoff nicht hinterher. Ich habe nichts von dem, was die Lehrer gesagt haben, verstanden. Meine Konzentration war auf einem Tiefpunkt angelangt. Ich wurde ständig von anderen Gedanken abgelenkt: "Werde ich neue Freunde finden?", "Mögen mich die Leute in meiner Klasse?", "Finden sie mich schön?". Wer solche Gedanken hat, kann sich natürlich nicht auf den Schulstoff konzentrieren. Jedes Mal, wenn ich in die Schule gegangen bin, hatte ich wahnsinniges Herzrasen und habe angefangen zu zittern. Die Angst davor, zu versagen oder nicht geliebt zu werden, war so unerträglich. Fast jeden Abend habe ich mich bei meiner Schwester ausgeweint, dass ich es nicht schaffen werde. Sie hat versucht mich zu trösten, aber es gelang ihr nicht. Dann habe ich wieder angefangen, die Schule zu schwänzen - was keine Lösung für das Problem war, sondern ein größeres Hindernis um mit dem Schulstoff mitzukommen. Dann hatte ich ein sehr schlimmes Erlebnis während einer Schulstunde. Dieses Erlebnis verfolgt mich heute noch teilweise und ich werde niemals vergessen, wie der Lehrer mich damals behandelt hat. Davon möchte ich ein bisschen erzählen.

Der Lehrer war schon dafür bekannt, seine Schüler hart ran zu nehmen. Nun hatte es auch mich getroffen. In dieser Stunde mussten wir ein Diagramm erläutern. Dazu hat er jemanden aufgerufen, und ich war nun an der Reihe, dies zu tun. Ich schaute also in mein Chemiebuch hinein, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mehr als ein Gestotter, das überhaupt keinen Sinn hatte, kam nicht aus mir heraus. Dementsprechend, aber im Grunde auch sehr überzogen, hat dann auch der Lehrer reagiert. Dafür hasse ich ihn heute noch. Er hat mich vor der ganzen Klasse angeschrieen, wie dumm ich doch sei und wie ich überhaupt die Schule schaffen möchte. Es hat mir sehr zugesetzt, vor der ganzen Klasse beleidigt zu werden, und mir persönlich war es auch sehr peinlich. Doch was macht man, wenn man nur sehr wenig Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und ein geringes Selbstwertgefühl hat? Man glaubt fastalles, was einem gesagt wird. Ich habe letztendlich auch geglaubt, dass ich zu dumm für die Schule bin. Dies war mein letzter Tag auf dieser Schule. Es war auch eine Flucht. Ich hätte mich auch den Problemen stellen können, mich mehr anstrengen können. Aber ich hab den Sinn darin, überhaupt auf diese Schule zu gehen, nicht gesehen. Wenn man es genauer betrachtet, wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte. Ohne zu überlegen was ich in meiner Zukunft machen und erreichen möchte habe ich mich auf der Schule angemeldet.

So, nun war der Ärger natürlich groß. Nun saß ich auf der Straße. Habe die Schule abgebrochen und wusste selbst nicht mehr, wie es weitergehen soll. Bei einer Flucht ist man erst einmal erleichtert, wenn man vor den Problemen flieht, aber man flieht bei einer Flucht auch ohne Ziel. So war es letztendlich auch bei mir. Nun war ich 17 Jahre alt und wusste nicht einmal, welchen Beruf ich ergreifen möchte. Also habe ich erst ein- zweimal die Woche in einem Supermarkt als Regalauffüllerin gearbeitet. Und ich konnte meine Essstörung in vollen Zügen auskosten. Soziale Kontakte und Freunde hatte ich zu der Zeit überhaupt nicht mehr. Das einzig Interessante für mich war zu der Zeit nur noch meine Essstörung. Nicht einmal um meine Zukunft habe ich mir Gedanken gemacht, sie war mir egal und der Wunsch des Sterbens wurde immer größer. Ich verkapselte mich immer mehr in mich selbst und bin nur noch selten unter Menschen gegangen. Ich habe immer mehr Angst vor Menschen bekommen, die mich beleidigen oder über mich reden könnten, also bin ich lieber zu Hause geblieben. Meine Bulimie hatte zu der Zeit ihren Höhepunkt erreicht. Drei bis vier Fress- und Kotzattacken täglich waren keine Seltenheit mehr.

Um mal einen Einblick zu bekommen, wie ein Tag einer Bulimie Kranken ablaufen kann, beschreibe ich jetzt einen kompletten Tagesablauf. Ich muss aber immer wieder dazusagen dass es meine Erfahrung war. Diese Krankheit ist so individuell, deshalb lässt sie sich auch so schwierig behandeln. Jeder Erkrankte erlebt diese Sucht auf seine Art und Weise. Hier nun mein Tagesablauf:

Meistens bin ich aufgestanden, wenn alle von meiner Familie gerade auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich hatte extreme Schuldgefühle, weil ich zu Hause war und nichts arbeitete und sie mussten jeden Tag hart arbeiten. Sobald sie aus dem Haus waren, habe ich mich wieder für zwei Stunden hingelegt. Als ich dann wieder aufwachte, ging ich auf die Suche nach Nahrung. Nahrung war für mich nicht gleich Nahrung um zu überleben. Nein, Nahrung war für mich Mittel zum Zweck, um meine innere Leere und Hoffnungslosigkeit zu füllen oder zu unterdrücken.

Wenn nicht genügend Essen zuhause war, habe ich Geld von meiner Mutter genommen und bin dann in unseren Tante-Emma- Laden im Dorf gegangen. Dort habe ich dann auch schnell mal 40,- DM (damals noch DM) liegen gelassen. Voll gepackt und glücklich bin ich dann nach Hause gelaufen. Mein Vater war meistens zuhause in seinem Büro. Er hat nie etwas bemerkt. Dann habe ich mir das ganze Essen zubereitet. Und mir alles auf meinen Schreibtisch gestellt. Es musste auch immer ein Liter Flüssigkeit bereit stehen, den ich dann nach dem Essen getrunken habe. Durch die große Menge Flüssigkeit konnte die große Masse an Nahrung leichter erbrochen werden. Jeder wird sich jetzt bestimmt fragen, wie so eine Masse an Nahrung aussieht. Ein kleiner Einblick dazu: ein halber geschnittener Brotlaib, bestrichen mit viel Butter, drei bis vier Scheiben Schinken pro Brotscheibe, zweimal Käse, ein Glas Nutella, ein gehäufter Teller Spaghetti Bolognese mit Käse, dazu noch ein Liter Flüssigkeit. An einen Fress- und Kotzanfall kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich habe einmal eine komplette Eistorte von 1,2 Kilogramm gegessen und diese dann auch sofort erbrechen müssen, weil die Spannung im Magen so groß geworden war. Bei den Fressanfällen ist es so, dass man isst so viel man kann, bis man nicht mehr gerade stehen kann. Es ist wirklich so, man isst so viel, bis das Essen fast schon von alleine hochkommt. Wenn man dann so eine Masse gegessen hat, ist man nicht mehr in der Lage, gerade zu stehen und man muss sofort erbrechen, weil es unerträglich und teilweise auch schmerzhaft ist, so eine Masse im Magen zu haben.

Es gibt auch Vorlieben bei den Lebensmitteln, die Bulimiekranke zu sich nehmen, wie zum Beispiel Spaghetti, Eis oder Pudding. Warum gibt es Vorlieben? Weil diese Lebensmittel leichter zu erbrechen sind. Sie rutschen schneller aus dem Magen heraus. Es gibt auch Sachen, die nicht gerne gegessen werden, und wenn, dann in Verbindung mit anderen Sachen. Das sind jetzt zum Beispiel schwere Kuchen, wie Gugelhupf oder Marmorkuchen, oder Schokolade. Diese Sachen kleben dermaßen im Magen fest und es ist sehr anstrengend, diese wieder hoch zu würgen. Wie schon gesagt, dies sind meine Erfahrungen und ich habe auch mit anderen an Bulimie erkrankten Menschen gesprochen, denen es ungefähr genauso ergangen ist. Aber dennoch macht jeder seine eigenen Erfahrungen.

Dies war jetzt erst einmal ein Ausschnitt, wie so ein Anfall ablaufen kann. Aber er ist noch nicht zu Ende. Nun stellt sich die Frage, wo man ungestört erbrechen kann. Bei mir war es einfach. Weil bis auf meinen Vater niemand zuhause war, konnte ich fast überall. Am Anfang habe ich noch ins Waschbecken im Bad erbrochen, aber mit der Zeit hat man das auch aus den Rohren gerochen. Letztendlich waren nur noch die Toiletten übrig. Wir hatten zwei Bäder. Eines gehörte meiner Schwester und meinem Bruder. Mein Vater ging dort selten hin. Also bevorzugte ich dieses Badezimmer. Nun brauchte ich natürlich eine Geräuschkulisse, damit man das Würgen und Kotzen nicht hören konnte. Also ließ ich mir während des Kotzens fast immer ein Schaumbad ein und ließ die Wasserhähne am Waschbecken so lange laufen, bis ich erbrochen hatte. Nun war alles vorbereitet, ich kniete mich über die Toilette, stützte mich mit der linken Hand am WC- Rand ab und steckte die rechte Hand in den Mund. Zwei Finger steckte ich so weit wie möglich in den Rachen hinein.

Manchmal dauerte es einen Moment bis etwas kam. Wenn ich nicht erbrechen konnte, stellte ich mir etwas Ekelhaftes vor. Schon der Gedanke daran war für mich so ekelhaft, dass es mir schon alleine davon hochkam. Als es dann soweit war, spritzte das Erbrochene nur so über mein Handgelenk und landete letztendlich in der Kloschüssel. Der Geruch von dem Erbrochenen war so was von ekelhaft. Jeder hat einmal in seinem Leben erbrechen müssen und kann nachvollziehen, wie so etwas riecht. Damit keine Reste irgendwo in der Toilette zu erkennen waren, habe ich auf das Erbrochene immer ein Häufchen Toilettenpapier gelegt, damit alles heruntergespült wird. Dann habe ich mir meine Hände dreimal gewaschen, weil der Geruch von Erbrochenem genauso gut an den Händen haften bleibt, wie wenn man Zwiebeln schneidet. Bei Zwiebeln riechen die Hände auch noch am nächsten Tag. Gar so schlimm ist es bei Erbrochenem aber nicht. Nach jedem Kotzanfall habe ich die Toilette gründlich gereinigt, weil der Geruch auch an den Armaturen haftete. Ich versuchte so gut es geht, meine Spuren zu verwischen.

Nach all den Anstrengungen habe ich mich mit meiner Leichtigkeit in mein zuvor eingelassenes Badewasser hineingelegt und schon den nächsten Fress- und Kotzanfall geplant. Und was war, wenn alle Bäder belegt waren und ich einmal einen Anfall abends bekam, wenn die ganze Familie zuhause war? Natürlich wird man mit so einer Krankheit erfinderisch und man hat auch in so einem Fall eine Alternative. In meinem Kinderzimmer hatte ich einen Schreibtisch, worin ein kleines Schränkchen integriert war, das sich auch verschließen ließ. Darin habe ich immer einen kleinen Eimer und mehrere Handtücher versteckt. Wenn ich dann einen Anfall hatte, sagte ich zu meiner Familie immer: "Ich mache Aerobic in meinem Zimmer". Wenn ich dann erbrochen habe, habe ich mir die großen Boxen von meiner Stereoanlage so zurechtgestellt, dass ich dahinter meinen Eimer hinstellen und in Ruhe kotzen konnte. Die Musik der Anlage habe ich dann so laut gemacht, dass es fast schon unmöglich war, mich zu hören. Danach habe ich mir meine Hände mit einem Handtuch abgewischt, das Handtuch auf den Eimer gelegt, damit der Geruch nicht so schnell weichen kann, und den Eimer dann in das kleine Schränkchen gestellt und abgeschlossen. Nachts, wenn alle geschlafen haben, habe ich mir den Eimer genommen und das Erbrochene in die Toilette geschüttet. Anschließend musste ich auchdort die Toilette gründlich reinigen. Dieser Geruch ist so penetrant, man riecht es, wenn man nicht aufpasst und alles danach reinigt und Duftsprays versprüht. Auch meine Kotzhandtücher habe ich nicht meiner Mutter in die Wäsche gegeben. Sie hätte es gerochen. Entweder habe ich die Handtücher von Hand gewaschen oder ich habe selbst eine Waschmaschine gefüllt. Wenn man so eine Krankheit hat, wird man mit der Zeit immer vorsichtiger und weiß genau, wie man wann und wo erbrechen kann, ohne Spuren zu hinterlassen.

Jetzt habe ich nur darüber gesprochen, wie so ein Anfall bei mir ablief, aber über meine Gefühle und Gedanken habe ich kein Wort verloren. Gedanken hatte ich aber auch keine. Ich war vor jedem Anfall nur sehr aufgeregt, weil ich auch Angst davor hatte, erwischt zu werden. Das war eigentlich das allerschlimmste. Erwischt zu werden.

Ich hatte zwar Gefühle, aber die waren nur mit Leere und Einsamkeit gefüllt. Wenn ich einen Anfall hatte, war ich abgelenkt und beschäftigt. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass die Nahrung meine Leere und Einsamkeit ersetzt. Wenn mein Magen voll war, fühlte ich mich wirklich nicht mehr einsam und leer. Erst nachdem ich erbrochen hatte fühlte ich mich wieder wie vorher. Es veränderte sich überhaupt nichts. Nur, dass ich während eines Anfalls diese Gefühle nicht mehr hatte.

Man kann sehen, dass diese Fress- und Kotzattacken fast den ganzen Tag in Anspruch genommen haben. Die restliche Zeit habe ich ferngesehen, Wäsche gewaschen oder aufgeräumt. Mehr passierte nicht in meinem Leben. Um meine Zukunft habe ich mich ja auch nicht mehr gekümmert. Ich versank regelrecht in Selbstmitleid und in einer großen Hoffnungslosigkeit. Das einzige, was mir geblieben war, dachte ich, wäre meine Essstörung. Deshalb musste ich wenigstens darin Erfolg haben, wenn sonst nichts da war.

Jetzt habe ich einen Anfall mit den dazugehörigen Gefühlen und Gedanken beschrieben. Aber was ich noch wichtig zu wisse finde ist, wie viel eigentlich so eine Krankheit im Monat kostet. Darüber machen sich wenige Gedanken. Das ist genauso wie mit dem Rauchen, man hat zwar kein Geld, aber für Zigaretten hat man immer genügend. Lieber spart man an einer anderen Stelle. Nun bin ich hergegangen und habe es mir mal ausgerechnet, wie viel die Anfälle auf einen Monat umgerechnet kosten. Pro Anfall bin ich auf mindestens 5,- € gekommen. Wenn man zum Beispiel zwei große Pizzen mit Getränk verdrückt, ist man schnell bei 5,- €, wenn nicht noch mehr. Das wären dann 10,- € pro Tag, bei zwei Fressanfällen. Auf den Monat mit 30 Tagen umgerechnet also 300,- €. Wenn wir uns mal den Spaß erlauben, dies auf ein ganzes Jahr umzurechnen, kommen wir dann auf 3600,- €. Das ist doch eine hübsche Anzahlung für einen Neuwagen. Wenn ich die ganzen Jahre umrechne - ich war ja sechs Jahre an der Bulimie erkrankt - dann komme ich auf ungefähr 21600,- €, die ich in die Kloschüssel gekotzt habe. Ein erschreckender Gedanke. Mit diesem Geld kann man sich beinahe eine A-Klasse kaufen. Aber was noch schlimmer ist, es war nicht mein Geld, dass ich den Abfluss runter gespült habe. Es war das Geld meiner Eltern.

Viele Leute fragen sich, wovon man denn leben soll, wenn man alles gegessene erbricht und dann ja nichts mehr im Magen hat. Bei mir war es so: wenn ich etwas zufriedener mit meinem Leben war, habe ich weniger Anfälle bekommen. Wenn ich aber wieder total unsicher und traurig war, sind auch die Anfälle wieder häufiger geworden. Aber von was habe ich mich nun ernährt, wenn ich keine Anfälle hatte? Ich habe ganz normal wie jeder andere gegessen. Mal gesund, mal weniger gesund. Aber es durfte nicht zuviel sein, sonst war ein Anfall wieder vorprogrammiert. Wenn ich jetzt gesagt habe, dass ich nur einen Teller esse, und es dann letztendlich doch mehr geworden ist, dann hatte ich das Gefühl, dass ich nicht einmal eine Essstörung auf die Reihe bekomme. Aus lauter Wut und Hass über die Schwäche, dass ich mich nicht zügeln konnte, habe ich dann einen Anfall bekommen.

Doch manchmal geht das auch nicht, zum Beispiel wenn man auf einer Familienfeier ist. Das war sowieso immer ein schlimmer Tag. Dort konnte ich auf gar keinen Fall auf die Toilette gehen underbrechen, das wäre zu auffällig geworden. Selbst nach Stunden, wenn wir alle wieder zuhause waren, habe ich in der Nacht noch einen Fress- und Kotzanfall bekommen. Der Gedanke daran, dass die ganze fettige Menge, die ich gegessen habe, verdaut wird, war erschreckend für mich.

Natürlich zieht so eine Krankheit wie die Bulimie nicht spurlos an einem vorüber. Über meine physischen Probleme möchte ich jetzt ein bisschen erzählen. Ich bin keine Ärztin, ich möchte, wie schon gesagt, von meiner persönlichen Erfahrung berichten, aber es gibt auch viele Parallelen zwischen den an Bulimie erkrankten Menschen.

Zum einen hatte ich oft Schwierigkeiten mit meinem Kreislauf. Ich hatte oft Schwäche- und Schwindelanfälle. Wenn ich mit Leuten gesprochen habe, war es häufig so, dass mir dann schlagartig schwarz vor Augen wurde. Teilweise habe ich sogar weiter mit den Leuten gesprochen, obwohl ich sie schon gar nicht mehr sehen konnte, so schwarz war mir vor Augen. Dann hatte ich auch oft einen Druck auf meinen Ohren bekommen und hatte das Gefühl, Ameisen durchströmten meinen Schädel. Ich bin dann immer ganz ruhig stehen geblieben, oder habe mich hingesetzt, bis dieser Zustand vorbei war. Er hielt ungefähr drei bis vier Minuten an.

Während eines Anfalles passierten auch einige interessante Sachen. Durch das Würgen der Nahrung schoss mir das ganze Blut in den Kopf, sodass ich nach dem Erbrechen wie ein Hamster aussah. Ich hatte dann extrem geschwollene Augen, als hätte ich nächtelang durchgeweint. Mein Gesicht war so geschwollen wie ein Gummiball. Deshalb kann man auch an Bulimikern so gut erkennen, wenn sie gerade einen Anfall hatten. Diese Schwellungen gehen aber nach einiger Zeit wieder zurück. Auch meine Mundwinkel waren immer sehr entzündet, wenn ich meine Anfälle sehr oft hatte.

Auch die Konzentration ließ stark nach. Bei mir hatte es zum einen auch mit der Krankheit zu tun, und zum anderen konnte ich an fast nichts mehr denken, als an meine Essstörung. Ständig kreisten mir Bilder im Kopf herum, was ich als nächstes Essen könnte.

Es war ja wie ein nie endender Kreislauf. Ich war hungrig, habe etwas gegessen, wieder erbrochen, und dann hatte ich wieder Hunger, weil ja nichts mehr im Magen war.

Dies hier waren nur ein paar Einblicke in das, was ich an mir erkannt habe, welchen Einfluss eine Bulimie auf den Körper haben kann. Es gibt bestimmt noch einige andere körperliche Auffälligkeiten, aber dazu können Sie ja ein Fachbuch nehmen. Ob alles so stimmt, wie es beschrieben wird, können nur die wirklich betroffenen Menschen sagen, die diese Krankheit durchlebt haben. Und es soll ja meine persönliche Erfahrung sein und kein Fachbuch werden.

Außer meiner Bulimie hatte ich also gar nichts mehr. Der Wunsch, magersüchtig zu werden und zu sterben, war zu der Zeit wieder sehr aktuell. Langsam habe ich damit angefangen, noch mehr in die Krankheit zu rutschen, als ich eh schon drin war. Ich hatte ja sowieso nichts anderes zu tun. Meine Zukunft war mir egal, für mich war alles schon gelaufen. Ich bereitete mir meinen Tod vor. Nun habe ich damit angefangen, Zeitungsausschnitte von schönen und erfolgreichen Frauen zu sammeln. Diese Zeitungsausschnitte habe ich alle in ein großes Buch geklebt und dieses wie einen großen Schatz behandelt. Ich hatte drei Frauen, die meine Vorbilder waren, und von denen ich auch die Zeitungsartikel und Bilder gesammelt habe. Das war zum einen Claudia Schiffer, weil sie so schön und schlank war, Erfolg im Beruf hatte und sich alles leisten konnte, was sie wollte. Zum anderen war es Franziska van Almsick, weil sie so frech und cool war, viel um die Welt gekommen ist und eine total schöne, athletische Figur hat. Und zuletzt Prinzessin Victoria von Schweden, weil sie, mit einem Wort beschrieben, auch Magersucht hatte, und ich es genauso weit schaffen wollte wie sie. Wenn man nun diese drei Frauen genauer betrachtet, verkörperten sie all das, was ich mir selbst wünschte. Alle waren schön, schlank und erfolgreich. Ich wollte genauso werden wie sie.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass vielleicht eines Tages alles wieder gut werden würde, hatte ich trotz allem. Auch wenn ich ihn oft vergessen oder verdrängt habe.

Wenn es also mit dem Abnehmen mal nicht mehr geklappt hat, oder ich mal ein Kilogramm zugenommen habe, hatte ich mir mein selbst gebasteltes Buch zur Hand genommen und mir die Bilder angeschaut. Dann habe ich mir gesagt: "Du wirst erst soweit kommen, wenn du dich beim Essen zügelst und leidest". Oft hat es sogar geklappt. Leiden und Bestrafungen waren ein sehr großes Thema bei mir. Wenn ich mal das Essen in mir behalten und deshalb dann ein Kilogramm zugenommen habe, musste ich mich bestrafen. Indem ich am nächsten Tag nichts gegessen habe. Eigentlich ist es totaler Schwachsinn. Warum soll ich mich selbst bestrafen und mir Schmerzen zufügen? Aus dem Grund, weil ich meine Gefühle nicht einordnen konnte und ich nicht wusste, wie ich mich wehren soll. Durch meine Unselbstständigkeit, durch mein geringes Selbstwertgefühl und durch mein fast nicht vorhandenes Selbstvertrauen.

Nun jobbte ich also von meinem 17. Lebensjahr bis zu meinem 18. Lebensjahr in diesem Supermarkt, ohne zu wissen was kommt. Das einzige interessante, was in dem Jahr passierte, war, dass ich meinen Autoführerschein gemacht habe.

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