Читать книгу Teach ʹEm All - Caro Blofeld - Страница 9
Metallica bei H&M (J.B.O.: Metaller)
ОглавлениеManchmal fragt mich jemand, welche Musik ich höre.
Mhm. Echt jetzt?
In solcherlei Situationen suche ich immer nach den drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund am Arm meines Gegenübers. Denn er muss blind, vielleicht aber auch einfach nur blöd sein, wenn er das nicht aus hundert Meter Entfernung erkennen kann! Dann schaue ich wieder ins ideenlose Gesicht und sehe: Der meint es ernst. Spätestens jetzt weiß ich, dass ich mir eine ausführliche Antwort sparen kann. Gut. Weil einfach.
»Metal.«
»Ääh, ja. So Metallica und so? Is mir ’n bissl zu hart.«
Ich beende solche Gespräche immer recht schnell, denn die führen zu nix und machen mich, im Gegensatz zu Metal, latent aggressiv.
Völlig anders verlaufen Unterhaltungen dieser Art mit Gleichgesinnten. Ich erklär Ihnen das mal. Aufpassen, ja? Sollten Sie im Besitz eines oder mehrerer Hunde (oder mit Metallern vertraut) sein, wird Ihnen der folgende Vergleich einleuchten.
Katzen? Katzen gehen auch. Aber nicht ganz so gut. Ruhe jetzt!
Anhänger schwermetallischer Musik sind ein bisschen wie Hunde. Ihre Fellpflege ist, je nach Rasse, mehr oder weniger intensiv. Oft machen sie Dreck, und manchmal riechen sie auch ein bisschen. Wenn sie einen Vertreter ihrer Art in der Nähe wahrgenommen haben, wird’s interessant. Dann wird taxiert, eingeordnet und geschnüffelt. Bereits nach kurzer Analyse steht fest, ob man den anderen als Kumpan anerkennen kann oder nicht. Denn nicht jeder versteht sich automatisch mit jedem. Wobei die Maxime gilt: Irgendein Metaller ist immer noch besser als kein Metaller.
Nach der ersten Kontaktaufnahme, die in der Regel lautlos durch dezentes, verschwörerisches Kopfnicken erfolgt, kommt langsame Annäherung und schließlich die alles entscheidende Frage nach der musikalischen Geschmacksrichtung. Antwortet man nun lediglich »Metal«, ist das in etwa so, als würde man auf die Frage nach der Leibspeise antworten: »Essen.« Es wäre das erste Anzeichen dafür, dass man von Metal schlicht und ergreifend keine Ahnung hat – also ein Poser ist. Niemand mag Poser!
Bei näherer Betrachtung ist das wieder ähnlich wie bei Hunden. Hund ist nicht gleich Hund. Wer sich schon einmal ausführlicher mit diversen Hunderassen auseinandergesetzt hat, weiß, wovon ich spreche. Allerdings gibt es unter denen auch keine Poser.
Damit wir uns ein bisschen besser kennenlernen und Sie wissen, was Phase ist, folgt hier eine (noch lange nicht vollständige) Liste der wichtigsten Metal-Subgenres:
‒Heavy Metal
‒Black Metal
‒Death Metal
‒Glam Metal
‒Power Metal
‒Groove Metal
‒Thrash Metal
‒Speed Metal
‒Doom Metal
‒Progressive Metal
‒Gothic Metal
‒Industrial Metal
‒Nu Metal
‒Folk Metal
‒Grindcore
‒Metalcore
‒Deathcore
‒Pagan Metal
‒Symphonic Metal
‒Viking Metal
‒Alternative Metal
‒White Metal
‒Sludge Metal und viele mehr.
Als wäre das der verwirrenden Härte nicht schon genug, verfügt jedes Subgenre nochmals über ein Subsubgenre. So ist Symphonic Black Metal für geübte Ohren selbstverständlich etwas ganz anderes als Atmospheric Black Metal, welcher sich stilistisch wiederum vom fröhlichen Depressive Suicidal Black Metal unterscheidet, ganz zu schweigen vom elektronisch angehauchten Ambient Black Metal. Von zahllosen Mischformen, die durch Paarung einzelner Subsubgenres entstehen, fange ich gar nicht erst an. Solche Bands tragen in deutscher Übersetzung poetische Namen wie »Körperverletzung«, »Abgrundtiefer Hass«, »Kannibalenleiche« oder »Angstfabrik«.
Sie denken jetzt: Das muss die ironisch meinen. Mitnichten!
Beim Verfassen dieses Textes habe ich kurz überlegt, die gedruckte Version im Stil eines Soundbuches für Kinder anzubieten, unter dem Titel Hör mal, wer da kreischt! oder Die schönsten Metal-Hits zum Mitgrölen. Passend dazu gäbe es ein Malbuch: Malen nach The Number of the Beast. Einzig benötigte Farbe: Schwarz. Vielleicht das nächste Mal. Ich schweife ab.
Nun sind Sie mit der Materie vertraut genug, um folgen zu können, hoffe ich.
Wir waren bei Hunden. Man könnte natürlich versuchen, auf der Hundewiese einen Rottweiler mit einem Toy-Pudel spielen zu lassen. Kann funktionieren. Ist aber meist keine so gute Idee, denn der Toy-Pudel ist danach nicht mehr zu wirklich viel zu gebrauchen. Ähnlich verhält es sich mit Metal-Fans. Freilich kann man einen Brutal-Death-Metaller mit einem Glam-Rocker in einen Raum stecken. Theoretisch. Aber wer das in der Praxis schon mal versucht hat, weiß, dass auch der Glam-Rocker danach nicht mehr zu wirklich viel zu gebrauchen ist. Wobei das bei der Frisur im Grunde auch egal ist …
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung beschnüffeln sich Metal-Fans aber nicht am Hinterteil, um sich zu begutachten. Eindeutiges Erkennungsmerkmal ist in diesem Fall das wichtigste Utensil: das Bandshirt. Deutlich sichtbar erspart einem dieses symbolträchtige Stück Stoff oft mühsame Konversation. Jeder richtige Metaller hegt und pflegt seine Textilsammlung mit ähnlicher Hingabe und Zuneigung wie seine Plattensammlung. Oder seinen Hund. Oder umgekehrt. Egal. Manches Shirt begleitet einen Metaller sein Leben lang. Ich bin beispielsweise noch im Besitz meines allerersten: 1988 – Ozzy Osbourne.
Als ich es bekam, war ich sechs Jahre alt. Inzwischen hängt es in Fetzen herunter und ist verwaschen wie Hulle. Wenn ich es trage – mit Stolz und in der Hoffnung, es möge mir in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt vom Körper flüchten –, denken die Nachbarn zwar: Huh, die komische Bleiche von nebenan hat wieder ihre Putzlappen mit den Hemden verwechselt! Aber ich würde niemals auf die abstruse Idee kommen, es zu entsorgen. Sie verstehen, welchen Wert solch ein Textil hat. Immer noch nicht? Kennen Sie den schwäbischen Gruß? Vielleicht sollten Sie mehr Goethe lesen. Da können Sie was lernen.
In der Schule freue ich mir immer ein zweites Loch in den Allerwertesten, wenn ich Metal-Nachwuchs im Bandshirt entdecke. Leider scheint es sich hierbei, zumindest in den ländlichen Breitengraden, um eine vom Aussterben bedrohte Art zu handeln. Ich bin da gar nicht mehr so anspruchsvoll. Über die Jahre habe ich einen breit gefächerten Geschmack entwickelt, was die verschiedenen Metal-Genres angeht. Man muss nicht gleich der superelitäre Black-Metaller sein, um mich zu beeindrucken. Heavy ist vollkommen okay. Damit habe ich schließlich auch angefangen.
Dank meiner großen Brüder und der Tatsache, dass meine Eltern wohl dachten, ich sei bei denen in guten Händen, bin ich mit allen Heavy-Metal-Klassikern groß geworden. Neben Ozzy Osbourne und Black Sabbath waren Metallica, Megadeth und Judas Priest meine musikalischen Wegweiser, bevor ich mit fünfzehn über Black und Death Metal stolperte. Mit dem Alter wird man bekanntlich milder, und so bin ich inzwischen ziemlich tolerant. Aber alles, was kein Metal ist, möge meinen Ohren bitte fernbleiben. Das ist nicht einfach, wenn neunundneunzig Prozent deiner Schüler dem gängigen Youtube-One-Hit-Wonder hinterherjodelt. In jeder Pause döpdöpt und uffztuffzt es aus den Smartphones.
Vom Modegeschmack will ich gar nicht anfangen. Wenn Sie der Meinung sind, Metaller sähen alle gleich aus: Waren Sie in letzter Zeit mal an einer deutschen Schule? Es scheint, als wären alle aus einem Primark-Schaufenster gefallen und danach zusammen zum selben Friseur gegangen. Sitzt doch mal ein seltenes Metal-Schüler-Exemplar vor mir, erwarte ich vom Gleichgesinnten selbstverständlich Großes. Obwohl es tragisch wird, wenn der vielversprechende Jung-Metaller sich intellektuell ebenso als Flachpfeife entpuppt wie seine Döpdöp-Kollegen. Oder noch schlimmer: als Poser! In so einem Fall fremdschäme ich mich sehr, denn er (oder sie) gehört schließlich zur Metal-Familie. Und niemand will Deppen in der Familie haben.
Ich freute mich immens, als ich eines Tages den Klassenraum meiner Elften betrat und Martha, ihres Zeichens das Gegenteil einer Flachpfeife, in der ersten Reihe im Metallica-Shirt dasitzen sah. Gut, ist inzwischen auch eher Mainstream, aber natürlich Kult. Wer das Gegenteil behauptet, möge sich bitte spontan selbst entzünden. Etwas stutzig machte mich, dass das Shirt nicht schwarz war, sondern altrosa. Ausgebleicht und mit Blut gefärbt schien mir hierfür die einzig sinnvolle Erklärung zu sein. Mysteriös. Ein Test musste her.
In einer ruhigen Minute summte ich scheinbar gedankenverloren, aber deutlich wahrnehmbar die Melodie von Nothing Else Matters – ein astreiner Hochzeitswalzer, nebenbei bemerkt. Dabei ließ ich Martha keine Sekunde aus den Augen und wartete gespannt wie James Hetfields Gitarrensaite auf ihre Reaktion.
Nichts. Nicht mal ein Zucken, kein allerkleinster Deut des Wiedererkennens.
Wusst ich’s doch. Kampfansage: »Sag mal, Martha, ich wusste gar nicht, dass du Metallica hörst.«
»Was?«
»Wie bitte!« (Ach, tun Sie nicht so überrascht. Ein bisschen ernst nehme ich meinen Erziehungsauftrag schon.)
»Wie bitte?«
»Na, dein Shirt! Da steht doch fett ›Metallica‹ drauf! Was ist das denn für ’ne Masche? Willst du mich damit beeindrucken, oder was? So tun, als würdest du Metal hören, um dich bei mir einzuschleimen? Ich hab dein Spiel durchschaut! Du … du … POSERIN!«
Martha, sichtlich verängstigt und den Tränen nah, wurde mit jedem Wort ein Stückchen kleiner. Das tat mir zwar leid, aber es gibt Dinge, mit denen spaßt man nicht – und altrosa Metallica-Shirts überschreiten meine rosa, herrje, rote Linie kilometerweit.
»Ähm, eigentlich hab ich mir das gestern bei H&M gekauft. Ich fand das einfach nur hübsch«, druckste Martha herum.
Stille.
Das musste ich erst mal sacken lassen. Nach einer Weile ungläubigen Löcher-in-meine-Schüler-Starrens brachte ich dann doch eine Reaktion zustande: »Einfach. Nur. Hübsch? Du verarschst mich doch!«
Martha: »Nee, die haben da viele so Shirts. Echt schick!«
»Aha, ja, schick … SCHICK? Du redest hier von einer der größten Metal-Bands der Galaxis! Wegen denen bin ich das geworden, was ich jetzt bin!«
»Lehrerin?«, hallte es aus der letzten Reihe.
»Ach, Himmel, Arsch und Zwirn, halt die Backen, Hannes!«
Metallica bei H&M! Was kam als Nächstes? Slayer bei Pimkie? In der Pause hechtete ich an den Computer, betätigte die Suchmaschine, und richtig: Dem schwedischen Textilverschleuderer schien nichts heilig zu sein. Er verkaufte unwissenden kleinen Mädchen nicht nur Oberbekleidung mit Metallica drauf, sondern auch mit AC/DC, Iron Maiden, Megadeth und tatsächlich … Slayer.
Hin- und hergerissen, ob ich einen Nervenzusammenbruch erleiden oder meinen Warenkorb füllen sollte, glotzte ich auf den Monitor. Ich glaubte zu hören, wie Bon Scott in seinem Grab rotierte. Es galt einzugreifen! Vielleicht konnte ich die Gunst der Stunde nutzen, den Spieß umdrehen und mithilfe eines Kleidungsdiscounters einige meiner popverseuchten Zöglinge musikalisch bekehren.
Ich gab Martha die Hausaufgabe, sich bis zur nächsten Stunde einige Klassiker von Metallica anzuhören. Musste klappen. Wie konnte man diese Meisterwerke nicht erkennen? So verblendet konnte keiner sein.
Mit gemischten Gefühlen – einem Teil Hoffnung, zwei Teilen Furcht und einem Teil prophylaktischer Resignation – stürmte ich am nächsten Tag ins Klassenzimmer. Leider muss man sagen: Das Ergebnis war niederschmetternd. Ich war kurz (aber nur ganz kurz) davor, mein Ozzy-Shirt den örtlichen Lumpensammlern zu spenden.
»Das langsame Lied ist ja ganz schön. Aber der Rest – voll der Krach!«, lautete Marthas vernichtendes Urteil.
Wieder eine Generation am kulturellen Arsch. Ich schüttelte mich kurz und dachte: Scheiß doch der Hund drauf! Wenigstens trug Martha das Shirt nie wieder. Zumindest nicht in meiner Anwesenheit, und das war auch gut so.
Drei Jahre später. Abschlussfeier. Ich stand auf der Bühne der städtischen Multifunktionshalle. Hier sollte die übliche lieblose Zeremonie stattfinden, mit der meinen Chaoten die Zeugnisse überreicht und sie ins echte Leben gejagt wurden. Unter ihnen Martha, die trotz Döpdöp-Musik einen wirklich guten Abschluss hingelegt hatte. Wie immer inszenierte jede Klasse ihren Auftritt mit viel Brimborium, um die Tristesse der Örtlichkeit mehr schlecht als recht zu überspielen. Meine Gurkentruppe war als erste am Start.
Plötzlich wurde es stockfinster im Saal. Die mächtigen Doppelschwenktüren in Eiche rustikal öffneten sich theatralisch. Nebel waberte herein. Und dann kamen sie: vierundzwanzig junge, nicht mehr ganz so dumme Exemplare der Gattung Mensch – zur einsetzenden Melodie von AC/DCs Hells Bells.
Sie näherten sich langsam der Bühne, waren sich der Schwere und Ernsthaftigkeit des Moments durchaus bewusst. Alle Eltern-, Lehrer- und Schulleitungsaugen waren auf sie gerichtet. Würdevoll auf sie herabblickend sah ich, wie sich aus der Gruppe der Nebelgestalten ein einzelnes dünnes Ärmchen erhob. Von der schmächtigen Faust weg spreizten sich Zeigefinger und kleiner Finger zum diabolischen Gruß. Ich lächelte.
Die Eltern und Kollegen im voll besetzten Saal verfolgten das Spektakel mit einer Mischung aus Missbilligung und Unglauben. Und ich? Ich konnte nicht anders: Während ich mit einer Hand ein Tränchen der Rührung und des Stolzes fortwischte, reckte ich die andere in die Höhe, tat es dem Mutigen gleich und ehrte meine Schüler so, wie sie es sich verdient hatten!