Читать книгу Keiner zwischen uns - Carolin Hristev - Страница 10

4 NELSON

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»Nelson! Mein lieber Junge«, sagt Mama, als sie aus dem Fahrstuhl tritt und mich in der offenen Wohnungstür stehen sieht.

Ich lege meine Arme um ihren Hals und drücke meine Wange in ihre wunderschönen, hellroten, langen Haare. Das Haar riecht nach Klinik. Bei Gott, wie ich diesen Geruch nicht ausstehen kann. Und Mama ist noch viel blasser als sonst – ich hab keine Ahnung, mit was für Zeugs die sie da vollstopfen.

Hinter ihr kommt unser Nachbar Herr Yilmaz aus dem Fahrstuhl. Er hat sie mit dem Auto abgeholt und stellt jetzt Mamas Tasche in den Flur.

Mama nimmt mit beiden Händen seine Hand. »Vielen, vielen Dank!«

»Keine Ursache«, sagt er, und zu mir: »Gut aufpassen auf dein Mutter, Nelson! Keine Ärger machen!«

Ich nicke. Klar, Mann. Ich mache nie Ärger.

Mama drückt mich noch einmal. »Wie schön, wieder zu Hause zu sein! Hast du alles gut geschafft?«

»Klar, Mama. Um mich brauchst du dir nun wirklich keine Sorgen zu machen!«

Sie ist total glücklich, als sie die ordentliche Wohnung sieht. Gut, dass ich noch geschafft habe, aufzuräumen.

Wir setzen uns auf die Couch und ich hole die Pizza aus dem Ofen. Mamas Lieblingspizza, mit Thunfisch.

Mama seufzt. »Ich wette, du hast dich die ganze Zeit nur von Pizza ernährt.«

»Na ja … nicht die ganze Zeit.«

Sie nimmt sich eine Ecke. »Wie läuft’s in der Schule?«

»Ganz gut.«

Ich behalte für mich, dass ich gar nicht so oft dort war. Alles muss sie auch nicht wissen.

»Wir haben einen neuen Klassenlehrer. Und Englischlehrer ist er auch. Junge, ist der langweilig.«

»Aber Englisch ist wichtig«, sagt Mama kauend. Ich freue mich derbe, dass sie die Pizza zu mögen scheint.

»Ich weiß. Aber langweilig ist der ohne Ende.«

»Bestimmt kann man trotzdem was lernen.«

»Hm.«

»Ohne Englisch bekommt man heutzutage keine gute Arbeit mehr.«

»Englisch ist mein bestes Fach, da musst du dir echt keine Sorgen machen, Mama!«

»Ja, aber pass auf, dass es auch dein bestes Fach bleibt.«

Was hat sie denn nur mit dem blöden Englisch? Ich suche nach einem anderen Thema.

»In zehn Tagen fahren wir schon auf Klassenfahrt! Ich kann’s echt gar nicht mehr aushalten. Ich freu mich derbe, Mama.«

»Ja, ich freue mich auch für dich, Nelson. Fährt da euer neuer Klassenlehrer mit?«

»Äh – ja. Also, wahrscheinlich.« Außer, wir ekeln ihn vorher wieder raus. Aber das sage ich natürlich nicht.

»Bestimmt ist er ganz nett. Er muss sich halt erst eingewöhnen. Das wird schon.«

»Mama, der ist voll die Schwuchtel!«, sage ich, bevor ich drüber nachgedacht habe.

»Nelson!«, sagt sie in diesem Ton, den ich einfach nicht haben kann. »Ich will nicht, dass du so von deinen Lehrern sprichst!«

»Mann, Mama, red doch nicht mit mir wie mit einem kleinen Kind!«

»Dann benimm dich nicht wie eins!«

»Waaas?! Weil ich ›Schwuchtel‹ sage?? Jeder sagt ›Schwuchtel‹!«

Ich bin beleidigt.

Sie schweigt und ist auch beleidigt.

Super. Sie ist nicht mal eine halbe Stunde da, und schon haben wir Krach.

Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein.

Es beginnt gerade ein Film. Amerikanische Sklaven schuften auf einer Plantage.

Mama nimmt die Fernbedienung und will umschalten.

»Lass doch mal!«, sage ich. »Das ist Der Butler, das ist ein guter Film! Den hat uns sogar Frau Häuser mal empfohlen!«

Mama legt die Fernbedienung wieder hin, und sicherheitshalber lege ich die Hand darauf. Ich bin vielleicht fünfzehn und sie fünfunddreißig, aber, wenn ich auch nicht reden darf wie ich will in meinem eigenen Zuhause, so steht mir doch zumindest beim Fernsehprogramm dasselbe Mitspracherecht zu!

Auf dem Bildschirm erscheint der weiße Plantagenbesitzer. Er zieht eine Frau von der Plantage in einen Schuppen neben dem Feld. Man sieht nur ihren Rücken und den gesenkten Kopf, als er sie fortzieht.

Man weiß, was in dem Schuppen jetzt gerade passiert. Ich spüre den Hass wie Feuer in meinem Bauch.

»Gott, Nelson, mach das aus!«

»Es interessiert mich aber!«

Man hört die Frau schreien.

Mama reißt mir die Fernbedienung aus der Hand.

Sie schaltet in dem Moment um, als der Schuss knallen müsste, mit dem der Plantagenbesitzer einen Arbeiter umlegt.

In meinem Bauch rumort es. Hass und Zorn.

Und meine Mutter kriegt es ab.

»Mann! Kann man nicht einmal was Interessantes gucken? Immer nur Tierbabys und Quizze und Comedy!! So ist die Welt aber nicht! So ist sie nun mal nicht!«

Mama sagt nichts. Sie nimmt eine Zeitschrift vom Couchtisch und versteckt sich dahinter.

Ich schnappe meine Jacke und gehe zu Hamza.

Als ich später im Bett liege, habe ich ein schlechtes Gewissen. Dass meine Mutter Gewalt nicht erträgt, das weiß ich eigentlich sehr genau.

Aber warum muss sie auch so eine Pussy sein?!

Mein Vater hätte den Film mit mir geguckt, definitiv.

Dabei wäre er viel mehr betroffen, ha ha. Persönlich betroffen nämlich.

Wie auch ich.

Scheißvorstellung, dass ich ein Sklave gewesen wäre, und Julius und Alex und Theo und so wären fette reiche Plantagenbesitzer gewesen.

Keine Ahnung, was Hamza und Tolga und Karim gewesen wären. So richtig weiß sind die ja auch nicht. Ich glaube, Türken und Araber gab’s damals gar nicht in Amerika.

Der einzige black man bei uns bin ich. Nicht an der Schule, in der Klasse aber schon.

Inzwischen haben alle Respekt vor mir. Aber das war nicht immer so. In der Fünften war das ganz, ganz anders.

Ich denke selten daran. Die fünfte Klasse war die zweitschlimmste Zeit meines Lebens, und ich habe keinen Bock, mich immer und immer wieder daran zu erinnern. Die ganzen Assis sind jetzt meine Freunde, und dumme Sprüche oder so höre ich nicht. Schon lange nicht mehr.

Ich weiß nicht, ob sie mich damals wirklich wegen meiner Hautfarbe rausgepickt hatten. Oder weil ich einfach den richtigen Moment verpasst hatte, mich mit Ibo anzufreunden. Papa war da schon krank, und ich war eine kleine Heulsuse. Die in der Ecke stand, während die anderen Jungs sich gefetzt haben. Bis es jemand mitgekriegt hat.

Wie ein Film laufen Szenen ab in meinem Gehirn. Ich will ausschalten, aber irgendwie finde ich die Fernbedienung nicht.

Ibo und Oliver – die beiden Fiesesten. Julius, Tolga, Alex und ein paar Mädchen sind auch dabei. Wie sie so tun, als ob meine Hautfarbe eine ansteckende Krankheit wäre. Wie sie mein Schulbrot zertrampeln und den Orangensaft aus meiner Trinkflasche über meinen Kopf schütten.

Bis zu dem Tag, an dem Hamza Oliver die Vorderzähne ausgeschlagen hat. Nach der Schule, auf dem Nachhauseweg war das. Ich hatte es nicht immer geschafft, nach Hause zu kommen, bevor die anderen mich eingeholt hatten, und das war so ein Tag. Sie hatten mich eingeholt, und Ibo hatte einen Hundehaufen auf dem Fußweg entdeckt und Oliver hat … egal. Ich will nicht daran denken.

Aber wie Hamza Oliver hochgerissen hat, daran denke ich gerne. Ein Schlag, und weg waren sie, die Vorderzähne.

Hamza hatte mich nie mitgeärgert. Okay, er hatte mich auch nicht direkt unterstützt, am Anfang jedenfalls nicht. Aber je mehr er respektiert wurde, desto öfter setzte er sich für mich ein. Wobei, dass er Oliver die Zähne rausschlägt, das hatte wohl keiner erwartet. Er selbst, glaube ich, auch nicht.

Er wäre beinahe von der Schule geflogen deswegen. Ist dann aber nicht passiert. Dafür wurde Oliver von seinen Eltern von der Schule genommen. Zu viel Gewalt.

Nach den Vorderzähnen war es vorbei. Danach hat mich keiner mehr angegriffen oder beschimpft.

Und mittlerweile ist jeder froh, wenn er mit mir befreundet sein kann. Jeder. Hamza ist unbestritten Boss, aber direkt danach komme ich. Auf jeden Fall vor Alex, und vor Ibo sowieso. Ibo wird zwar respektiert, aber eher so gezwungenermaßen. Weil er so krass ausrasten kann. Das hat mit echter Ehre nichts zu tun.

Keine Ahnung, was geworden wäre ohne Hamza. Seitdem sind wir Brüder.

Ich würde ihn nie verraten, niemals.

Er war auch mit auf Papas Beerdigung.

Irgendwie mochte er mich von Anfang an. Ich weiß noch, wie wir am ersten oder zweiten Tag an unserer Schule, ganz am Anfang der fünften Klasse, so lange nach dem Unterricht auf dem Schulhof Fußball gespielt haben, bis der Hausmeister uns nach Hause geschickt hat. Nur zu zweit, und es hat derbe Spaß gemacht. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass das echt ’ne coole neue Schule ist.

Da wusste ich ja noch nicht, was Ibo und Oliver sich so für »Spiele« ausdenken würden.

Egal. Ist lange her.

Ich drehe mich auf die andere Seite und denke ein bisschen an Marie. Das ist auf jeden Fall ein viel, viel schöneres Thema als irgendwelche Filme über Sklaverei.

Keiner zwischen uns

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