Читать книгу Keiner zwischen uns - Carolin Hristev - Страница 8

2 NELSON

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In der ersten Stunde sollen wir unseren neuen Klassenlehrer kennenlernen, der kommt, weil Frau Häuser seit letzter Woche in Mutterschutz ist. Alle sind gespannt und deswegen ziemlich leise, als es klingelt und wir darauf warten, dass er auftaucht.

»Mal sehen, ob der auch Filme mit uns guckt«, sage ich zu Hamza. Dabei schaue ich unauffällig in die Richtung, in der ich Maries blonde Haare sehe.

Ein dünner Mann steckt den Kopf zur Tür herein. »9b?«

»Yes!«, brüllt Tolga zur Antwort. »In anderen Worten: Die geilste Klasse der Welt!«

Der neue Lehrer sagt nichts, sondern zieht die Tür hinter sich zu und stakst stumm zum Lehrertisch. Klack – klack – klack, macht es. Ein paar von uns kichern. Zu seinem Anzug trägt der Lehrer glänzende flache Lederschuhe, und diese Schuhe sind es, die bei jedem Schritt so klicken und klacken wie Frauenschuhe mit hohen Absätzen. Der Lehrer stellt seine Sachen ab und sich selbst – klack – klack – klack – vor die Tafel. Inzwischen hat es jeder gemerkt und die halbe Klasse kichert. Dann sagt der Lehrer stockend, dass er Zimmermann heißt. Und dass wir bitte Namensschilder schreiben sollen. Als wir alle ein Namensschild geschrieben haben, fragt er, ob wir Fragen haben.

Drei, vier Hände gehen hoch. Er nimmt Ibo dran.

»Was hören Sie für Musik?«

Ein paar lachen.

»Haydn, Brahms … Wagner auch«, sagt Herr Zimmermann und knetet seine Finger.

Nie gehört.

Duygu, die Nervensäge, zappelt mit den Fingern in der Luft herum und stellt eine typische Mädchenfrage: »Haben Sie eine Freundin?«

Duygus Frage scheint Herrn Zimmermann noch unangenehmer zu sein als die von Ibo. »Im Moment nicht … keine Fragen mehr?«

Es bleibt leise.

»Well, let’s start with English then«, sagt Herr Zimmermann, und wir sind uns jetzt schon einig: Der Typ ist eine Schlaftablette und das Interessanteste an ihm sind seine Schuhe.

Ich spiele mit Hamza »Drei gewinnt«, bis unser neuer Lehrer es mitkriegt und den Zettel in den Mülleimer schmeißt. Fünf Minuten höre ich zu, aber es ist derbe langweilig, und als von Julius eine Papierkugel geflogen kommt, bin ich extrem dankbar. Ich schmeiße die Papierkugel Ibo in den Nacken, und als der sich umdreht, gucke ich interessiert an ihm vorbei zur Tafel. Ibo knüllt sein Namensschild zusammen und zielt auf Hamza, aber trifft nicht, der Loser. Er tut aber so, als wäre das Absicht gewesen. Als er wieder an die Tafel schaut, werfe ich ihm mein Namensschild in den Nacken. Diesmal merkt er, dass ich es war.

»Ey, Nelson, du Wichser!« Jetzt trifft er sogar fast.

»Ähm …«, ruft Herr Zimmermann in Ibos Richtung, »wie heißt du?«

Ibo lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. »Für Sie Ibrahim.«

»Nach der Stunde fegst du, Ibrahim!«

Das hätte Herr Zimmermann wohl besser nicht sagen sollen. Die meisten Lehrer kommen mit Ibo inzwischen ganz gut klar – solange er nicht wütend ist.

Aber Ibo wird ziemlich schnell wütend. Besonders dann, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Und Ibo fühlt sich besonders ungerecht behandelt, wenn jemand so was zu ihm sagt wie: ›Du fegst.‹

Er springt auf. Sein Gesicht ist dunkelrot. »Was, wieso ich, Mann? Mach ich nich, Mann, mach ich nich! Die anderen haben auch geworfen, ich hab nur zurückgeworfen! Das is unfair, ich feg nich, mach ich nich!«

Ich könnte mich jetzt melden und sagen, dass ich ihn zuerst abgeworfen habe. Aber wieso sollte ich den Kopf für Ibo hinhalten?

Herr Zimmermanns Stimme wird lauter. »Und ob du fegst! Hör auf zu diskutieren! Setz dich wieder hin, wir sind hier im Unterricht!«

Ibo fuchtelt mit den Armen in der Luft herum. »Die anderen haben auch geworfen! Die haben noch viel mehr geworfen! Können Sie zehnmal sagen, dass ich fege, mach ich trotzdem nich! Das regt auf, Mann! Ungerecht ist das, Mann!«

Herr Zimmermanns Gesicht ist jetzt fast so rot wie Ibos. »Wo sind wir denn hier?! Das ist doch kein Kindergarten!«

»Genau!«, schreit Ibo. »Und deswegen können Sie mir gar nichts befehlen, Sie Schwuchtel!«

Es ist superleise, nur Duygu prustet los.

Ich melde mich, aber keiner nimmt mich dran, weil Herr Zimmermann immer noch fassungslos Ibo anstarrt.

»Ich hab zuerst geworfen«, sage ich trotzdem und nehme den Arm runter. »Ich feg dann.«

»Hier?!«, ruft Ibo. »Sehen Sie? Sehen Sie, wie ungerecht Sie sind, Mann?! Das lass ich mir nicht gefallen!«

Herr Zimmermann weiß immer noch nicht, was er sagen soll. Er ist jetzt nicht mehr rot, sondern bleich.

»Du bleibst nach der Stunde da, Ibrahim!«, ruft er. »Ich lasse mich hier nicht beleidigen, in der ersten Stunde!«

»Mir doch egal!«, schreit Ibo, und dann klingelt es und Ibo schießt aus der Tür und die anderen hinterher.

Nach der Schule chillen Hamza und ich noch ein bisschen auf dem Spielplatz.

»Du fegst!«, ruft Hamza mit zittriger Stimme und weit aufgerissenen Augen. Ich lasse mich vor Lachen rückwärts von dem abgewetzten Rücken des Krokodils fallen. Dann springe ich auf und rufe: »Was hören Sie für Musik?«

Ich gebe mir selber die Antwort, mit der langweiligsten Stimme, die ich hinkriege: »Ach … Heiner und Prams.« Dann mache ich Duygus Stimme nach: »Haben Sie eine Freundin?«

Die Antwort versuche ich irgendwie tuntig klingen zu lassen: »Im Moment nicht. Ich stehe nämlich nicht auf –«

»Aber sobald eine beim Date nicht einschläft«, fällt Hamza mir ins Wort, »frag ich sie. Bisher sind alle eingeschlafen, aber – ich – «, er reißt den Mund auf und gähnt laut, »gebe – die – Hoffnung – «, er macht perfekt die Körperhaltung von Herrn Zimmermann nach, »nicht – auf.« Er fängt an zu schnarchen, und schwankt hin und her, als ob er im Stehen eingeschlafen ist. Ich muss so hart lachen, dass mir der Bauch wehtut. Mir fallen die Schuhe von dem Typen ein, und mit der Zunge produziere ich ein Klacken, das diese Schwuchtellederlatschen ziemlich genau imitiert, und stolziere dabei um die Tischtennisplatte. Dann ruft Hamzas Mutter an und sagt, dass das Essen fertig ist.

Ich habe auch Hunger, also gehe ich zum Supermarkt und hole mir eine Pizza und eine große Packung Eis.

Es ist die zweite Woche ohne Mama, und obwohl ich normalerweise, wenn sie da ist, auch nicht unbedingt extrem viel Zeit mit ihr verbringe, ist es mittlerweile ziemlich deprimierend. Die Wohnung fühlt sich so leer an, und egal, wie laut ich Musik aufdrehe, irgendwie wird es nicht lebendiger. Wenn Mama in der Klinik ist, hab ich immer einfach nur Angst, dass es so bleibt. Dass die schlimme Phase nicht vorbeigeht und sie für den Rest ihres Lebens traurig sein wird.

Ich nehme das Foto in die Hand, das auf meinem Schreibtisch steht. Mein Vater und ich. Er hat den Arm um mich gelegt und wir lachen. Elf Jahre war ich da alt.

Ich hole das Bild aus dem Rahmen und lese zum hunderttausendsten Mal die Schrift auf der Rückseite. Mit meinem Nelson im Hansapark.

Vorsichtig stecke ich das Bild zurück und bastle den Rahmen wieder zusammen.

Hunger habe ich keinen mehr.

Stattdessen lege ich mich aufs Bett. Und dann kommt einer dieser elenden Vermiss-Anfälle.

Ja, ich weiß, was alle denken. Ich kenne die Klischees über afrikanische Männer. Hier mit einer deutschen Frau anbändeln, sie schwängern, sie sitzen lassen.

Aber mein Vater hat meine Mutter nicht sitzen gelassen. Mein Vater hat meine Mutter geliebt. Vor zwei Jahren ist er gestorben, und er fehlt mir ohne Ende.

Ich nehme einen Zettel und versuche, einen Rap zu schreiben. Manchmal hilft das, wenn ich meinen Vater besonders stark vermisse. Die ganze Wut, der ganze Schmerz, wenn die auf dem Papier sind, ist für eine kleine Weile ein bisschen weniger davon in mir drin.

Aber heute kriege ich keine zwei Zeilen zustande. Ich gebe auf, lege meinen Kopf auf den Zettel, presse die Augen zusammen und versuche, an gar nichts zu denken.

Erst als es anfängt, komisch zu riechen, bemerke ich den Rauch, der vom Flur in mein Zimmer wabert. Die Pizza! Der Ofen qualmt wie ein Wagen zwischen Unfall und Explosion. Als ich die schwarzverkohlte Pizza herausangle, verbrenne ich mir die Hand.

Fuck, das war’s wohl mit Abendessen.

Macht nichts. Ich habe ja noch eine Drei-Liter-Packung Eis.

Nach dem Essen schalte ich den Computer an und spiele ein bisschen »Grand Theft Auto«. Ich bin ziemlich gut, und ich nehme mir vor, heute das letzte Level zu knacken.

Gegen dreiundzwanzig Uhr habe ich es geschafft. Das größte Problem ist, den Fluchtweg zu finden, wenn man nach dem Banküberfall die Scharfschützen vom FBI umgelegt hat. Ich muss ganz schön lange probieren, aber irgendwann habe ich den Trick durchschaut.

Ich bin einfach nur stolz und zufrieden mit mir.

Ich hole den Rest der Eispackung aus dem Gefrierfach und mache es mir vor dem Fernseher gemütlich. Das hab ich mir jetzt echt verdient.

Keiner zwischen uns

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