Читать книгу Familiengeheimnis - Catherine St.John - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление„Muss das sein?“, brummte Lord Lynet angesichts der Schüsseln auf der Dinnertafel. „Wir haben nicht einmal wichtigen Besuch, und trotzdem eine solche Verschwendung?“
„Immerhin sind wir zu viert, da sind vier kleine Gänge, von denen ohnehin niemand satt wird, doch wohl nicht zuviel“, widersprach die Dame des Hauses.
Ihr Mann warf ihr einen missvergnügten Blick zu und sagte nichts mehr; stattdessen zog er die Schüssel mit dem Rinderragout näher zu sich heran und tat sich großzügig auf. Allzu großzügig, fand seine Gemahlin, die aufgrund ihrer vornehmeren Abkunft, wie sie immer noch meinte, auch ein feineres Benehmen gewohnt war. Sie kommentierte sein Verhalten aber auch nicht weiter, sondern ergriff Schüssel und Vorlegelöffel und tat zuerst ihrer Jüngsten, Jane, auf, die ohnehin für ihre fünfzehn Jahre allzu klein und schmal war. Den kläglichen Rest teilte sie zwischen Melly, ihrer älteren Tochter, und sich selbst auf und nahm sich etwas Gemüse dazu.
Jane aß mit gutem Appetit, Melly rührte unlustig auf ihrem Teller herum. Seine Lordschaft verzehrte seine Portion hastig und griff schon vor dem letzten Bissen nach der nächsten Schüssel.
Walters, der mittlerweile fast achtzigjährige Butler, übernahm das Abräumen, obwohl es eigentlich unter seiner Würde war. Aber was sollte er machen? Sollte Ihre Ladyschaft etwa selbst die schmutzigen Teller in die Küche tragen? Oder die beiden jungen Damen? Seine Lordschaft war entweder sehr schlecht dran oder ausgesprochen geizig, denn sonst hätte er doch nicht beide Lakaien entlassen, dazu die Gärtner und fast alle Stallburschen! Nicht, dass in den Ställen noch viel zu tun gewesen wäre… Die Köchin, der Stallmeister und er selbst waren mittlerweile die einzigen Bediensteten auf Schloss Lynet. Im Gesindezimmer diskutierte man also mittlerweile nur noch zu dritt, ob der gnädige Herr bankrott oder geizig war. Er trug die geleerten Schüsseln zur Anrichte und deckte frische Teller auf. Mylady sicherte schließlich ihren Mädchen ein wenig vom Dessert, bevor ihr Gemahl sich über den Löwenanteil hermachte.
Insgeheim wunderte Walters sich – der Viscount aß für drei, aber man sah nichts davon. Sicher ritt er täglich über den Besitz (und das musste recht deprimierend sein, dieser Verfall allenthalben), aber das hielt einen Gentleman in mittleren Jahren doch nicht so gut in Form? Vielleicht litt er an einer Krankheit, die ihn auszehrte?
Dann waren Ihre Ladyschaft und die beiden Töchter aber arm dran, überlegte Walters nicht zum ersten Mal, während er mit jahrzehntelanger Routine abräumte und fragte: „Wäre das dann alles, Mylady?“
Der Viscount bellte: „Den Brandy, Walters!“
„Sehr wohl, Euer Lordschaft.“ Walters verneigte sich und brachte das Gewünschte, während seine Gedanken weiterliefen. Der Besitz war bis auf einen sehr bescheidenen Rest an den Titel gebunden und würde damit wohl an die Krone fallen, wenn der Viscount das Zeitliche segnete, nachdem der junge Mr. Benedict schon vor Jahrzehnten verschwunden war. Da blieb in solch vornehmen Familien eigentlich nur eins – man musste die beiden Mädchen gut verheiraten, damit sie nicht dem Elend preisgegeben würden.
Mylady hob die Tafel auf und verließ, gefolgt von Miss de Lys und Miss Jane, das Speisezimmer. Walters schloss behutsam die Tür hinter ihnen und wandte sich wieder seinem Herrn zu. „Wünschen Sie noch etwas, Mylord?“
Lord Lynet winkte ab und verließ ebenfalls das Speisezimmer, das Brandyglas noch in der Hand.
Walters wandte sich dem halb abgeräumten Dinnertisch zu und sorgte mit routinierten Handgriffen für Ordnung, unterhalten von leisen Klavierklängen aus dem Salon.
Aha, Miss de Lys versuchte sich wieder einmal an dieser verteufelten Haydn-Sonate und in wenigen Minuten würde sie an der Stelle scheitern, an der sie immer scheiterte…
Als er die Dessertteller, die Gläser und die übrigen Reste nach draußen in Richtung Küchenquartier trug, zuckte er tatsächlich kurz zusammen, weil sich Miss de Lys an der üblichen Stelle vergriffen hatte; dann lächelte er mitleidig: Ein nettes Mädchen, aber leider weder besonders hübsch noch lebhaft. Es würde schwer halten, für sie eine annehmbare Partie zu finden, zumal in diesem abgelegenen Winkel von Kent, in dem von der Nähe zur Hauptstadt aber schon gar nichts zu spüren war.
Vielleicht waren die beiden Mädchen aber auch nur so still und – rundheraus gesagt – langweilig, weil Seine Lordschaft sie so häufig kritisierte, und das in sehr liebloser Weise?
Walters seufzte über diesen Gedanken und stellte das Tablett ab. Mrs. Riley lächelte ihm trübsinnig zu. „Nicht das, was wir früher gewöhnt waren, nicht wahr? So wenige Gänge, so kleine Portionen, keinerlei Überreste…“
„Ich bezweifle, dass Ihre Ladyschaft und die jungen Damen auch nur annähernd satt geworden sind.“
„Und Seine Lordschaft hat es sich gut gehen lassen, möchte ich wetten!“, schnaubte die Köchin. „Wo lässt er all das Essen bloß? Wenn ich so viel verdrücken würde, passte ich durch keine Tür mehr!“ Zur Bestätigung klopfte sie sich auf den deutlich gerundeten Bauch unter der gestärkten weißen Schürze.
Walters brummte zustimmend und beschloss, die Damen im Salon nach ihren Wünschen zu fragen.
Dort saß Lady Lynet auf einem Sofa, neben sich den Flickkorb, und griff bei Walters Eintritt hastig nach ihrem Stickrahmen. Auch Jane gab vor, sich mit einem Taschentuch zu beschäftigen, während Miss de Lys vor dem Pianoforte saß und deprimiert auf die Tasten starrte.
„Melly, versuch´s bitte noch einmal! Du weißt doch, dein Vater…“
„Ja, Mama.“ Sie begann wieder zu spielen und vergriff sich dieses Mal schon vor der üblichen Stelle. Ärgerlich ließ sie die Hände flach auf die Tasten fallen und erzeugte eine beeindruckende Dissonanz. „Ich kann nicht! Ich werde dieses entsetzliche Stück niemals fehlerfrei spielen können.“
Ihre Mutter seufzte. „Mein liebes Kind, dein Vater möchte, dass du dich in allen weiblichen Künsten versiert zeigst!“
„Ich kann nicht spielen! Da sticke ich ja noch lieber“, murrte Melinda mit überraschender Aufsässigkeit.
„Du kannst dich ja wenigstens in der Aquarellmalerei versuchen, Melly“, tröstete die kleine Jane ihre große Schwester, „erinnerst du dich an das Geschmiere, das ich gestern angestellt habe?“
Melinda musste kichern. „Sehr eindrucksvoll! Es sah aus wie eine Art Gemüseeintopf.“
„Und dabei sollte es die Landschaft hinter dem Schloss vorstellen“, jammerte Jane in komischer Verzweiflung.
Die Tür wurde aufgerissen und sofort beschäftigten sich alle drei Damen angelegentlich mit feinsten Stickereien; den Flickkorb hatte Mylady mit langjährigem Geschick zwischen zwei Sofakissen geschoben.
„Keine Musik, Melinda?“
Melinda erhob sich schicksalsergeben wieder, aber ihr Vater lächelte breit und winkte ab. „Du kannst morgen weiter üben. Ich habe eine Einladung erhalten!“
Drei Augenpaare gestatteten sich ein vorsichtiges Aufleuchten – vielleicht musste er ja nach London und sie hätten mehrere Tage lang ein ruhiges Leben?
„Es gibt einen Ball, bei den Nortons, in der Nähe von Lynham. Stephen Norton scheint sich verlobt zu haben…“ Er brummte unzufrieden. „Alle Welt verlobt sich, nur meine Tochter ist sich, scheint´s, zu gut dazu?“
Melinda ließ den Kopf hängen.
„Jedenfalls werden wir zu dritt dort erscheinen und du wirst dir Mühe geben, mein Kind, hast du verstanden?“
„Ja, Papa“, murmelte Melinda, wobei sie konzentriert das Parkett zu ihren Füßen betrachtete. Er griff ihr unters Kinn und zwang sie so, ihn anzusehen: „Etwas mehr Eifer, meine Gute, sonst wird es dir leidtun!“
„J-ja, Papa.“
Lady Lynet, die sich die Szene mit zunehmendem Missfallen betrachtet hatte, räusperte sich. „Wann findet diese Veranstaltung denn statt? Und wie vornehm ist der Rahmen?“
Ihr Gemahl betrachtete sie stirnrunzelnd. „Sehr vornehm. Seht also zu, dass ihr irgendein Ballkleid angemessen umarbeitet – ich will mich vor den Nortons und ihren Gästen nicht für euch schämen müssen. Vielleicht kommen sogar der Herzog und seine Familie!“
„Wir werden uns bemühen“, versprach Ihre Ladyschaft mit ärgerlicher Gelassenheit.
„Der Herzog, sagte ich“, betonte der Viscount. „Und Ashford ist nicht verheiratet. Ein reicher Junggeselle in den Dreißigern – etwas Besseres könnte dir nicht passieren, also verhalte dich entsprechend!“
Die Viscountess seufzte leise. Wie sollte das denn gehen? Melinda war ein so liebes Mädchen, aber etwas ängstlich und scheu - und wenn man ehrlich war, zwar durchaus nett anzusehen, aber wirklich keine Beauté. Einen Herzog, von dem alle Welt wusste, dass er kein zweites Mal heiraten wollte (er war nämlich kein Junggeselle, sondern Witwer!) konnte sie niemals für sich interessieren.
Sie sandte ihrem Gemahl einen vorwurfsvollen Blick, aber der hob daraufhin die Augenbrauen und sagte: „Überlass das nur mir!“
Melinda warf ihrem Vater einen scheuen, aber durchaus misstrauischen Seitenblick zu. Jane wirkte einfach nur ratlos.
„Nächsten Samstag findet dieser Ball bei den Nortons statt. Bis dahin habt ihr beide euch ja wohl angemessen herausgeputzt. Und du“ – er warf einen Blick auf seine jüngere Tochter – „bleibst zu Hause.“
„Ja, Papa.“
Er stieß einen Knurrlaut aus und eilte in sein Arbeitszimmer, wo er missmutig die Papiere auf dem Schreibtisch beiseiteschob. Sein Blick fiel aber doch auf das oberste Blatt, eine Rechnung über fast dreißig Guineas für neue Stiefel. Die Stiefel hatte er gebraucht, wie sollte er sonst über die Felder reiten? Oder tagsüber irgendwo angemessen auftreten? Sollte er sich mit dem Plunder auf dem Dachboden ausstaffieren und sich in die alten seidenen Kniehosen mit passenden Strümpfen und ebenso alten Schnallenschuhen werfen, damit ihn alle Welt für ein Relikt aus der Zeit vor der Revolution hielt? Er machte sich doch nicht vor der ganzen Nachbarschaft lächerlich!
Der Besitz warf einfach nicht genügend ab; sein Vater hatte ihm da eine hübsche Last hinterlassen.
Natürlich hatte es damals so ausgesehen, als gäbe es einen einfachen Weg, aus der Misere heraus. Den üblichen Weg, nämlich die Suche nach einer reichen Erbin. Zunächst schien dies durchaus von Erfolg gekrönt zu sein: Die junge Lady Margaret Sophia Portney, die jüngste Tochter des Herzogs von Dunmore, sollte eines Tages einen hübschen Anteil am Dunmoreschen Vermögen erben. Ihre Mitgift hatte Lynet noch eine Zeitlang über Wasser gehalten, aber dann hatte dieser verflixte Dunmore tatsächlich noch einmal geheiratet – und das junge Ding, das er sich ausgesucht hatte, hatte ihn auch umgehend mit einem Erben und einem Reservesohn erfreut. Daraufhin hatte der alte Mistkerl natürlich sein Testament geändert; Margaret und ihre Schwestern hatten nun nur noch ein besseres Taschengeld zu erwarten.
Nun, das hätte er natürlich auch getan, wenn er einen beträchtlichen Besitz zu vererben hätte und wenn Margaret ihre Pflicht gekannt und ihm auch zwei Söhne geschenkt hätte. Die beiden Mädchen waren ja völlig nutzlos!
Wenn sie wenigstens hübsch wären, ärgerte er sich, während er sich einen Brandy einschenkte! Oder munter und geistreich.
Oder zumindest so klug, dass sie einen annehmbaren Kandidaten vor den Altar locken konnten.
Das langweilige Kind Jane war ohnehin noch zu nichts zu gebrauchen. Ein erbärmliches Geschöpf, so klein und mager… und Melinda, die längst verheiratet sein sollte, immerhin war sie schon neunzehn, war kaum besser: etwas größer als Jane, aber ebenfalls dünn, schüchtern und langweilig. Wer sollte sich schon für sie interessieren, vor allem, wenn man in Betracht zog, dass sie so gut wie nichts mitbekommen würde…
Wenn er nur einen Sohn hätte!
Er seufzte und schenkte sich nach.
Für einen Sohn würde es sich lohnen, Lynet wieder zur Blüte zu bringen. Neue Methoden in der Landwirtschaft, sorgfältige Investitionen in den Finanzmarkt, nutzbringende geschäftliche Beziehungen von der Sorte, die einem Viscount nicht allzu schlecht zu Gesicht stand…
Aber für die Krone?
Es war ja erfreulich, dass Benedict damals verschwunden war, aber damals hatte er noch auf einen eigenen Sohn oder vielleicht sogar zwei gehofft. Da es keinen Erben gab, fiel der Besitz eben an die Krone zurück – und sollte er sparen, damit der Prinzregent noch mehr Geld verschwenden konnte?
Margaret und die Mädchen mussten nach seinem Tod eben sehen, wo sie blieben! Margarets Wittum war so gering, dass sie kaum alleine davon leben konnte. Eigentlich war für sie nur diese Bruchbude an der Grundstücksgrenze, das ehemalige Dower House, vorgesehen – und monatlich eine bescheidene Lebensmittellieferung.
Er schenkte sich erneut nach und grinste versonnen vor sich hin. Sollte seine nutzlose Ehefrau Kerzen oder gar ein Kleidungsstück haben wollen, müsste sie eben ihren eigenen Schmuck verkaufen – die spärlichen Reste davon. Die de Lys-Steine würden dann eine Mätresse Prinnys schmücken…
Und die Mädchen? Für eine Stelle als Hausmädchen würde es bei ihnen gerade noch reichen, wenn sie sich nicht mehr Mühe gaben, endlich einen brauchbaren Ehemann zu angeln…