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Kapitel 2
ОглавлениеBis zum Norton-Ball hatten Lady Lynet und Melinda fleißig genäht und nicht nur die feinen Abendhemden des Hausherrn wieder in einen tadellosen Zustand versetzt, sondern auch ihre eigenen - recht betagten – Abendtoiletten geschickt aufgebessert. Mylady hatte auf dem Dachboden an einem überflüssigen Vorhang eine schmale goldene Borte entdeckt, die noch recht frisch wirkte, kaum vergilbt und auch ohne mürbe Fäden, die unschön wegstanden. Damit hatte sie ihr schwarzes Samtkleid mit der hohen Taille und dem schon recht unmodern schmalen Rock in einen durchaus vorzeigbaren Zustand versetzt.
Das blassrosa Musselinkleid, in dem Melinda mittlerweile seit fast eineinhalb Jahren in Gesellschaft ging, hatte ein neues Mieder aus dem Rock von Lady Lynets Brautkleid erhalten und wirkte jetzt nahezu neu und der aktuellen Mode entsprechend. Der Stoff hatte sogar noch für eine hübsche rosa Brokatrose gereicht, die Melly im Haar tragen sollte. Übertriebener Schmuck ziemte sich für ein junges Mädchen schließlich ohnehin nicht!
Einigermaßen zufrieden mit sich warteten die beiden Damen an dem großen Tag in der Halle auf den Viscount, um mit ihm zum Anwesen der Nortons zu fahren.
„Wieviele Kinder haben die Nortons insgesamt, Mama?“
Lady Lynet überlegte. „Ich glaube, einen Sohn und zwei Töchter. Die ältere Tochter soll etwas altjüngferlich sein und dazu neigen, alles zu bekritteln, die jüngere ist recht munter und hat schon eine Saison in London verbracht… ach nein, es gab noch eine, die ist schon verheiratet, glaube ich. Und jetzt verlobt sich der Sohn… mit wem eigentlich? Da bin ich jetzt überfragt. Die Familie ist mit den de Torcys befreundet, glaube ich.“
„Wer sind die?“
„Das ist der Familienname des Duke of Ashford. Sie wohnen auf Schloss Lynham.“
„Ach ja – gab es da letztes Jahr nicht etliche Aufregung? Einen Skandal?“
„Psst! Da kommt dein Vater.“
Lord Lynet sah sehr imposant aus. Sogar seine Frau, die ihn wegen seiner offenen Verachtung für Frau und Töchter nicht ausstehen konnte, musste zugeben, dass er für seine fast fünfzig Jahre noch sehr attraktiv war und deutlich jünger wirkte. Wahrscheinlich hatte er eine Mätresse, für die er das Geld ausgab, dass er bei seiner Familie einsparte…
„Na, endlich seid ihr fertig“, begrüßte er sie. „Und du wirst heute gefälligst etwas mehr gesellschaftlichen Schliff zeigen!“, fuhr er Melinda unvermittelt an.
„J-ja, Papa“, stotterte diese.
„Und wehe, du stotterst!“
„N-nein, Papa…“ Melinda war sichtlich den Tränen nahe.
Die Fahrt nach Beech House zu den Nortons dauerte nicht allzu lange und im Wagen herrschte bedrücktes Schweigen.
Melindas Stimmung hob sich erst, als zumindest Lady Norton sie freundlich, geradezu herzlich begrüßte und sie zu Susan und Charlotte führte, die sich vor einem kostbaren gestickten Vorhang aufgestellt hatten, der den kleinen Ballsaal von der Nische mit dem Buffet trennte.
Sir Joshua nahm sich zügig des Viscounts an und Lady Norton, die das Aufatmen der Viscountess durchaus bemerkt hatte, zog diese in ein kurzes Gespräch – bis die nächsten Gäste gemeldet wurden.
Die Familie Wentworth traf ein – Eltern und fünf Töchter, nachdem wenigstens eine seit dem Frühsommer unter der Haube war und nun in Norfolk lebte.
Es folgte die Herzoginwitwe von Ashford mit zwei Söhnen und ihrer Schwiegertochter, was Charlotte Norton ein entrüstetes Schnauben entlockte.
Melinda sah sich interessiert um und studierte die phantastischen Abendroben, mit denen ihre alt-neue rosa Kreation nicht mithalten konnte.
Die zartgrüne Seidentoilette der jungen Lady Simon gefiel ihr am besten, aber natürlich durfte ein junges Mädchen keine Seide tragen…
Auch die vielen Misses Wentworth traten sehr à la mode auf – ihr Vater war offenbar nicht so geizig wie Lord Lynet!
Mittlerweile allerdings wunderte sie sich etwas über die Zusammenstellung der Gästeliste: Bis jetzt gab es acht unverheiratete junge Ladies und gerade einmal einen unverheirateten Herrn – und das war der Herzog, von dem jedermann wusste, dass er nicht mehr heiraten wollte: Hatten Lord Simon und seine Frau nicht bereits einen kleinen Sohn, der das Herzogtum eines Tages erben konnte?
An weiteren Tanzpartnern gab es die Väter (die sich bestimmt bei der erstbesten Gelegenheit um den Kartentisch versammeln würden), Lord Simon und Mr. Norton, der aber doch wohl für seine Braut da sein wollte? Wo steckte diese Braut eigentlich?
Sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter, die ebenso ratlos wirkte.
Die Horburys, die kurz darauf eintrafen, hatten immerhin eine Tochter, nämlich die Braut Annabelle, und zwei Söhne zu bieten – aber damit wurde das Verhältnis zwischen den Damen und Herren auch nicht viel besser.
Melindas Mut sank weiter: Wie sollte sie so mit einem Herrn flirten oder auch nur plaudern, wenn die raren Exemplare von viel anziehenderen Damen mit Beschlag belegt wurden? Wer achtete denn da schon auf sie?
Der Herzog lächelte ihr quer durch den Raum aufmunternd zu und sie gestattete sich ein vorsichtiges Antwortlächeln, um gleich darauf nervös nach ihrem Vater Ausschau zu halten, der in ein Gespräch mit Sir Joshua vertieft schien und gerade eine winzige Prise Tabak zur Nase führte.
Sie wusste nicht recht, ob sie sich freuen sollte, dass er diesen kurzen Austausch von Lächeln nicht bemerkt hatte, oder ob sie es bedauern sollte: So könnte er doch mit ihr zufrieden sein – oder käme er womöglich auf die Idee, sie solle versuchen, den Herzog für sich zu gewinnen? Ein völlig sinnloses Unterfangen, das konnte ihm jeder in der Umgebung erklären!
Schüchtern sah sie sich um und bemerkte, dass Lady Simon, die mit Susan Norton zusammensaß, sie heranwinkte.
„Setzen Sie sich doch zu uns, Miss de Lys!“
„Oh bitte, sagen Sie doch Melinda zu mir. Miss de Lys klingt gar so förmlich.“
„Aber gerne, Mi- Melinda. Dann nennen Sie mich bitte Victoria und dies hier ist Susan.“
Melly lächelte verlegen. „Sie müssen mich für sehr dumm halten, aber ich fürchte mich immer etwas in Gesellschaft.“
„Hier sind Sie unter Freunden, Melinda“, beruhigte Lady Simon – Victoria – sie. „Es geht hier nicht zu wie auf einem dieser Londoner Bälle, wo man höllisch aufpassen muss, keinen Fehler zu machen, um nicht zum Opfer bösen Klatsches zu werden. Hier kann nichts passieren, Sie können in aller Ruhe für Ihre Saison üben.“
„M-meine Saison?“
„Oh“, reagierte Lady Simon etwas betreten, „keine Saison?“
„Nein. Dafür haben wir kein – nun, das ist einfach zu teuer, fürchte ich.“ Sie begleitete ihr Geständnis mit einem scheuen Seitenblick, aber offensichtlich fesselte Sir Joshua immer noch die Aufmerksamkeit ihres Vaters.
Lady Simon runzelte die Stirn. „Ihr Vater ist wohl recht streng?“
Melinda nickte zaghaft. „B-bitte, sagen Sie ihm nicht, dass ich… ich meine, dass wir nicht so viel Geld haben? Er wäre sehr, sehr böse…“
„Dafür können Sie doch nichts!“, erboste sich Susan.
„Ich glaube, er hat Angst vor der Zukunft. Wir haben doch keinen Bruder…“
„Oh. Dann sollten Sie wohl gut heiraten?“
Melinda nickte bedrückt. „Aber bisher hat sich niemand für mich interessiert. Nun, ich bin nicht hübsch und habe natürlich auch keine Mitgift, also darf ich mich wohl nicht wundern. Und meine kleine Schwester ist zwar hübscher, aber sie wird es auch nicht besser treffen, fürchte ich – aber Sie sagen nichts weiter?“
Beide Damen versprachen es voller Mitgefühl. „Dann ist eine Veranstaltung wie diese hier – entschuldige, Susan – aber nicht gerade gut geeignet. Oder könntest du deinen künftigen Schwager anbieten?“
„John? Vergiss es. Verzeihen Sie, Melinda, aber ich vermute, John hat ein Auge auf Sophia Wentworths jüngere Schwester Hester geworfen. Aber: psst! John hasst es, wenn ich über ihn klatsche. Ich möchte Stephen und Annabelle keinen Ärger machen.“
„Und der Captain kommt auch nicht in Frage?“
Susan schüttelte betrübt den Kopf. „Er hat eine Braut oben in Yorkshire, wo er stationiert ist. Ich denke aber, dass er bald den Abschied nimmt. In Friedenszeiten, sagt er, ist die Armee eher langweilig. Ja, mehr Junggesellen haben wir hier gar nicht anzubieten. Die Party ist wohl eher ein Familien- und Nachbarschaftsfest.“
„Ich finde es trotzdem sehr schön hier“, versicherte Melinda schüchtern.
„Genießen Sie einfach den Abend“, schlug Susan freundlich vor. Melinda versprach dies und erhob sich, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen, die sich gerade mit der Herzoginwitwe unterhielt.
Dort knickste sie ehrerbietig und lauschte dem harmlosen Geplauder der beiden Damen, bis munteres Klavierspiel erklang.
„Ah!“, freute sich die Herzoginwitwe, „Sophia Wentworth ist also die erste, die uns mit etwas Musik erfreut. Und höre ich recht – ein Walzer? Das wird die Jugend erfreuen!“
Lady Lynet stimmte etwas bedrückt zu und streifte ihre verlegene Tochter mit einem Seitenblick.
Die ersten auf der Tanzfläche waren Lord Simon und seine Frau, dann folgten Stephen Norton und Miss Horbury. Melinda beobachtete die beiden Paare, die sich im Walzertakt drehten, miteinander plauderten und sich anlächelten. Es schien sich tatsächlich um Verbindungen aus Liebe zu handeln… wie romantisch! Wie in den wenigen Romanen, die sie immer wieder las, weil sie sich keine neuen leisten konnte und es in der näheren Umgebung auch keine Leihbibliothek gab.
Captain Horbury führte schließlich Susan Norton aufs Parkett und John Horbury bat Hester Wentworth um den nächsten Tanz.
Sophia Wentworth spielte drei Walzer und zwei Ländler, dann erhob sie sich und beorderte ihre Schwester ans Piano, um selbst tanzen zu können.
Melinda stand immer noch am Rand und betrachtete sich die Tänzer fasziniert – diese Bewegungen! Die ineinander fließenden Farben! Vor allem die prächtige Uniform des Captains war ausgesprochen dekorativ… und die wunderbare Musik.
„Miss de Lys? Würden Sie mir die Ehre des nächsten Tanzes erweisen?“
Lord Simon verbeugte sich vor ihr und lächelte vertrauenerweckend.
„Ja“, antwortete Melinda leicht verblüfft, „sehr gerne!“
Das ließ sein Lächeln noch breiter werden. „Eine erfrischend ehrliche Antwort! Dann kommen Sie, Miss de Lys!“
Er bot ihr den Arm und sie legte die Hand fast ängstlich auf den feinen schwarzen Stoff und folgte ihm auf die Tanzfläche.
Die Schritte immerhin beherrschte sie, denn Mama hatte ihr das Nötigste beigebracht. Und dass sie eigentlich keinen Walzer tanzen durfte, interessierte in der Wildnis von Kent doch wirklich niemanden. Sollte sich tatsächlich irgendein Landedelmann aufraffen, sie ihrem geplagten Vater abzunehmen, würde ihn diese Frage gewiss nicht übermäßig beschäftigen!
Lord Simon sah taktvoll über ihre anfängliche Unbeholfenheit hinweg und plauderte unbefangen, ohne die eher einsilbigen Antworten negativ zu vermerken, bis Melinda sich etwas entspannte und ihre Bewegungen geschmeidiger wurden.
Als die Musik endete, machte er ihr ein Kompliment zu ihren Tanzkünsten und musste dabei gar nicht wirklich lügen, stellte er fest. Nettes kleines Ding… natürlich kein Vergleich mit seiner wunderbaren Victoria. Schade, dass der Vater so unangenehm war – Viscount Lynet war in der ganzen Nachbarschaft als verschuldet, geizig und selbstsüchtig bekannt. Sein jüngerer Bruder, der vor vielen Jahren die Gegend verlassen hatte, war deutlich beliebter gewesen… Was aus Benedict geworden war, wusste hier keiner. Ehrlich gesagt hatte auch keiner versucht, ihm nachzuforschen – zu viel war mit den Kriegen gegen Boney, Heiraten, Tod und Geburt in den meisten Familien geschehen, als dass man Zeit und Energie in die Suche nach jemandem stecken konnte, der vielleicht einfach nach London gegangen war, weil ihm hier keine Karriere winkte. Vielleicht hatte er sich von seinem letzten Geld auch ein Offizierspatent gekauft und hatte sich militärischen Ruhm erworben… Oder er war unter den vielen Toten der Kriege mit Frankreich… lag vielleicht bei Waterloo begraben?
Er sah dem Mädchen kurz nach, das eilig zu ihrer Mutter zurückkehrte, und wandte sich dann seiner Frau zu, die nach Justins Geburt noch schöner geworden war, wie er fand.
Susan Norton feixte unverhohlen. „Ich dachte, verliebte Ehepaare sind absolut nicht modern?“
„Da täuschst du dich“, antwortete Victoria, „sie kommen gerade wieder in Mode. Romantik, du verstehst?“
Melly stand neben ihrer Mutter und betrachtete sich die Tanzenden, als ihr Vater wieder auftauchte. „Ich wusste ja, dass du dumm bist, aber so dumm? Warum tanzt du mit Lord Simon?“
„Weil er mich um diesen Tanz gebeten hat“, antwortete Melly ängstlich.
„Du lieber Gott, der Mann ist doch schon verheiratet! Kannst du nicht einmal dein Gehirn benutzen – wenn du so etwas überhaupt besitzt?“
„Wenn Melly das nächste Mal aufgefordert wird, werde ich für sie ablehnen“, drohte Lady Lynet. „Ich werde sagen Sie sind doch schon verheiratet, mit Ihnen muss meine Tochter nicht ihre Zeit verschwenden. Sie ist schließlich hier, um einen Mann zu finden. Irgendeinen. Wäre dir das lieber?“
Lord Lynet betrachtete seine unbotmäßige Gattin mit schmalen Augen. „Pass du lieber auf, was du sagst! Ich dulde keinen Widerspruch!“
Damit wandte er sich seiner Tochter zu, die wieder einmal verschüchtert auf den Boden starrte. „Ich habe meine Schnupftabaksdose in der Bibliothek vergessen, hol sie mir.“
Melly starrte ihn ratlos an.
„Na los, was ist?“, bellte der Viscount.
„I-ich weiß nicht, wo die Bibliothek ist“, flüsterte seine Tochter, ohne aufzusehen.
„Durch die Tür, dann links in den Gang und die zweite Tür rechts. Stell dich nicht so an!“
Melly unterdrückte nur unvollkommen ein Aufschluchzen und eilte zur Tür, die aus dem Ballsaal führte. Sie fand die Bibliothek tatsächlich und entdeckte dort auch rasch die Schnupftabaksdose ihres Vaters, obwohl ihr nicht recht klar war, wie sie auf den Kaminsims – und obendrein hinter die Kerzenleuchter! – geraten sein konnte.
Hastig angelte sie die Dose mit der Rokokoszene auf dem Silberdeckel hinter den Kerzenleuchtern hervor. Einer drohte dabei zu kippen und sie war gerade dabei, ihn wieder aufrecht hinzustellen, als sie ein Geräusch an der Tür zu hören glaubte. Sie packte die Dose und sah sich in wilder Panik um. Wohin nur? Sie hatte doch in einem fremden Haus nichts in der Bibliothek zu suchen, vielleicht glaubte man noch, sie hätte etwas stehlen wollen? Hinter die Sofas, beschloss sie mit wild pochendem Herzen.
Kaum hatte sie sich dort niedergekauert, öffnete sich zu ihrem Entsetzen tatsächlich die Tür und sie hörte eine Männerstimme fragen: „Muss das wirklich jetzt sein?“ Dann hörte sie einen tiefen Seufzer und die Worte: „Wenn es wirklich wichtig ist, stehe ich natürlich zu Diensten, Captain.“ Das Knacken verriet ihr, dass die Tür wieder geschlossen wurde.
Vorsichtig spähte sie um die Ecke des Sofas – niemand zu sehen. Sie ließ ihren Blick rasch einmal durch den ganzen Raum wandern und entdeckte in ihrem Rücken eine weitere Tür, nicht weniger reich geschnitzt als die, durch die sie auch selbst die Bibliothek betreten hatte. Dann führte diese Tür wohl auch auf den Gang… sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie sich schon neben dieser Tür wiederfand. Ängstlich drückte sie die Klinke herunter und warf einen vorsichtigen Blick auf den Gang.
Welche Erleichterung: Niemand war zu sehen. Sie glitt durch den Türspalt, schloss die Tür lautlos und eilte den Gang zum Ballsaal entlang. Ohne dass jemand sie bemerkte – jedenfalls schien es ihr so – schlüpfte sie in den Saal und hielt dann inne, um verschiedenen Leuten schüchtern zuzulächeln und sich dann ohne weitere Hast ihren Eltern zu nähern, die offenbar eine leise, gereizte Unterhaltung führten.
Innerlich seufzte sie: immer das Gleiche!
„Hier, Papa, deine Schnupftabaksdose.“ Sie hielt sie ihm hin und er nahm sie stirnrunzelnd entgegen, was sie nun wieder verwirrte. „Ich sollte sie doch holen?“
„Und dir ist niemand begegnet?“
Seltsame Frage!
„Nein, glücklicherweise nicht. Es hätte ja wohl einen seltsamen Eindruck gemacht, wenn ich dort ertappt worden wäre, oder? Einmal wollte tatsächlich jemand hereinkommen, aber dann kam er doch nicht und ich konnte ungesehen entwischen“, berichtete Melly nicht ohne Stolz: Das hatte sie doch gut gemacht?
Aus der Kehle des Viscounts stieg ein Grollen, als sei er ein ausgewachsener Löwe. „Du bist doch wirklich das Dümmste, was mir in meinem Leben untergekommen ist!“
„A-aber – Papa?“ Sie starrte ihn völlig verwirrt an.
„Sei froh, dass wir nicht unter uns sind“, herrschte er sie an. „Du hättest wirklich eine Tracht Prügel verdient!“
„Lynet, also wirklich!“, mahnte eine Männerstimme. Melly blinzelte durch die aufsteigenden Tränen und erkannte Sir Joshua, den Gastgeber. Er musterte den Viscount streng, während er weitersprach: „Sie wollen sich doch wohl nicht wirklich so ungehobelt benehmen, Ihre reizende kleine Tochter in aller Öffentlichkeit zu schlagen? Was soll sie denn überhaupt angestellt haben?“
„Sie war ungehorsam!“, blaffte ihr Vater tatsächlich seinen Gastgeber an, Melly sah sprachlos von einem zum anderen, aber dann konnte sie diese Aussage doch nicht unwidersprochen lassen: „Aber Papa, ich sollte die Schnupftabakdose doch aus der Bibliothek holen – und genau das habe ich getan. Warum war ich also ungehorsam? Ich verstehe jetzt gar nichts mehr…“ Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen zu laufen begannen. Mama reichte ihr rasch ein Taschentuch und sie betupfte ihre Augen, was ihr von Sir Joshua einen mitfühlenden Blick eintrug, bevor er sich wieder ihrem Vater zuwandte: „Ja, Lynet, das erscheint mir auch nicht recht einleuchtend. Was hat denn Ihre Kleine nun falsch gemacht?“
Der Viscount schnaubte. „Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig, Norton.“
„Dann halte ich es für besser, wenn Sie sich jetzt entschuldigen und unser Haus verlassen. Lady Lynet und Miss de Lys sind uns natürlich weiterhin herzlich willkommen.“
„Wir gehen alle – und zwar sofort!“ Ihr Vater packte Melly am Handgelenk, herrschte seine Frau an, ihm gefälligst zu folgen, und verließ den Ballsaal, ohne sich von anderen Gästen zu verabschieden.
„Max!“, flehte seine Frau in der Eingangshalle, „du machst uns vor der ganzen Gegend unmöglich! Wie sollen die Mädchen denn so jemals Männer finden?“
„Wozu denn noch, wenn sie sich dabei so dumm anstellen? Los jetzt! Unseren Wagen!“, herrschte er den Lakaien vor dem Portal an und fast sofort rollte die ältliche Kutsche mit den zwei (nicht ganz gleichfarbigen) Braunen heran. Lynet schubste seine Tochter in den Wagen, stieg sofort hinterher und zog seine Frau an der Hand hinein.
„Ich gebe mir die größte Mühe, für das dumme Ding“ – er wies mit dem Kinn auf die lautlos weinende Melinda – „eine wirklich gute Partie zu arrangieren und was tut sie? Ruiniert alles!“
Er packte sie hart am Oberarm und schüttelte sie. „Was hast du dir dabei gedacht, he?“
Melly weinte noch etwas heftiger, antwortete aber nicht. Das tat dafür ihre Mutter: „Max, wovon sprichst du denn nur? Welche gute Partie hätte das denn werden sollen – auf diesem Ball?“
„Weiber!“, stöhnte der Viscount ungalant. „Wer schon? Ashford natürlich!“
„Der Herzog? Aber der verkündet doch immer, dass er nie mehr heiraten wird! Sein Bruder ist sein Erbe, jeder weiß das. Was hat dich auf die Idee gebracht, dass er Melly heiraten könnte?“
„Mein Gott, Weib! Doch nicht freiwillig! Er hätte Melly in der Bibliothek getroffen, sie wäre kompromittiert gewesen, ich wäre hinzugekommen, er hätte sie heiraten müssen. So weit ist er doch wohl ein Gentleman?“
Im Gegensatz zu dem hier anwesenden Herrn, dachte Lady Lynet wütend.
Melly schluckte. „Aber Papa, der Herzog war nicht in der Bibliothek! Niemand war dort! Und der Mann an der Tür ist auch nicht hereingekommen, anscheinend hat ihn jemand aufgehalten und er hat die Tür wieder geschlossen. Was habe ich also falsch gemacht?“
„Sei endlich still!“, fuhr der Viscount sie an. „Alles ist falsch an dir, dein erbärmliches Aussehen, deine Langweiligkeit, deine Unfähigkeit, einen Mann für dich zu gewinnen! Dann wirst du eben Küchenmädchen, wenn ich einmal nicht mehr bin – denn erben wirst du nichts. Keinen Penny!“, bekräftigte er. Er wartete auf Widerspruch des Weibsvolks, aber es kam nichts mehr.
„Oder ich verheirate dich an den erstbesten Kerl, der vorbeikommt“, überlegte er.
Besser als weiter bei einem solchen Vater zu leben, dachte Melly trotzig, hütete sich aber, dies laut zu äußern.