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Kapitel 4

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Am frühen Abend rollte der Wagen vor das Portal eines stattlichen Landhauses in der Nähe von Schloss Lynham, und zwei Brüder traten aus dem Haus, um ihn herzlich zu begrüßen.

Sebastian sprang vom Kutschbock, warf Barry die Zügel zu und klopfte dem Captain und John Horbury herzlich auf die Schulter.

„Wir haben es bis eben kaum zu glauben gewagt, dass du dich tatsächlich wieder einmal hierher wagst“, meinte John dann, mit dem er schon die Schule besucht hatte.

„Nun, im Moment habe ich tatsächlich etwas freie Zeit. In einigen Tagen muss ich allerdings wieder einmal ausführlich auf Herrion nach dem Rechten sehen. Und Cec besuchen. Ihr liegt ganz wunderbar auf dem Weg nach Berkshire.“

„Natürlich“, spottete der Captain. „Aus bloßer Freundschaft hättest du dich doch nie hierher verirrt!“

Sebastian grinste verlegen. „Also, so hatte ich es nicht gemeint – und das wisst ihr beide auch ganz genau!“

Schallendes Gelächter. „Komm rein, mach dich rasch frisch, es gibt bald Dinner. Mama konnte sich noch an deine Leibgerichte aus der Schulzeit erinnern.“

Sebastian beeilte sich befehlsgemäß, während er hoffte, dass die Abendtafel nicht nur aus Süßem bestand. Als Schuljunge war er ein arges Schleckermäulchen gewesen…

Andererseits waren die Horburys nicht nur wirklich reizend, sondern wahrscheinlich seine beste Informationsquelle hier in der Gegend. Er musste das Gespräch nur sehr vorsichtig auf das Thema bringen, das ihn interessierte!

Die Krawatte saß perfekt, der schlichte Abendanzug war dem Anlass genau angemessen – zumal auf dem Lande – und seine nussbraunen Locken fielen nach Titus-Art, wie es sich gehörte. Keine alberne Windstoßfrisur für ihn, vielen Dank!

Er eilte zum Haupttreppenhaus, schritt die Treppe hinunter und betrat den Salon, wo er nicht nur Lord und Lady Horbury antraf, sondern auch Annabelle, der er sofort zu ihrer Verlobung mit Stephen Norton gratulierte, was sie anmutig entgegennahm.

Bei Tisch stellte er fest, dass Annabelle zu einer wirklich netten jungen Frau herangewachsen war; vor nicht allzu vielen Jahren hatte sie noch dermaßen ununterbrochen geplappert, dass ihre Brüder ihr – natürlich vergeblich – mehrfach angedroht hatten, sie zu erwürgen, wenn sie nicht endlich den Mund hielte.

Er erkundigte sich höflich nach der Verlobungsfeier und wurde mit einer detailreichen Beschreibung des kleinen Balls bei den Nortons erfreut. Als dabei auch der Name Lynet fiel, horchte er auf und bemühte sich, ein nur ausgesprochen mäßiges Interesse zu zeigen: „Lynet? Das klingt wie ein mittelalterlicher Mädchenname… ist die Familie neu hier in der Gegend?“

„Eigentlich solltest du dich an Lynet erinnern, Seb“, tadelte der Captain, „dieser Queen-Anne-Landsitz ein Stück hinter den Nortons.“

„Ach ja? Vielleicht habe ich das einfach vergessen. Ist das eine angenehme Familie?“

„Mehr oder weniger“, urteilte Lord Horbury und lehnte sich zurück, um sich noch etwas vor der Vorspeise aufgeben zu lassen.

John warf dem Diener einen taxierenden Blick zu und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte, dann schränkte er ein: „Eher weniger. Zumindest der Viscount ist unerträglich. Das kannst du nicht bestreiten, Vater – du fandest es ganz angemessen, als Sir Joshua ihn aus dem Haus geworfen hat.“

„Oh! Aus dem Haus geworfen? Was hat dieser Mensch denn verbrochen?“ Sebastian achtete darauf, nur den Eindruck eines Klatschsüchtigen zu erwecken. „Eine aufregende Veranstaltung, scheint´s?“

„Nun ja…“ Der Captain übernahm. „Er hat seiner Tochter, Miss de Lys, öffentlich Prügel angedroht. Mag ja sein, dass er das Recht dazu hat, sie zu züchtigen – aber in aller Öffentlichkeit? Und dann ein so verschüchtertes Wesen wie diese Melinda? Die konnte doch gar nichts falsch gemacht haben!“

„Sie macht gar nichts, ohne erst zu schauen, ob der böse Papa einverstanden ist“, ergänzte Annabelle. „Eine völlige Maus.“

„Das ist ein hartes Urteil, Miss Annabelle“, kommentierte Sebastian gleichmütig und lobte im nächsten Satz das Gericht, von dem er gerade aß.

Annabelle schnaubte. „Was soll man über ein Mädchen sagen, das stets nur seine Schuhspitzen betrachtet, einsilbig antwortet und ganz offensichtlich vor allen Menschen Angst hat?“

„Vielleicht liegt das an diesem Vater“, gab er zu bedenken. „Warum verhält er sich wohl so, was denkt man darüber? Oder weiß man gar etwas Genaueres? Eine interessantes Problem…“

Lord Horbury zuckte die Achseln. „Lynet – also, der Besitz – ist weitgehend am Ende, erzählt man sich. Es gibt keinen direkten Erben, vielleicht bemüht sich der Viscount deshalb nicht besonders, den Besitz wieder hochzubringen. Stattdessen versucht er, seine Töchter loszuwerden.“

„Loszuwerden?“, fragte Sebastian erschrocken und legte sein Besteck hin. „Was heißt das? Es klingt geradezu nach Mordanschlägen!“

John lachte. „Nein, das nun doch nicht. Aber er würde sie – wenigstens Melinda, Jane ist noch zu jung – an den Erstbesten verheiraten.“

„Vielleicht macht er sich nur Sorgen?“, schlug Lady Horbury mit sanfter Stimme vor. „Sollte er eines Tages das Zeitliche segnen, fällt der Besitz ja wohl an einen ganz Unbekannten und Lady Lynet und die Töchter stehen mittellos auf der Straße. Er will sie bestimmt nur versorgt wissen!“

„Aber muss er das so grob machen, Mama? Denk doch nur an den Ball! Meinen Verlobungsball, und er hätte ihn mit dieser Szene beinahe verdorben. Das nehme ich ihm wirklich übel!“

„Und dieser Unbekannte ist ein herzloser Kerl, der die Damen sofort aus dem Haus jagen wird?“, erkundigte Sebastian sich beiläufig und bediente sich selbst mit Bratensauce, denn Lady Horbury hatte das Personal aus dem Raum verbannt, damit man sich ungezwungener unterhalten konnte. „Das klingt mir ja doch ein wenig nach diesen Romanen von verfolgten Waisenkindern…“

„Seb, was zum Henker liest du denn?“ John starrte ihn an und Sebastian wehrte sich sofort: „Ich nicht! Cec verschlingt derartiges Zeug. Verfolgte Unschuld, diabolische Schlossherren, die in finsteren Ruinen hausen. Entsetzlicher Mist, kein Wunder, dass die Verfasser nie ihren Namen dafür hergeben wollen.“

„Der angeblich Unbekannte könnte lediglich Lynets jüngerer Bruder sein, über den eigentlich kein Mensch etwas Unerfreuliches weiß. Nur Lynet selbst tut so, als sei dieser Bruder sein ärgster Feind. Außerdem hat man von diesem Bruder seit Jahren nichts mehr gehört. Vielleicht lebt er auch gar nicht mehr.“

„Merkwürdig“, kommentierte Sebastian und wechselte entschlossen das Thema, bevor man sich über sein Interesse an einer ihm gänzlich unbekannten Familie wundern konnte.

Erst als man sich gegen Mitternacht zurückgezogen hatte, konnte Sebastian in der Abgeschiedenheit seines komfortablen Gästezimmers darüber nachdenken, was er erfahren hatte.

Lynet war also ein unangenehmer Mensch, knapp bei Kasse und ein schlechter Vater. Auch wenn es nachvollziehbar war, die Töchter sicher versorgt wissen zu wollen, wenn man keinen eigenen Erben besaß, war es wohl nicht nötig, die Mädchen in aller Öffentlichkeit mit brutalen Maßnahmen zu bedrohen. Das brachte ja auch diese Öffentlichkeit in Verlegenheit! Kein Benehmen, der Mann – aber hatte er denn vorher etwas anderes über ihn gehört?

Morgen würde er sehen, was er noch in Erfahrung bringen konnte…

John konnte ihm sicherlich ein passendes Reitpferd zur Verfügung stellen, also würde er sich einmal die Umgebung ansehen. Vielleicht konnte John ihn sogar begleiten? Oder Richard – aber der musste in den nächsten Tagen wieder zur Armee zurück, nach dem, was er gegen Ende des Dinners gesagt hatte.

Tatsächlich sah der nächste Vormittag ihn Seite an Seite mit John durch die idyllische Landschaft reiten. Nicht weit vom Besitz der Horburys erhob sich ein prachtvolles Schloss, das sich allerdings nicht in bestem Zustand befand. Als sie etwas näher heranritten, war aber festzustellen, dass an einigen Stellen des Schlosses eifrig gearbeitet wurde.

„Hm, immerhin. Ob Vincent sich doch noch aufgerafft hat? Na, wahrscheinlich hat Simon die Dinge endlich in die Hand genommen… sehr lobenswert.“

„Was ist das hier gleich wieder? Es sieht auf jeden Fall sehr imposant aus.“

„Das ist Lynham, der Sitz der Familie de Torcy.“

„Normannen?“

„Na, in grauer Vorzeit vielleicht, vor fast achthundert Jahren. Hier haben manche alten Familien französische Namen. De Torcy, de Lys…“

„De Lys? Wie die bourbonische Lilie? Ach, das ist der Rabenvater von gestern?“

John grinste seinen Freund an. „Du hast gestern tatsächlich aufgepasst, als wir diesen ganzen Klatsch ausgebreitet haben – ich bin beeindruckt!“

„Ich muss doch wissen, von welchen Leuten du hier umgeben bist! Und diese de Torcy haben es zu einem so prächtigen Besitz gebracht? Wenn man von den notwendigen Renovierungen einmal absieht, muss man allerdings sagen.“

„Wahrscheinlich waren sie früher mal wirklich berühmt und mächtig“, sinnierte John, „aber da fehlen mir leider auch die Kenntnisse. Für gar nichts wird die Familie keinen Herzogtitel bekommen haben…“

„Ach – das ist hier ein Herzogtum? Welches denn?“

„Ashford. Seb, solltest du dich hier nicht doch etwas besser zurechtfinden? Liegt unser stiller Winkel nicht auf dem Weg nach Berkshire? Mag ja sein, dass du dich eher als Stadtmensch siehst, aber Herrion liegt doch dort – und Cecilia lebt auch dort und kümmert sich um deinen Neffen. Wie alt ist der Kleine jetzt?“

„Dreieinhalb.“ Sebastian lächelte. „Und ein aufgewecktes Kerlchen – um nicht zu sagen, recht frech. Seine Nanny hat es nicht leicht mit ihm.“

„Dann wird sich Cecilia bestimmt langweilen, so alleine dort draußen.“

Sebastian grinste: „Weil es dort genauso still ist wie hier? Eher noch stiller, wir haben nicht einmal herzoglichen Glanz aufzuweisen. Keine Sorge, während der nächsten Saison wird Cecilia natürlich in Herrion House in London leben. Mit ihrer grässlichen Mrs. Pilney. Fürchterlich überschwänglich, aber als Anstandsdame durchaus hinreichend. Zufrieden?“

„Natürlich. Du musst dich doch nicht rechtfertigen, alter Junge!“

„Es klang mir allerdings ein wenig so. Und damit ich mich hier wieder zurechtfinde, lass mich rekapitulieren: Es gibt hier die de Torcys, die Familie des Duke of Ashford und außerdem euch, dann die Familie Norton, mit deren Sohn deine Schwester verlobt ist – habe ich jemanden vergessen?“

„Nur die Wentworths in Hill House“, antwortete John so obenhin, dass Sebastian sofort hellhörig wurde, seinen Freund streng musterte und der leichten Röte in seinen Wangen gewahr wurde. „John! Mir scheint, dort gibt es eine besonders reizende Tochter?“

„Äh – nun ja. Hester, die zweitälteste. Sie hat noch fünf Schwestern!“

„Und hoffentlich auch einen Bruder?“

„Sogar zwei. Sie werden nach Wentworths Ableben nicht dem Elend preisgegeben sein. Aber eine großartige Mitgift hat Hester natürlich nicht zu erwarten, bei so vielen Schwestern, also sind meine Eltern nicht übermäßig begeistert, aber sie werden meinen Wünschen nicht im Weg stehen, denke ich.“

„Du bist ja auch nicht der älteste Sohn“, gab Sebastian zu bedenken. Sie ritten behäbig einen kaum erkennbaren Weg entlang, der auf der rechten Seite einen schmalen Rasenstreifen und dahinter eine etwas löchrige Hecke zeigte, links dagegen den Blick auf eine weite, wohl gepflegte Rasenfläche und in der Ferne einen dichten Wald bot.

„Wo befinden wir uns hier eigentlich?“, fragte Sebastian. „Nicht, dass wir am Ende noch unbefugt auf jemandes Land vordringen!“

„Links siehst du den Südwald von Lynham und rechts den Maulwurfsrasen von Lynet. Diese Hecke müsste auch einmal durch Neupflanzungen instand gesetzt werden“, merkte John kritisch an. Sein Freund lachte. „Vielleicht haben Kinder die Schlupflöcher geschaffen, um sich davonmachen zu können?“

Dies trug ihm einen mitleidigen Blick ein. „Entweder hast du doch nicht so gut zugehört oder dein Gehirn wird langsam weich: Lynet gehört – welche Überraschung! – Viscount Lynet. Der Rabenvater, du erinnerst dich? Glaubst du, seine verschüchterten Töchter würden es auch nur wagen, die Hecke zu berühren?“

Auf einem Stein vor der Hecke saß eine weibliche Gestalt, zumindest ließen das etwas abgetragene blassblaue Gewand und die Strohschute auf dem gesenkten Kopf darauf schließen. Offensichtlich weinte sie, denn man erkannte ein Taschentuch in ihrer Rechten, das immer wieder unter der Schute verschwand.

Sebastians Fuchswallach schnaubte mitleidig, jedenfalls kam es seinem Reiter so vor. Sofort hob das weibliche Wesen den Kopf, starrte die beiden Reiter aus weit aufgerissenen Augen an, sprang auf und rannte auf die Hecke zu. Nun erwiesen sich die Lücken doch als recht günstig, denn im nächsten Moment war das Mädchen verschwunden.

John nickte entsprechend: „Ich hatte unrecht, die de Lys-Mädchen wagen es doch, diese Hecke zu berühren.“

„War das eine der beiden?“, fragte Sebastian so langsam, als müsse er erst wieder Herr seiner Sinne werden. „Die Jüngere wahrscheinlich?“

„Nein, Jane ist noch kleiner und dünner. Die beiden sehen aus, als bekämen sie nicht einmal satt zu essen… das war Melly, das arme Ding.“

„Großer Gott, so schlimm steht es um Lynet? Kann er nichts mehr verkaufen, um, wenigstens für genügend Nahrung zu sorgen? Was ist bei ihm geschehen, dass er so kurz vor dem Bankrott steht?“

„Man weiß es nicht genau“, antwortete John bedächtig. „Sicher ist eigentlich nur, dass er Lynet schon in recht schlechtem Zustand geerbt hat und dass auch sein Schwiegervater noch einmal geheiratet und zwei Erben gezeugt hat, so dass Lady Lynet nur noch auf ein geringes Erbe hoffen kann.“ Er grinste seinen Freund böse an. „Schon bitter – da heiratet man eine Erbin, weil man dringend Geld braucht, und kaum kommt man vom Altar zurück, erfährt man, dass es mit der Erbschaft Essig ist.“

„Wahrscheinlich lässt er dies seine Frau auch entgelten“, vermutete Sebastian.

„Oh ja. Und sie hat sie ihm ja auch keinen Sohn geboren, so dass Lynet jetzt an diesen verschwundenen jüngeren Sohn oder an irgendjemanden fallen wird. Andererseits ist Lynet mittlerweile ein rechtes Danaergeschenk. Man müsste ein Vermögen hineinstecken!“

Sie ritten langsam weiter und erhaschten noch einen Blick auf das Gebäude, bei dem etliche Fenster trotz des Sonnenscheins nicht funkelten, so blind waren sie. Die Fassade hätte gereinigt werden müssen und was man von den Gartenanlagen sah, erinnerte eher an einen Urwald.

„Gibt es jemanden, der die beiden Töchter retten könnte? Die Ältere sieht zwar nicht so aus, aber sie ist doch wohl heiratsfähig?“

„Wer sollte sie wollen? Sie ist keine strahlende Erscheinung, keine gute Gesprächspartnerin, hat garantiert überhaupt keine Mitgift und man fängt sich einen Schwiegervater ein, der einen pausenlos anpumpen wird und persönlich sehr unangenehm ist.“

„Das klingt tatsächlich wenig verlockend“, gab Sebastian gedankenverloren zu und erinnerte sich nicht nur an die riesigen erschrockenen Augen in dem kleinen Gesicht, sondern auch an eine große Verfärbung am Oberarm des Mädchens, als das verschlissene Umschlagtuch auf ihrer Flucht verrutscht war. Man sollte da eingreifen – aber wie? Bis jetzt war er nicht unbedingt als guter Samariter aufgetreten, auch wenn auf Herrion alles zum Besten stand.

„Sebastian?“

Er schreckte aus seinen Gedanken auf. „Entschuldige, ich war unaufmerksam.“

„Woran hast du denn gedacht? Du machst mir ein wenig den Eindruck, als seist du – nun – verliebt?“

Sebastian lachte spöttisch auf. „Ach ja? Woran glaubst du das zu erkennen? Und in wen, bitte, soll ich verliebt sein?“

„Irgendein Mädchen in London wird es doch wohl geben? Du bist schließlich im besten Heiratsalter, mein Freund.“

„Du auch!“

„Ich will ja auch – und du? Deine Geistesabwesenheit deutet mir schon darauf hin, dass du süßen Gedanken nachhängst…“

Noch mehr konnte John sich kaum irren, fand Sebastian insgeheim, aber er beschränkte sich darauf, gleichmütig zu antworten: „Mir scheint, du schließt von dir auf andere, John. Wir könnten aber bei den Wentworths vorbeireiten, dann kannst du einen Blick auf deine Hester werfen und mich vorstellen.“

„Gute Idee. Es ist zwar riskant, wenn ich meiner Braut einen anderen ausgesprochen präsentablen Gentleman vorstelle, aber sie muss ja meinen Trauzeugen kennenlernen.“

„Oh! Hohe Ehre – das übernehme ich gerne.“

„Ich werde mich bei Gelegenheit dafür revanchieren“, versprach John und feixte seinen alten Freund an.

Bei den Wentworths war Sebastian angesichts des sehr freundlichen, aber auch sehr lauten und ein wenig schrillen Empfangs durch fünf junge Damen und ihre Mutter zunächst leicht betäubt, aber schließlich wies Hester zumindest die jüngste energisch aus dem Zimmer und empfahl ihr, zur Gouvernante ins Schulzimmer zurückzukehren, diese wisse ihr mit Sicherheit etwas Sinnvolles zu tun. Den drei noch vorhandenen Schwestern legte sie nahe, etwas leiser und weniger aufgeregt zu sprechen: „Ihr werdet den lieben John noch sehr oft zu sehen bekommen – wollt ihr dann jedes Mal in Hysterie verfallen und vorzeitig altern?“

Lady Wentworth verbarg ihr Amüsement hastig hinter ihrem Fächer, die Misses Amanda und Theresa Wentworth sahen sich erschrocken an: Altern noch vor dem Debüt? Entsetzliche Vorstellung! Sophia, die älteste Miss Wentworth, lächelte John und Sebastian gelassen zu. Die jüngeren Mädchen beruhigten sich ein wenig, sie setzten sich gesittet auf eins der Sofas und zeigten ihre Aufregung nur noch durch hektisches Fächeln.

So war angenehmes Plaudern möglich geworden und nachdem der interessante neue Gast hinreichend nach Woher und Wohin ausgefragt worden war, wandte sich das Gespräch rasch wieder dem Verlobungsball der lieben Annabelle zu. John versicherte, dass sie sich von Lynets hässlichem Auftritt wieder vollständig erholt habe – und damit wandte sich das Gespräch zu Sebastians stiller Freude sofort genussreichem Klatsch über die Familie de Lys zu. Theresa, die drittälteste Miss Wentworth, die an diesem Ball zusammen mit der siebzehnjährigen Amanda hatte teilnehmen dürfen, behauptete, Viscount Lynet hoffe, sein dürftiges Ding von Tochter dem Herzog andrehen zu können. Daraufhin ließ Lady Wentworth das Taschentuch sinken, das zu besticken sie gerade vorgab, maß ihre vorlaute Tochter mit finsterer Miene und empfahl ihr, auf ihr Zimmer zu gehen und dort über ihre Wortwahl nachzudenken.

Theresa entfernte sich gekränkt und ihre Mutter stellte fest: „Lynet ist ein eher unangenehmer Mensch, das mag durchaus sein, aber Miss de Lys ist ein nettes, nur etwas verschüchtertes Mädchen und keinesfalls dürftig zu nennen. Und dass ihr Vater sie schon als Duchess of Ashford sieht, wage ich zu bezweifeln. Das hieße doch allzu wenig Sinn für die Wirklichkeit zu haben, denn alle Welt weiß, dass Ashford nicht mehr heiraten wird.“

„Aber braucht er denn keinen Erben?“, erkundigte Sebastian sich harmlos.

„Sein Bruder ist sein Erbe“, erklärte Hester. „Anscheinend hatte der Herzog an seiner ersten Ehe genug – und Lord Simon hat ja seit Neuestem auch schon einen Sohn, damit ist die Erbfolge wohl gesichert. Victoria hat mir auf dem Ball erzählt, der Kleine habe auch schon zum ersten Mal gelächelt…“ Sie seufzte gerührt und John betrachtete sie liebevoll.

Wahrscheinlich dachte er an seinen eigenen künftigen Erben, überlegte Sebastian. Nur zu verständlich, wenn man schon im Begriff stand, zu heiraten.

Nun, er selbst würde sich damit noch etwas Zeit lassen, schließlich war er erst Anfang dreißig… warum hatte er nun wieder diesen erschrockenen Blick vor Augen?

Das Gespräch wandte sich den übrigen Familien der Nachbarschaft zu und Sebastian bemühte sich, dem Gespräch zu folgen und ab und an Fragen und Vermutungen einzuwerfen, damit es nicht aussah, als interessierte er sich nur für die Familie de Lys – auch wenn es tatsächlich so war. Dumm, dass Ben so wenige Fakten beizusteuern hatte, aber er wusste ja selbst nicht besonders viel. Sebastians Vorschlag, einen privaten Ermittler hinzuzuziehen, hatte er mit allen Anzeichen des Ekels zurückgewiesen: „Ein Unbekannter in dieser abgeschiedenen Gegend? Er wird sofort Verdacht erregen und obendrein keinen Zugang zu den guten Familien dort finden. Nein, es muss jemand sein, der dorthin Verbindungen hat. Jemand von Stand. Du wärest ideal – du bist doch ein Freund von John Horbury?“

Das hatte Sebastian schlecht leugnen können, denn es war wohlbekannt. Aber wie er alle die Fragen beantworten sollte, die ihm Ben aufgeschrieben hatte, wusste er auch noch nicht.

„Seb?“

„Oh, Verzeihung! Ich fürchte, ich war unaufmerksam.“ Er musste sich wirklich besser in Acht nehmen, sonst würde nie ein Ermittler aus ihm. Nicht, dass er diese Laufbahn anstrebte!

„Was habe ich gerade verpasst?“, fragte er also hastig und wurde mit der Geschichte des missratenen jüngsten Sohnes der de Torcys unterhalten. „Können Sie sich das vorstellen, Lord Hertwood? Da versucht jemand, seine Brüder und seine Schwägerin zu ermorden, nur um selbst alles zu erben?“ Miss Amanda zitterte fast vor Empörung.

„Nun, Miss Amanda, ich denke, so selten ist so etwas nicht. Habgier kann eine mächtige Triebfeder sein.“

„Aber wie könnte man sich des Erbes erfreuen, wenn man stets daran denken muss, wen man dafür aus der eigenen Familie geopfert hat?“

„Hängt das nicht davon ab, wie viel Liebe man für die eigene Familie empfindet?“, gab Lady Wentworth zu bedenken.

„Vor allem im Verhältnis zur Eigenliebe“, ergänzte John. „Aber ich denke, man hielt Lord Christopher allgemein für etwas geistig verwirrt. Das könnte natürlich seine moralischen Maßstäbe auch etwas verrückt haben. Ich denke, die de Torcys haben den Skandal aber recht gut überstanden.“

„Schrecklich“, murmelte Amanda dennoch. „Dass Menschen so sein können?“

„Du solltest nicht immer diese Romane voller frommer Tugendhelden lesen“, warf Sophia ein. „So sind die Menschen eben nicht und du bekommst nur einen ganz falschen Blick auf die Welt.“

Dem war nichts hinzuzufügen, fanden die Herren und nickten bestätigend. Mittlerweile war es auch Zeit, sich zu verabschieden; Sebastian und John kehrten nach Hause zurück; John unterstützte seinen Vater in der Verwaltung des Besitzes, da Lord Horbury auch Pflichten aus seinem Sitz im House of Lords hatte und Richard als Offizier selten zu Hause sein konnte.

Sebastian nutzte die Zeit, um einen Brief an Ben zu schreiben. So konnte er zusammenfassen, was er bis jetzt herausgefunden hatte; viel war es leider nicht – und dass ihm dieses de Lys-Mädchen nicht mehr aus dem Kopf ging, konnte er schlecht in einem Brief festhalten.

Was hatte er denn eigentlich gesehen? Das Mädchen hatte sie beide gehört, hatte sie kurz angestarrt und war dann fluchtartig in der Hecke verschwunden.

Eher klein, sehr dünn, sehr große Augen, blassblonde Löckchen, soweit die Strohschute einen Blick darauf ermöglichte. Sie hatte ausgesehen wie zwölf oder wie unterernährt. Was bitte sollte ihm daran denn gefallen haben? Sein Geschmack waren selbstsichere, erwachsene Frauen, mit denen man sowohl interessante Gespräche führen als auch sich anderweitig vergnügen konnte. Nun gut, das waren zumeist auch Frauen gewesen, die als Ehefrau nicht in Frage kamen und dies auch wussten. So zum Beispiel die schöne, üppige Marianna Blessay, mit der er bis vor kurzem eine beiderseitig sehr zufriedenstellende Affäre geführt hatte. Dann hatte die junge Witwe einen noch interessanteren Gönner gefunden und man hatte sich ohne großes Bedauern getrennt…

War er vielleicht nur so verwirrt, weil ihm eine Frau fehlte?

Aber warum interessierte er sich dann nicht für Theresa oder Amanda Wentworth? Sie waren heiratsfähig, hübsch und lebhaft (um nicht zu sagen: vorlaut) und ihm durchaus sympathisch. Alle Beteiligten wären glücklich.

Nein, er nicht. Er wollte keine Frau, die nur passend war.

Er hatte wirklich reichlich Dinge zu bedenken; am besten machte er heute Abend nach dem Dinner einen Spaziergang, denn dabei konnte er immer am besten nachdenken…

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